Mikroplastik: Die grosse Welle kommt erst noch
«Das Schlimmste an Mikroplastik steht uns noch bevor», stellte der «Guardian» am 9. Juli fest. Plastik sei überall, auch im Körper. Und weiter: «In diesem Jahr fanden verschiedene Forschende Mikroplastik in allen von ihnen untersuchten Plazentagewebeproben, in menschlichen Arterien, wo Kunststoffe mit einem erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko korrelieren, in allen 27 untersuchten menschlichen Hoden und im Sperma von 40 ansonsten gesunden Patienten».
Das verstärke die Befürchtung, dass Kunststoffe – von denen viele hormonstörende Chemikalien enthalten – zu einer weltweiten Verschlechterung der Spermiengesundheit beitragen könnten. Plastik gelangt über Atemluft, Wasser und Nahrung in menschliche Organe. Hinweise, dass winzige Plastikstücke dort Schaden anrichten, mehren sich.
Die grosse Welle der kleinen Plastikteilchen kommt erst noch
In einer chinesische Studie vom Februar schreiben die Autoren: «Die derzeit nachweisbaren Werte der Mikroplastikverschmutzung sind wahrscheinlich erst der Anfang». Viele Plastikprodukte aus den 1980er-Jahren bis in die Nullerjahre zerfielen erst jetzt zu Mikro- und Nanoplastik.
Die Herstellungsmengen sind seit den 1970er-Jahren jedoch deutlich gewachsen. Zwischen 2000 und 2019 hat sich die globale Plastikproduktion verdoppelt. Bis 2040 wird sie das nach Prognosen nochmals tun. Die grosse Welle der kleinen Plastikteilchen kommt also erst noch.
Hinweise auf Schädlichkeit mehren sich
Ob Mikro- und Nanoplastik schädlicher sind als andere kleine Partikel, wird seit Jahren erforscht. Sachverständige haben dazu unterschiedliche Meinungen, Untersuchungen zum Thema drücken sich meist vorsichtig aus. Das hat Gründe: Der Nachweis von Langzeitschäden ist nicht nur bei Mikro- und Nanoplastik schwierig.
Es gibt immer mehr Hinweise, dass die winzigen Plastikteile im Körper schädliche Wirkungen haben. Drei Beispiele:
- Eine aktuelle Untersuchung der Universität Birmingham, von der der «Guardian» berichtet, legt nahe, dass Mikro- und Nanoplastik vielen Krankheiten Vorschub leisten, indem sie Entzündungsprozesse auslösen und verstärken.
- Kleine Plastikteilchen in Gefässablagerungen könnten die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls erhöhen, fanden Forschende aus Italien. Sie untersuchten dazu Gefässablagerungen (Plaques) von rund 300 Personen, nachdem diese operativ entfernt worden waren, und verfolgten deren weitere Krankheitsgeschichte.
- Forschende aus Grossbritannien wiesen vor drei Jahren in Experimenten nach, dass Mikroplastik in Zellkulturen menschliche Zellen schädigt (Infosperber berichtete).
So viel zu den Plastikteilchen selbst. Dann gibt es noch die Chemikalien, die sich in Plastik befinden oder aus diesem freigesetzt werden.
Die «Sauce» aus Plastik-Zusatzstoffen
Nach Schätzungen der Minderoo-Monaco-Kommission für Kunststoffe und menschliche Gesundheit vom vergangenen Jahr verursachten Zusatzstoffe in Plastik 2015 allein in den USA Gesundheitskosten von 675 Milliarden Dollar.
Mindestens, muss man sagen. In die Schätzung gingen bekannte Gesundheitsschäden durch die Nutzung des Weichmachers DEHP (Diethylhexylphthalat) und der Chemikaliengruppe der polybromierten Diethylether (PBDE) ein. Dazu kamen Kosten durch Schlaganfälle und koronare Herzkrankheit, die durch die Chemikalie Bisphenol A (BPA) verursacht wurden.
Mögliche andere Schäden oder solche durch weitere Chemikalien wie Farbstoffe oder Flammschutzmittel, die in oder an Plastik und Kleinstplastik vorkommen, sind in dieser Aufstellung nicht enthalten.
Dabei gibt es tausende Chemikalien, die bei der Produktion von Plastik eingesetzt werden. Die Wissenschaftlerin Heather Leslie verglich den Sachverhalt gegenüber der «Washington Post» vor Kurzem mit einem Pasta-Gericht: Wo immer man Spaghetti (Polymere in Mikro- und Nanoplastik) finde, gebe es eine Sauce aus zahlreichen Additiven.
