CoronaMahnwache

Kerzen für die Covid-19-Toten: Freiwillige starteten die Corona Mahnwache. © Corona Mahnwache

«Die Gesellschaft lebt von Menschen, die sich sozial verhalten»

Monique Ryser /  Der Soziologe und emeritierte Professor Ueli Mäder über die Corona-Krise und warum Hilfe an Benachteiligte nicht rentieren muss.

Der Soziologe Ueli Mäder hat sich unter anderem als Armutsforscher einen Namen gemacht. Seine Spezialgebiete sind Soziale Ungleichheit sowie Konflikt- und Kooperationsforschung.

Infosperber: Wir sprechen in dieser Krise über Wirtschaft, Geld, Masken, Überlastung der Spitäler, Impfen – aber wir sprechen fast nie über die bis jetzt fast 4000 Toten oder darüber, wie wir als Gemeinschaft eigentlich mit der Krise umgehen wollen. Warum ist das so?
Ueli Mäder: Ja, viel Wesentliches kommt zu kurz. Und dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Sterben. Das war allerdings schon vor Corona so. Und akzentuiert sich jetzt. Der Tod ist immer noch stark tabuisiert. Oder er kommt als nackte Zahl daher. Und doch ist er etwas näher gerückt. Auch gibt es viele Debatten darüber, wie wir als Gemeinschaft mit der Krise umgehen wollen. Corona eröffnet zum Glück auch eine andere Sicht: Die Krise zeigt, wie hilfreich einfache Handreichungen sind. Und zwar unabhängig davon, ob sie offiziell «systemrelevant» sind. Unsere Gesellschaft lebt von unzähligen Menschen, die sich sozial verhalten. Unsere Gesellschaft könnte gar nicht funktionieren, wenn sich nicht die Einzelnen für das grosse Ganze einsetzen würden. Diese zivilgesellschaftliche Kraft ist die «soft power», die uns ausmacht.

Dann kommt es einfach darauf an, wie wir uns als Individuen verhalten?
Ueli Mäder: Damit die Anstrengungen jedes Einzelnen zum Tragen kommen, sind auch soziale Strukturen und ein verlässlicher Service public nötig. Der liberale Vordenker John Rawls postulierte schon vor fünfzig Jahren eine gerechte Gesellschaft, die einen sozialen Ausgleich für alle anstrebt und Benachteiligte besonders unterstützt. Corona deckt soziale Probleme auf und erhellt, wie wertvoll soziale Leistungen sind.

In anderen Ländern zeigen Statistiken, dass die Anzahl Tote in Relation zu Einkommen und Lebensumständen stehen: Angehörige von Minderheiten in prekären Verhältnissen sterben häufiger und sind wirtschaftlich stärker betroffen. Gilt das nicht auch in der Schweiz?
Ueli Mäder: Doch natürlich, je tiefer die Einkommen sind, desto höher sind die gesundheitlichen Belastungen. Das zeigt sich auch bei Corona. Wer prekär beschäftigt ist, läuft eher Gefahr, die Anstellung ganz zu verlieren. Und wer knapp bei Kasse und gesundheitlich beeinträchtigt ist, muss die Viren besonders fürchten. Diese Menschen benötigen unbedingt mehr Unterstützung. Das ist wichtig. Denn man sieht klar: Mit steigendem Einkommen nimmt das physische und psychische Wohl zu. Auch hat, wer materiell gut ausgestattet ist, mehr Reserven. Er kann sich in Krisen einfacher einschränken. Corona führt uns das vor Augen. Die Pandemie beleuchtet soziale Probleme. Sie deckt diese aber zu, wenn sie soziale Gegensätze tabuisiert. Und wenn wir dann Ungleiches einfach gleich behandeln, bleibt es ungleich. So sind beispielsweise Kinder, die zuhause wenig Lernhilfe haben, auf mehr schulische Unterstützung angewiesen.

Wie weit man den von der Krise stark Betroffenen helfen soll, ist aber umstritten. Auch, wie weit die wirtschaftlichen Einschränkungen gehen sollen.
Ueli Mäder: Die Krise verstärkt Konflikte und Kontroversen. Die einen wollen alles möglichst rasch hochfahren. Das ist eine Option. Sie betrachtet, verkürzt formuliert, unsere Gesellschaft als eine Maschine, die mechanisch funktioniert und permanent die Effizienz optimiert. Dahinter steckt ein Menschenbild, das sich am unmittelbar Nützlichen orientiert. Materielle Anreize sollen den Wohlstand ankurbeln. Egal, wie unser Konsum die Umwelt strapaziert. Es gilt, möglichst viel zu produzieren. Und so verkommen selbst soziale Wesen zu Waren. Die forcierte «Zweck-Rationalität» verletzt vor allem ältere und beeinträchtigte Menschen. Sie unterläuft auch die gesellschaftliche Solidarität. Daher müssen wir immer wieder fragen, wie normal diese eng geführte Normalität ist. Unser Ziel muss aber sein, eine Existenzsicherung für alle zu gewährleisten. Mit Leistungen des Staates für diejenigen, die es nötig haben, und mit Löhnen, die eine Existenzsicherung ermöglichen.

