Die Queen ist an Ursache gestorben, die es bei uns nicht gibt
«Old Age», zu deutsch Altersschwäche, sei die Todesursache gewesen, heisst es auf dem Todesschein der Queen, die im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Diese Todesursache ist eine Ausnahme. Denn «Altersschwäche» oder «hohes Alter» gibt es in der Todesursachen-Statistik der meisten Länder nicht. Obwohl die Menschen im Durchschnitt viel älter werden als früher, hat die internationale Statistik die Todesursache «Altersschwäche» aus dem Vokabular entfernt.
Darob freut sich die Gesundheitsindustrie. Deren verschiedene medizinische Disziplinen präsentieren ihr eigenes Fachgebiet gerne als das Wichtigste, damit sie mehr Geld erhalten. Das Bundesamt für Statistik macht mit und verbreitet: «Fast die Hälfte der 85+ sterben an Herzkreislaufkrankheiten» – «Unter den 25-84-Jährigen ist Krebs die häufigste Todesursache.» – «Zum dritten Mal in Folge starben mehr Männer an Krebs als an Herz-Kreislauf-Erkrankungen.»
Auch die einzelnen Krebsarten stehen im Wettbewerb untereinander: «An Lungentumoren sterben heute mehr Frauen als an Brustkrebs.» Ob solche Aussagen stimmen, ist weniger wichtig. Es geht den Disziplinen darum, mehr (Forschungs-)Gelder zu erhalten.
Laut Todesstatistik sterben die meisten Frauen und Männern im Pensionsalter immer noch entweder an Herzkreislauf-Krankheiten, Krebs oder Demenz. Präsident Richard Nixon hatte zwar im Jahr 1971 den «Krieg gegen den Krebs» ausgerufen. Doch das nützte wenig: Noch immer stirbt einer oder eine von vier Pensionierten in der Schweiz an einer Krebserkrankung. Das sind 25 Prozent.
Senilität ja, Altersschwäche nein
Ein weiteres gutes Viertel oder 27 Prozent der Pensionierten, sterben an einer Krankheit des Herzkreislaufsystems. Mitgezählt dies eine persönliche Bemerkung – wurde auch mein Onkel, der im Alter von 100 Jahren zu Hause starb. Auf dem Formular des Bundesamts für Statistik kreuzte der Arzt als Todesursache «Herzinsuffizienz» an.
Eine Todesursache «Altersschwäche» gibt es nicht. Es gibt lediglich einen Sterbegrund «Senilität», zu dem laut Bundesamt für Statistik auch die Altersschwäche gezählt werden soll. Doch unzurechnungsfähig war mein Onkel höchstens wenige Stunden vor seinem Tod. Von Senilität oder Demenz keine Spur. Der Hausarzt meines Onkels meinte, er möchte auf dem Todesschein häufig einfach schreiben «Kerze erloschen», doch sei dies in der Statistik der Todesursachen nicht vorgesehen.
«International standardisiert»
Deshalb steht die Todesursache «Altersschwäche» oder «Old Age» bei uns selbst bei der obersten Altersklassen nie auf dem Todesschein. Offensichtlich zögern Ärztinnen und Ärzte, bei Altersschwäche einfach «Senilität» anzukreuzen. Denn die Auswertung der Todesscheine zeigt, dass sogar unter den über 84-Jährigen statistisch nur einer von 61 Menschen an «Senilität» stirbt (einschliesslich Altersschwäche).
Mit andern Worten: 60 von 61 der Hochbetagten sterben offiziell an Herzkreislauf-Krankheiten, Krebs, Demenz oder anderen Krankheiten.
Das Bundesamt für Statistik meint dazu, dass das Todesursachen-Formular eben international standardisiert sei. England ist eines der wenigen Länder, welche «Old Age» als offizielle Todesursache erfassen. Es wäre also möglich, diese Todesursache auch in der Schweiz und in Deutschland einzuführen.
In der Schweiz und wohl auch in Deutschland kommt noch ein anderer Grund hinzu, weshalb praktisch alle Menschen, sofern sie nicht tödlich verunfallen oder Suizid begehen, an einer Krankheit sterben. Die Krankenkassen dürfen Arztbesuche und Medikamente nur zahlen, wenn der Arzt eine Krankheit diagnostiziert.
Die Folge von all dem:
- Wenn medizinische Fortschritte dazu führen, dass beispielsweise Krebs weniger Todesfällen verursacht, sterben statistisch einfach mehr Leute an den anderen Krankheiten.
