Masern: Warum die Schweiz keinen Impfzwang braucht
Von einer Epidemie kann nicht die Rede sein, obwohl in der Schweiz in diesem Jahr laut BAG bereits 168 Erkrankungen bekannt wurden. 2018 waren es im gleichen Zeitraum nur 21 und im Jahr 2017 immerhin 67. Dieses Jahr sind zwei Männer im Alter von 30 und 70 Jahren an der hoch ansteckenden Krankheit gestorben. Es sind die ersten bekannten Masern-Todesfälle seit zehn Jahren in der Schweiz.
Nun werden Rufe nach einer staatlichen Impfpflicht laut. «Wer seine Kinder nicht impft, ist asozial», sagte CVP-Nationalrätin Ruth Humbel zum «Blick». Der Bund solle einen Impfzwang mit Bussensystem prüfen. Doch ein solcher dürfte in der Schweiz zurzeit keine grossen Chancen haben. Wie eine nicht repräsentative higgs-Umfrage im National- und Ständerat zeigt, herrscht keine Einigkeit – weder im Parlament noch innerhalb der Parteien. Rund 45 Mitglieder des Parlaments haben auf unsere E-Mail-Umfrage geantwortet.
Bei der SP halten sich Befürworter und Gegner einer Impfpflicht die Waage. Die bürgerlichen Politiker sprechen sich hingegen mehrheitlich gegen eine Pflicht aus. Aber auch unter den Befürwortern finden sich Vertreter der CVP, FDP, BDP und SVP. So schreibt SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr: «Die Sicherheit aller Personen im Land steht im Zentrum. Eine Impfung kann doppelt Leben retten.»
Es gibt einen Impf-Röstigraben
Was auffällt: Parlamentarier aus der Romandie äussern sich vorwiegend positiv über ein Obligatorium. Das deckt sich mit der Einstellung der Bevölkerung: Laut einer Studie des Pharmakonzerns Pfizer befürworten 61 Prozent der Romands einen Impfzwang für gefährliche Kinderkrankheiten – in der Deutschschweiz sind es nur 19 Prozent. Und dies, obwohl die Impfrate in der Westschweiz höher ist als in der Deutschschweiz.
Ein genereller Impfzwang sei nicht der richtige Weg, findet Arnaud Chiolero, Professor für Öffentliche Gesundheit an der Universität Bern: «Bei einem dramatischen Anstieg von Infektionen kann eine solche Massnahme zwar gerechtfertigt sein», sagt der Epidemiologe. «Aber das ist in der Schweiz zurzeit nicht der Fall.»
Tatsächlich ist die nationale Impfrate in den letzten Jahren insgesamt gestiegen: Zwischen 2014 und 2016 hatten 93 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz beim Schulaustritt die nötigen zwei Masern-Impfdosen bekommen. Vor zehn Jahren war es noch lediglich jeder zweite Schüler. Einer der kürzlich an Masern verstorbenen Männer war rund 30 Jahre alt – auch er gehört in diese Generation.
Von einer Ausrottung der Masern, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zum Ziel erklärt, ist die Schweiz dennoch weit entfernt. Dazu müssten nicht nur mindestens 95 Prozent der Kinder (im Moment sind es nur 89 Prozent der zweijährigen Kinder), sondern auch alle nach 1963 geborenen Erwachsenen mit zwei Dosen geimpft werden.
Zwang für Impfgegner-Hochburgen?
Vom BAG veröffentlichte und von der «SonntagsZeitung» ausgewertete Zahlen zeigen: In bestimmten Regionen gab es in den letzten 30 Jahren besonders viele Masern-Ausbrüche: Etwa im Entlebuch im Kanton Luzern, im Kanton Appenzell Innerrhoden und im Bezirk Dorneck im Kanton Solothurn.
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Im Kanton Luzern hatten im Jahr 2016 rund 89 Prozent der 16-Jährigen die nötigen beiden Masern-Impfungen. Im Vergleich zu anderen Deutschschweizer Kantonen liegt der Kanton Luzern damit im hinteren Mittelfeld.
Dennoch stellt sich die Frage: Müsste man Gebiete wie das Entlebuch speziell in die Pflicht nehmen, um die Masern endgültig loszuwerden? Laut Epidemiengesetz können Kantone Impfungen für bestimmte Personengruppen für obligatorisch erklären, sofern eine «erhebliche Gefahr» besteht. Für einen Impfzwang besteht hingegen keine Rechtsgrundlage.