Wissenschaftler:innen fordern eine Plastik-Obergrenze
Mit beidem werden wir weiter leben müssen. Die Forderung nach einer weltweiten Produktionsobergrenze für Plastik hat sich auf der vierten Weltplastikkonferenz in Ottawa im April nicht durchgesetzt. Greenpeace sprach von einem «schwachen Kompromiss», die Organisation «Exit Plastic» etwas direkter von «Lobby statt Lösung». Vor allem die Erdölstaaten und die fossile und chemische Industrie lehnen die «Plastic Cap» ab. Sie sprechen sich stattdessen für optimierte Abfallsysteme und Recycling aus.
Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen fordern weiterhin eine Begrenzung der Plastikproduktion, damit die freigesetzte Plastikmenge einigermassen beherrschbar bleibt. Vor allem wichtig ist ihnen eine Begrenzung für Einmalartikel. Der «Guardian» hat drei davon befragt.
Regulierung wie bei FCKW oder Klimagasen
Die Weltöffentlichkeit sei wegen Mikroplastik weit weniger besorgt, als sie es sein müsste, sagt der Epidemiologe und Arzt Philip Landrigan. Landrigan, der sich durch den Kampf gegen Blei und Asbest einen Namen gemacht hat, nahm an den Verhandlungen in Ottawa teil. Er sieht eine Begrenzung nicht-ersetzbarer Plastikartikel als einziges Mittel an, die Plastikkrise zu stoppen. Es brauche eine Plastik-Obergrenze analog zum Montrealer Protokoll, das den Einsatz von ozonschädigenden Stoffen einschränkt, oder zum Pariser Klimaabkommen, sagt er.
Der norwegische Wissenschaftler Martin Wagner weist darauf hin, dass über 3600 der mehr als 16’000 bekannten Chemikalien in Kunststoffen nicht regulierte «bedenkliche Kunststoffchemikalien» seien. Fast 400 davon würden in Kunststoffen verwendet, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen. Bei 97 sei festgestellt worden, dass sie in Lebensmittel übergehen.
Die Öffentlichkeit habe ein Recht zu wissen, welchen Chemikalien sie ausgesetzt sei. Oder am besten gar nicht ausgesetzt werde: Wagner plädiert dafür, 15 Chemikaliengruppen zu regulieren, die bei der Kunststoffproduktion verwendet werden. Darunter Bisphenole wie BPA, Phthalate (Weichmacher) und PFAS. Hersteller sollen ausserdem verpflichtet werden, alle Chemikalien in ihren Produkten transparent zu machen.
Tiza Mafira, Juristin und unter anderem Geschäftsführerin der Interessengruppe Diet Plastic Indonesia wiederum berichtet vom langen und mühevollen Weg, Einwegverpackungen aus Plastik durch wiederverwendbare Verpackungen aus Plastik, Glas oder Aluminium zu ersetzen. «Es wäre einfacher, wenn billiges Einwegplastik verboten würde», sagt sie.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Guten Tag Frau Gschweng! Einmal mehr: Für eine tatsächliche durchgreifende Reduktion der in die Umwelt gelangenden Plastikmengen müssen Entsorgungs- und Recyclingsysteme geschaffen werden, wo sie derzeit noch fehlen. Wenn dann der Hebel zusätzlich noch bei der Produktion angesetzt werden kann – umso besser; nur wird das bei realistischer Betrachtung eben auf erhebliche Schwierigkeiten stossen. Energische Symptombekämpfung würde hier in der Sache wesentlich mehr bringen als jede ideologisch noch so korrekte Ursachenanalyse. Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum optimierte Abfallsysteme und Recycling, nur weil sie von der «falschen» Seite unterstützt werden, so schlechtgeredet werden.
Aus jeder PET-Flasche nehmen wir nicht nur Phtalate sondern auch Millionen Mikroplastikteilchen auf. Trotzdem läuft ein Grossteil der Bevölkerung ab Kindesalter mit einem PET-Trinkfläschchen herum. Und trotzdem wird vom Süssmost bis zum Coca-Cola wird alles in PET vermarktet. Und trotzdem stellt COOP und Emmi die Milchverpackungen auf PET um. Ein Konsumentenstreik würde das innert Monaten abstellen und Glasverpackungen erzwingen ohne jede staatliche Regulierung.
«Wissenschaftler fordern eine Begrenzung der globalen Plastikproduktion.»
Angesichts der bisher freigesetzten Menge würde wohl nicht mal ein Sofortstopp retten, geschweige denn eine entenlahme «Begrenzung». Vergleiche neue Tops Fossilstoffe, Atombombenlevel, Chemieproduktion etc. Man kann noch viel fordern. Fragt sich , wer «man» ist, und wie man das durchsetzen will. Ich sehe hingegen starke Kräfte in die falsche Richtung. Infaust.
