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Plastik aus einem kalifornischen Fliessgewässer, arrangiert in einem Fotostudio. © cc-by-nc Florida Sea Grant/Flickr

Mikroplastik: Die grosse Welle kommt erst noch

Daniela Gschweng /  Wissenschaftler fordern eine Begrenzung der globalen Plastikproduktion. Der Plastikstaub ist bereits in unseren Körpern.

«Das Schlimmste an Mikroplastik steht uns noch bevor», stellte der «Guardian» am 9. Juli fest. Plastik sei überall, auch im Körper. Und weiter: «In diesem Jahr fanden verschiedene Forschende Mikroplastik in allen von ihnen untersuchten Plazentagewebeproben, in menschlichen Arterien, wo Kunststoffe mit einem erhöhten Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko korrelieren, in allen 27 untersuchten menschlichen Hoden und im Sperma von 40 ansonsten gesunden Patienten».

Das verstärke die Befürchtung, dass Kunststoffe – von denen viele hormonstörende Chemikalien enthalten – zu einer weltweiten Verschlechterung der Spermiengesundheit beitragen könnten. Plastik gelangt über Atemluft, Wasser und Nahrung in menschliche Organe. Hinweise, dass winzige Plastikstücke dort Schaden anrichten, mehren sich.

Die grosse Welle der kleinen Plastikteilchen kommt erst noch

In einer chinesische Studie vom Februar schreiben die Autoren: «Die derzeit nachweisbaren Werte der Mikroplastikverschmutzung sind wahrscheinlich erst der Anfang». Viele Plastikprodukte aus den 1980er-Jahren bis in die Nullerjahre zerfielen erst jetzt zu Mikro- und Nanoplastik.

Die Herstellungsmengen sind seit den 1970er-Jahren jedoch deutlich gewachsen. Zwischen 2000 und 2019 hat sich die globale Plastikproduktion verdoppelt. Bis 2040 wird sie das nach Prognosen nochmals tun. Die grosse Welle der kleinen Plastikteilchen kommt also erst noch.

Hinweise auf Schädlichkeit mehren sich

Ob Mikro- und Nanoplastik schädlicher sind als andere kleine Partikel, wird seit Jahren erforscht. Sachverständige haben dazu unterschiedliche Meinungen, Untersuchungen zum Thema drücken sich meist vorsichtig aus. Das hat Gründe: Der Nachweis von Langzeitschäden ist nicht nur bei Mikro- und Nanoplastik schwierig.

Es gibt immer mehr Hinweise, dass die winzigen Plastikteile im Körper schädliche Wirkungen haben. Drei Beispiele:

  • Eine aktuelle Untersuchung der Universität Birmingham, von der der «Guardian» berichtet, legt nahe, dass Mikro- und Nanoplastik vielen Krankheiten Vorschub leisten, indem sie Entzündungsprozesse auslösen und verstärken.
  • Kleine Plastikteilchen in Gefässablagerungen könnten die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls erhöhen, fanden Forschende aus Italien. Sie untersuchten dazu Gefässablagerungen (Plaques) von rund 300 Personen, nachdem diese operativ entfernt worden waren, und verfolgten deren weitere Krankheitsgeschichte.
  • Forschende aus Grossbritannien wiesen vor drei Jahren in Experimenten nach, dass Mikroplastik in Zellkulturen menschliche Zellen schädigt (Infosperber berichtete). 

So viel zu den Plastikteilchen selbst. Dann gibt es noch die Chemikalien, die sich in Plastik befinden oder aus diesem freigesetzt werden.

Die «Sauce» aus Plastik-Zusatzstoffen

Nach Schätzungen der Minderoo-Monaco-Kommission für Kunststoffe und menschliche Gesundheit vom vergangenen Jahr verursachten Zusatzstoffe in Plastik 2015 allein in den USA Gesundheitskosten von 675 Milliarden Dollar.