Für die Bekämpfung all dieser Krankheiten können wir beliebig viele Milliarden ausgeben: Statistisch sind Herzkreislauf-Krankheiten, Krebs und Demenz als Todesursachen nicht auszurotten.
Milliarden Franken für ein längeres Leben vieler Einzelnen…
Wenn es darum geht, das Leben eines individuellen Kranken zu verlängern, ist der mögliche finanzielle Aufwand nach oben fast unbegrenzt. Ärzte, Ethiker und Politikerinnen diskutieren darüber, ob die Behandlung eines Patienten oder einer Patientin pro zusätzlich gewonnenes Lebensjahr bei akzeptabler Lebensqualität die Prämien- und Steuerzahlenden 100’000 Franken, eine halbe Million oder eine Million kosten darf.
…oder Milliarden für eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung
Sollte es allerdings tatsächlich darum gehen, die Gesamtzahl der Lebensjahre aller Schweizerinnen und Schweizer zu erhöhen – also deren durchschnittliche Lebenserwartung –, dann ist es wenig sinnvoll, zusätzliche Milliarden in die Gesundheitsindustrie zu investieren. Denn auf die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung haben Armut, Sozial- und Umweltfaktoren heute einen erheblich grösseren Einfluss als die Medizin.
Neben Wohlstand, saubererer Luft, weniger Rauchen und so fort hat die Medizin dazu beigetragen, dass die Menschen trotz all dieser Krankheiten länger leben als früher. Doch statistisch sterben immer noch gleich viele Menschen an diesen Krankheiten.
In Industriestaaten sind die Milliarden für die Gesundheitsindustrie für die durchschnittliche Lebenserwartung nicht mehr entscheidend. Das zeigen folgende Zahlen:
In der Schweiz mit den zweithöchsten Gesundheitsausgaben beträgt das durchschnittliche Todesalter 83 Jahre. In den USA mit den klar höchsten Gesundheitsausgaben jedoch nur 78 Jahre.
In Japan mit deutlich tieferen Gesundheitsausgaben ist das durchschnittliche Todesalter mit 85,0 Jahren um zwei Jahre höher als in der Schweiz.
Den grössten Einfluss auf die durchschnittliche Lebenserwartung in Industriestaaten haben die wirtschaftlich Schwächsten. Sie wohnen an den Orten, die am stärksten umweltbelastet sind, arbeiten an risikoreicheren Arbeitsplätzen, sind arbeitslos oder unterbeschäftigt, rauchen häufiger, bewegen sich weniger und ernähren sich weniger gesund.
Sogar in der Schweiz leben die zehn Prozent wirtschaftlich Schwächsten rund zehn Jahre weniger lang als die zehn Prozent der wirtschaftlich Stärksten. Ein Beispiel: Bau- und Fabrikarbeiter in der Schweiz haben ein 300 Prozent grösseres Risiko, invalid zu werden als die Durchschnittsschweizer. Vor ihrer Pensionierung erkranken sie fünfmal häufiger an Krebs und leiden sechsmal häufiger an Skelettkrankheiten als Lehrer oder Direktoren. Das geht aus Zahlen des Bundesamts für Statistik hervor. Berufliche Expositionen mit Asbest, Rauch, Pestiziden oder Lärm treffen vor allem sozial und wirtschaftlich Schwächere.
[Wegen ihrer viel kürzeren Lebenserwartung sollten die Angestellten mit den niedrigsten Löhnen in einem Unternehmen bei der Pensionskasse von einem höheren Umwandlungssatz profitieren als die Angestellten mit den höchsten Löhnen – und damit eine höhere Rente erhalten.]
Zur wirtschaftlich starken Seite gehört die britsche Königsfamilie mit ihren Privilegien. Ihnen ist durchschnittlich ein deutlich ängeres Leben beschieden. Es ist auch nicht bekannt, dass die Queen etwa geraucht hätte.
Laut WHO sind in den Industriestaaten rund 30 Prozent aller Erkrankungen «umweltbedingt». Weltweit seien «an fast einem Viertel aller Krankheiten und vorzeitigen Todesfällen Umweltbedingungen schuld, die veränderbar sind».
Drei Einsichten
Aus den dargestellten Fakten lassen sich drei Folgerungen ziehen:
- Die durchschnittliche Lebenserwartung in einem entwickelten Staat hat wenig zu tun mit der Höhe der Gesundheitsausgaben und dem Angebot an Gesundheitseinrichtungen.