In einer Krise kommt immer der Wunsch auf, die «Normalität» zurückzubekommen.
Ueli Mäder: Nun, wir können ja auch was lernen: Was uns selbstverständlich erscheint, erweist sich im Corona-Jahr 2020 als Luxus. Die Pandemie zeigt, wie privilegiert wir sind. Die einen sind es mehr, andere weniger. Eine Frau, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, sagte zu mir: «Corona trifft wenigstens alle, weil die Viren keinen Unterschied zwischen arm und reich machen.». Sie nimmt die Krise wie eine «ausgleichende Gerechtigkeit» hin. «Nein, es sind doch immer wieder die gleichen, die doppelt geprellt werden», entgegnete hingegen ihre älteste Tochter. Zu Recht? Nun, die Pandemie schränkt die meisten Menschen ein. Ob einem jedoch die Decke auf den Kopf fällt, hängt wesentlich von der sozialen Herkunft, Lebenslage und gesundheitlichen Disposition ab.

Wieso haben wir dieses dauernde Abwägen zwischen gesundheitliche Opfer hier und Wirtschaft da?
Ueli Mäder: Ja, das ist fatal. Wir müssen überall den unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen nachweisen. Ich tue das manchmal auch. Leider. Zum Beispiel in der AHV-Debatte. Da rechne ich gerne vor, wie die Renten rentieren. Das erhöht die Akzeptanz sozialer Ausgaben. Diese sind aber wichtig, weil sie Menschen den Rücken stärken, weil sie existenziell wichtig sind und weil sie die Lebensqualität erhöhen. Nicht weil die Renten rentieren, sondern weil Menschen eben Menschen sind.

Hat die Pandemie-Krise Auswirkungen auf den Zusammenhalt im Land?
Ueli Mäder: Vorhandene Spaltungen und Probleme werden auf- und zugedeckt. Das zeigt sich gerade bei sozialen Ungleichheiten. Etwa bei den Vermögen: Ende Oktober 2020 veröffentlichte der Bund die neuste Vermögensstatistik. Auf 0,3 Prozent der privaten Steuerpflichtigen kommen ein Drittel der Reinvermögen. Mehr als die Hälfte der Steuerpflichtigen verfügen jedoch über weniger als 1,5 Prozent der Vermögen. Die Kluft ist krass und längst bekannt. Die oberen Vermögen haben sich in den letzten dreissig Jahren weiter konzentriert und von den unteren abgehoben. Zu Beginn der Corona-Pandemie verringerten Börseneinbrüche zwar die Vermögensunterschiede. Dieser Effekt dauerte jedoch nur kurz an. Ähnlich, wie bei der Finanzkrise im Jahr 2008. Stärker ins Gewicht fallen nun die Einbussen bei den unteren und mittleren Einkommen. Zum Beispiel in der Gastronomie, der Event- und Kulturbranche. Hier sind Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit besonders verbreitet. Damit nimmt auch die Nachfrage nach Sozialhilfe zu. Vor allem durch Selbständigerwerbende mit niedrigen Löhnen. Laut Schweizerischer Konferenz für öffentliche Sozialhilfe (SKOS 2020) steigen die Sozialhilfe-Abhängigen von heute 280’000 Personen auf etwa 370’000 im Jahr 2022 an. Die Pandemie akzentuiert die soziale Ungleichheit, die oft vernachlässigt wird.