Mindestens, muss man sagen. In die Schätzung gingen bekannte Gesundheitsschäden durch die Nutzung des Weichmachers DEHP (Diethylhexylphthalat) und der Chemikaliengruppe der polybromierten Diethylether (PBDE) ein. Dazu kamen Kosten durch Schlaganfälle und koronare Herzkrankheit, die durch die Chemikalie Bisphenol A (BPA) verursacht wurden.

Health Costs of Plastic USA 2015
Geschätzte Gesundheitskosten aus Produktion (links) und Nutzung (rechte Spalte) von Plastik und dessen Zusatzstoffen in den USA 2015.

Mögliche andere Schäden oder solche durch weitere Chemikalien wie Farbstoffe oder Flammschutzmittel, die in oder an Plastik und Kleinstplastik vorkommen, sind in dieser Aufstellung nicht enthalten.

Dabei gibt es tausende Chemikalien, die bei der Produktion von Plastik eingesetzt werden. Die Wissenschaftlerin Heather Leslie verglich den Sachverhalt gegenüber der «Washington Post» vor Kurzem mit einem Pasta-Gericht: Wo immer man Spaghetti (Polymere in Mikro- und Nanoplastik) finde, gebe es eine Sauce aus zahlreichen Additiven.

Wissenschaftler:innen fordern eine Plastik-Obergrenze

Mit beidem werden wir weiter leben müssen. Die Forderung nach einer weltweiten Produktionsobergrenze für Plastik hat sich auf der vierten Weltplastikkonferenz in Ottawa im April nicht durchgesetzt. Greenpeace sprach von einem «schwachen Kompromiss», die Organisation «Exit Plastic» etwas direkter von «Lobby statt Lösung». Vor allem die Erdölstaaten und die fossile und chemische Industrie lehnen die «Plastic Cap» ab. Sie sprechen sich stattdessen für optimierte Abfallsysteme und Recycling aus.

Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen fordern weiterhin eine Begrenzung der Plastikproduktion, damit die freigesetzte Plastikmenge einigermassen beherrschbar bleibt. Vor allem wichtig ist ihnen eine Begrenzung für Einmalartikel. Der «Guardian» hat drei davon befragt.

Regulierung wie bei FCKW oder Klimagasen

Die Weltöffentlichkeit sei wegen Mikroplastik weit weniger besorgt, als sie es sein müsste, sagt  der Epidemiologe und Arzt Philip Landrigan. Landrigan, der sich durch den Kampf gegen Blei und Asbest einen Namen gemacht hat, nahm an den Verhandlungen in Ottawa teil. Er sieht eine Begrenzung nicht-ersetzbarer Plastikartikel als einziges Mittel an, die Plastikkrise zu stoppen. Es brauche eine Plastik-Obergrenze analog zum Montrealer Protokoll, das den Einsatz von ozonschädigenden Stoffen einschränkt, oder zum Pariser Klimaabkommen, sagt er.

Der norwegische Wissenschaftler Martin Wagner weist darauf hin, dass über 3600 der mehr als 16’000 bekannten Chemikalien in Kunststoffen nicht regulierte «bedenkliche Kunststoffchemikalien» seien. Fast 400 davon würden in Kunststoffen verwendet, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen. Bei 97 sei festgestellt worden, dass sie in Lebensmittel übergehen.

Die Öffentlichkeit habe ein Recht zu wissen, welchen Chemikalien sie ausgesetzt sei. Oder am besten gar nicht ausgesetzt werde: Wagner plädiert dafür, 15 Chemikaliengruppen zu regulieren, die bei der Kunststoffproduktion verwendet werden. Darunter Bisphenole wie BPA, Phthalate (Weichmacher) und PFAS. Hersteller sollen ausserdem verpflichtet werden, alle Chemikalien in ihren Produkten transparent zu machen.

Tiza Mafira, Juristin und unter anderem Geschäftsführerin der Interessengruppe Diet Plastic Indonesia wiederum berichtet vom langen und mühevollen Weg, Einwegverpackungen aus Plastik durch wiederverwendbare Verpackungen aus Plastik, Glas oder Aluminium zu ersetzen. «Es wäre einfacher, wenn billiges Einwegplastik verboten würde», sagt sie.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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