Um den Erfolg verschiedener Gesundheitssysteme zu vergleichen, müsste man die Lebenserwartung (und den Gesundheitszustand) ähnlicher Bevölkerungsschichten in anderen Ländern vergleichen, die in ähnlichen Umweltverhältnissen leben. Sonst vergleicht man Äpfel mit Birnen. - Die durchschnittliche Lebenserwartung lässt sich mit Milliarden zugunsten der wirtschaftlich und sozial Schwächsten deutlich kostengünstiger und effektiver steigern als mit zusätzlichen Milliarden für die Gesundheitsindustrie.
- Die durchschnittliche Lebenserwartung ist tiefer, wenn viele bereits in jungen Jahren sterben und dadurch sehr viele Lebensjahre verlieren. Eine zusätzliche Milliarde zur Unfall- und Suizidprävention erhöht die durchschnittliche Lebenserwartung wahrscheinlich stärker als eine zusätzliche Milliarde für das Gesundheitssystem.
Diese Einsichten bewirken wenig, wenn sie nicht vertieft diskutiert und dann auch umgesetzt werden. Doch im Kampf um die begrenzten finanziellen Mittel werden sich – unabhängig von Argumenten und Einsichten – erfahrungsgemäss diejenigen durchsetzen, welche im Parlament die stärkste Lobby haben: Die Ärzteschaft, Spitäler, Apotheken, Medizinalprodukte- und Pharmaindustrie behalten gegenüber den Interessen der sozial Schwächsten meistens die Oberhand.
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Wesentliche Teile dieses Artikels erschienen auf Infosperber bereits nach dem Tod von Loriot Anfang 2019, als sein Verlag mitteilte, er sei an Altersschwäche gestorben. Der Artikel wurde aktualisiert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke Ihnen für diesen großartigen Beitrag zu diesem weitgehend tabuisierten Thema!
Spannend bleibt, jedenfalls wenn diese geforderte vertiefte Diskussion ausbleiben sollte – was ich befürchte -, ob zukünftig Kriegsindustrie oder Medizin- und Pharmalobby mehr aus dem Topf öffentlicher Ausgaben (unser aller Steuern!) abgreifen können.
Den wirtschaftlich und sozial Schwachen kann es egal sein – in beiden Fällen wird es nicht zu einer wesentlichen Verbesserung ihrer Lebenssituation beitragen. Wohl eher im Gegenteil.
Wenn 100% der Verstorbenen an einer Krankheit, nicht aber Altersschwäche dahinschieden – dann gibt es viel zu tun; und die Branchen packen das sehr gerne an…
Suizidprävention bzw. Vorbeugung gegen Depressionen funktioniert (bei medizinischen Ursachen) gemäss Studien ggf. auch mit normalem lithiumhaltigem Trink- bzw. Mineralwasser. Very simpel – aber die Kosten für eine stationäre Behandlung bringen halt 4‘000 mal mehr ein als Prävention.
Dann noch die längst dokumentierten Themenkreise Omega 3 oder Vitamin D.
Wer diese Einsichten diskutieren will, wird zur unerwünschten Person und zum Verschwörer – ja zum Wahnsinnigen degradiert.
Eine der Altersschwäche ähnliche Todesursache ist Lebensmüdigkeit. Menschen erleben einen seelischen Niedergang und kümmern sich instinktiv weniger darum, ihre Lebenskräfte zu stärken oder zu schützen. Die Vitalität nimmt ab. Krankheiten kommen bzw. werden durch «ungesundes Leben» hervorgerufen. Dieses «Sterben» kann sehr langsam von statten gehen, gelindert, verzögert werden.
Eine innere Stimme ist ausschlaggebend: «Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin!» (Johannes 5:8)
Applaus, Applaus für diesen Artikel. Auch ich habe gestutzt, als ich aus den Medien erfahren habe, dass die Queen völlig old style an «Altersschwäche» gestorben sei. Heute sollte man hundert werden, aber bitteschön mit der Gesundheit von zwanzig und mit dem Aussehen von dreissig Lebensjährchen und an simpler Altersschwäche hat man gefälligst nicht abzuleben, weil im Brachialkapitalismus zu wenig lukrativ.
Gelegentlich denke ich, dass der Fortschritt schon viel zu weit fortgeschritten ist, nach dem Motto: Gestern stand ich am Abgrund; aber heute bin ich einen riesigen Schritt weiter.