Dazu sagt der Luzerner Kantonsarzt Roger Harstall: «Ein Obligatorium kann nur in klar definierten Ausnahmefällen für eine klar definierte Gruppe ausgesprochen werden.» Diese Bedingung sei nicht erfüllt, nur weil im Kanton die 95-Prozent-Durchimpfungsrate nicht erreicht werde. Harstall meint zum Thema Obligatorium: «Der Kanton Luzern setzt auf Information und Sensibilisierung und nicht auf ein Impfobligatorium». Die stetige Steigerung der Durchimpfrate in den letzten Jahren zeige, dass dieser Ansatz der richtige sei.
Der Kantonsarzt spricht eine grundsätzliche Herausforderung in der Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten an: «Die Schweizer Bevölkerung weist eine hohe Mobilität auf. Kantonale Alleingänge sind deshalb nicht zielführend.» Ein allgemeines Obligatorium müsste auf Bundesebene diskutiert werden. Dem pflichtet der Berner Epidemiologe Chiolero bei: «Wie soll man ein Gebiet für eine Impfpflicht definieren? Viele Schweizer arbeiten nicht einmal in dem Kanton, in dem sie leben.»
Impfzwang befeuert das Misstrauen
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie gut eine Impfpflicht überhaupt wirkt. Der Grünen-Nationalrat Michael Töngi ist überzeugt: «Ein Impfobligatorium in der vorhandenen Situation könnte auch dazu führen, dass Eltern mit ihrem Kind einfach nicht mehr zum Arzt gehen.»
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In 12 EU-Ländern werden Impfungen bereits staatlich verordnet. Eine von der EU finanzierte Studie konnte aber keinen positiven Zusammenhang zwischen Impfpflicht und Impfraten ausmachen. Ein Obligatorium kann sogar das Misstrauen stärken, wie eine weitere aktuelle Umfrage zeigt. Bürger aus Bulgarien, Lettland und Frankreich äusserten sich besonders skeptisch darüber, ob Impfungen wirken – in allen drei Ländern gibt es eine gesetzliche Impfpflicht.
Viele der Schweizer Politiker fordern denn auch Aufklärung statt Zwang. So zum Beispiel SP-Nationalrätin Bea Heim, die bei den Behörden ein ernstes Versäumnis ortet: «Sie haben zu lange zu wenig informiert und damit das mediale Feld den Impfgegnern überlassen, die sehr aktiv sind.»
Die Solothurner Gesundheitspolitikerin fordert daher: «Das Bundesamt für Gesundheit muss auf allen medialen Kanälen, in den Kitas, Kindergärten und Schulen sachlich und umfassend informieren.»
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Infosperber-DOSSIER:
«Für die Gesundheit vorsorgen»
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Dieser Artikel ist zuerst auf higgs.ch erschienen. Scitec-Media GmbH, Initiantin und Betreiberin von higgs, erhält von der «Gebert Rüf Stiftung» noch bis Ende 2019 finanzielle Unterstützung.
Ich staune immer wieder, wie gut sich NR Ruth Humbel in Szene setzen kann. Und die Medien schnappen jeden Pips von ihr auf.
Sehr lehrreicher Artikel, vielen Dank!
Ruth Humbel ist tatsächlich bemerkenswert. Dass ihre Stimme so oft zu hören ist, liegt so glaube ich, nicht an ihrer Persönlichkeit, und bestimmt nicht an ihrer Eloquenz. Dass ihre Stimme jetzt zu hören war, kann daran liegen, dass sich gerade die Pharmaindustrie ihrer als Sprachrohr bedient hat. Sie wird oft als Sprachrohr gebraucht.So auch von Versicherungen. Sie hat unglaublich viele Mandate und hat als Politikerin im Kampf für die Interessen der Bevölkerung bestimmt ein erfülltes Leben.
Solange das Patriarchat solche Frauen hat, ist es nicht in Gefahr.
Der Artikel sagt folgendes: Ein Impfobligatorium könnte kontraproduktiv sein. Aus taktischen Gründen ist es sinnvoller, dem Volk die richtige Meinung (bereits in Kindesalter) in der Schule, Kindergarten und anderen Institutionen einzuimpfen und zu vermitteln.
Es ist eine Anleitung, um die Ziele der Pharmalobby ohne Zwang und die dadurch mögliche Gegenwehr doch umzusetzen. Stichwort Softpower! Dieser Artikel ist klare Propaganda mit dem Versuch, ein Vorgehen zu beschreiben und konsolidieren.