Walter Helbling, solange die Menschen mit dem technokratischen «Ausderweltschaffen» («Recycling», «Upcyling», sprich: «Entsorgen») von Abfall verwöhnt werden – und wer wäre das mehr als wir im «Patent Ochsner» Aufgewachsenen? – sind sie immun gegen Initiativen, die den Abfall ab ovo verhindern wollen. Das geschieht ja nicht absichtslos; für die zusehends kurzfristig orientierten Interessen der Industrie-Shareholders wäre es enorm unbequem, auf all die praktischen Wegwerf- und Kurzleb-Produkte verzichten zu müssen – für die Konsumenten dagegen wäre es lediglich eine Umstellung mit kleinen Anpassungsschwierigkeiten, vergleichbar der doch ziemlich reibungslosen Umsetzung des Rauchverbots in Kneipen. DARUM betone ich den Aspekt des Kulturwandels, der eher mit Verboten als mit Gutzureden animiert wird. Ohne diese soziale Energie kannst du dir die ausgeklügeltsten Entsorgungstechnologien und -bürokratien irgendwohin schieben, die werden das Plastik- und das Chemie-Problem nicht lösen.
Tja, lieber Billo, eigentlich hatten wir uns doch für den Umgang mit Abfällen (inkl. Plastik) schon mal auf folgende Massnahmenkaskade geeinigt:
1. Vermeidung
2. Wiederverwertung
3. Kontrollierte Verbrennung (mit bestmöglicher Luftfiltertechnik)
4. Sondermüllbehandlung
5. (Möglichst) sichere Endlagerung
Weniger einig sind wir uns bei den Durchsetzungsmethoden. Für mich gilt das Subsidiaritätsprinzip mit folgender Prioritätenfolge:
1. überzeugen
2. ökonomische Anreize
3. verbieten/befehlen/bestrafen
Keinesfalls dürfen einzelne Elemente aus obiger Massnahmenkaskade herausgebrochen werden. Wenn wir tatsächlich die schwimmenden Plastikinseln zum Verschwinden bringen wollen, werden mengenmässig Nr. 2 und 3 den weitaus grössten Beitrag dazu leisten müssen.
Könnte nun z.B. ein Streik bei „Ochsners“ (positive) „soziale Energien“ freisetzen? Mag sein. Aber bist du dir auch bewusst, welche Zielkonflikte du dir mit diesem (für mich etwas leninistisch anmutenden) Politkalkül einhandelst?
@Billo Heinzpeter Studer Prima, Ihre Sicht. Bloss, wer soll das wie und vor allem wann bewerkstelligen? Etwa jene Menschheit, die sehenden Auges schon die längste Zeit den Paradiesplaneten (inkl. sich) an die Wand fährt (entsorgt)? Vor 45 Jahren gabs in Deutschland eine Friedensbewegung, heute das Gegenteil. Ich diagnostiziere nicht Einsicht, sondern disruptive Progredienz. Angesichts drohendem Untergang statt Ernüchterung Durchdrücken des Gaspedals (BMW-Slogan: «Aus Freude am Fahren»).
Psychologische Phänomene? Pulitzer-Preisträger Chris Hedges im Beobachter 25/2020: «Menschen ziehen es vor, die Augen vor der bitteren Realität zu verschliessen, das liegt einfach in unserer Natur.» Selbst angesichts des möglichen Untergangs? «Ja – wir sind so.» Kognitive Dissonanz, Abilene-Paradox, Stockholm-Syndrom, Normopathie? Eine Psychologie-Studie (zur Leugnung augenfälliger Tatsachen) titelte die Aussage einer Probandin: «Ich würde es nicht glauben, selbst wenn es wahr wäre.»
Hallo,
Mikro -und Nanoplastik verursacht jetzt schon ein unvorstellbaren gesundheitlichen Schaden, der nicht nur beim Menschen sondern bei allen Lebewesen festzustellen ist. Unsern Kindern und Enkelkinder hinterlassen wir kaputte, kranke Welt und wir kõnnen nicht sagen wir hätten es nicht gewusst.
Der einzige Weg diesen Schaden zu minimieren ist besonderes das Einwegplastik zu verbieten und alles andere streng zu regulieren. Man muss gestehen , dass wir unserm angeblichen Wohlstand, größten Teil dem Plastik zu verdanken haben aber genau betrachtet, ist unser Wohlstand eine Lüge indem wir nicht nur uns schaden sondern auch zukünftigen Generationen.