Man sagt, dass sich bei Krisen der Charakter zeige. Welchen Charakter hat die Schweiz?
Ueli Mäder: Die Schweiz ist ein vielfältiges Land. Da sehe ich keinen einheitlich gemeinsamen Charakter. Das wäre sonst so eine pauschalisierende und simplifizierende Zuschreibung. Was ich mir als Eigenschaft wünsche, und das reicht über die Schweiz hinaus, das wäre mehr Selbstkritik und Selbstreflexivität. Wir müssen das Licht nicht unter den Scheffel stellen. Es gibt gewiss auch viele Verdienste und überhaupt viel Schönes. Aber wir haben den Eindruck, die kleine Schweiz sei auf Grund ihrer genialen Fähigkeiten gross geworden. Mit viel Fleiss und Innovation. Wir klopfen uns also gerne auf die eigene Schulter. Und übersehen dabei, wie viel andere Länder und Menschen dazu beigetragen haben und beitragen. Wir profitieren zum Beispiel täglich von neokolonialen Handelsbeziehungen. Und das geht nicht. Denn es geschieht auf Kosten von andern. Ein Ja zur Konzernverantwortungsinitiative und dem Verbot der Finanzierung von Waffenproduzenten könnte doch ein erster Schritt in eine neue, sozialere und gerechtere Gesellschaft sein. Eine Krise kann auch genutzt werden, in eine andere Richtung zu gehen und nicht im Alten zu verharren.
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Veranstaltungshinweis (Anmeldung erforderlich):
Am Dienstag, 1. Dezember 2020, hält Ueli Mäder einen Vortrag unter dem Titel: «Corona-Krise: Ist die Solidarität zwischen den Generationen in Gefahr?» im Kirchgemeindehaus Wülfingen (Grosser Saal)
Zeit: 19.30-21.00
Anmeldung an Bea Graf, Tel. 052 223 17 79, bea.graf@reformiert-winterthur.ch.

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Coronavirus: Information statt Panik
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Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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4 Meinungen

  • am 27.11.2020 um 12:03 Uhr
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    «Die Gesellschaft lebt von Menschen, die sich sozial verhalten»
    Menschen bilden Bevölkerungen, soziale Regeln bilden Gesellschaften. Die Gesellschaft lebt nicht und Menschen kommen in der auch nicht vor.

  • am 27.11.2020 um 15:44 Uhr
    Permalink

    "Die einen wollen alles möglichst rasch hochfahren. Das ist eine Option. Sie betrachtet, verkürzt formuliert, unsere Gesellschaft als eine Maschine, die mechanisch funktioniert und permanent die Effizienz optimiert.» Diese Aussage von Ueli Mäder ist undifferenziert, einseitig und doppelt falsch. Einerseits orientieren sich viele, die für ein «Hinunterfahren» sind, einzig an positiven Tests und Fallzahlen, betrachten also die geforderten Massnahmen als reine Resultante epidemiologischer Werte. Wenn das nicht Ausdruck eines maschinellen Denkens ist! Anderseits tun viele, die sich für ein «Hochfahren» sind, nicht aus rein ökonomistischem Kalkül. Nein, viele sehen auch die individuellen wirtschaftlichen Ängste und Nöte und machen sich echte Sorgen über die psychischen, psychosozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen einer Lockdown-Politik, die sich einer rein epidemiologischen Optik unterwirft und gesamtgesellschaftliche Faktoren ausblendet.

  • am 28.11.2020 um 06:25 Uhr
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    Ueli Mäder, immer voll engagiert, immer total informiert, immer sehr konsziliant, immer gründlich fundiert, immer bedingungslos solidarisch, immer tadellos argumentierend.
    Und praktisch nicht viel erreicht. Herr Mäder hat uns bei seinen ganzen Tätigkeiten vor allem eines vor Augen geführt: Der in unserer Eidgenössischen Gesellschaft vorgesehene Weg, Dinge zu verändern, führt nicht mehr zum Ziel. Es ist Edel, die Spielregeln bis zum bitteren Ende einzuhalten. Nur können sich die Bedürftigen von diesem Edelmut nichts kaufen.
    Wenn man nach 85 Minuten feststellt, dass der Schiri die Foulerei des Gegners tatsächlich nicht unterbinden wird, dann steht man vor der Wahl, edel zu verlieren, oder in den letzten 5 Minuten den Gegner gnadenlos niederzugrätschen.
    Die Fans wollen in so einer Situation definitiv nicht in Schönheit sterben, lieber verzeiht man den Spielern, wenn sie nach einer Blutgrätsche mit rot vom Feld gestellt werden.
    Verlieren ist erlaubt, sich verarschen lassen dagegen nicht.

  • am 30.11.2020 um 21:11 Uhr
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    Warum soll man auch ein Ziel erreichen, wenn mit der Veränderung schon Alle beschäftigt sind? Dann geht es nur noch darum, dass sich alles verändert. Positiver Nebeneffekt: Man kann einfach weiterwursteln wie bisher, wenn alle beschäftigt sind mit ihrem Umfeld. Wehe wenn aber mal jemand anders hinschaut. Pöser Asi

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