Corona-Bilanz 2020: Im Impfschacher nur Mittelmass. Und sonst?
Red. Für sein Gesamtwerk bekam Hanspeter Guggenbühl am 30. August 2021 den Zürcher Journalistenpreis. Noch vor seinem Tod wählte er zuhanden der Jury drei seiner Tausenden von Artikeln aus, die ihm wichtig erschienen. Als Teil unserer Serie im Gedenken an Hanspeter Guggenbühl veröffentlichen wir sie an dieser Stelle. Der folgende dritte Artikel mit einer Bilanz der Corona-Epidemie im Jahr 2020 erschien am 8. April 2021 auf Infosperber.
Abgerechnet wird am Schluss
Abgerechnet wird am Schluss, wenn «Corona» wieder mit Bier statt mit Pandemie verknüpft wird. Doch so lange wollen oder können wir Medienschaffende nicht warten. Im Tagesrhythmus starren wir auf die aktuellen Daten; die einen selektiv auf Fall-, andere auf Todes- oder Hospitalisierungszahlen; neuerdings sind auch Impfraten hoch im Kurs. Und bevorzugt widmen wir uns dem Meckern.
Viel zu Meckern haben zurzeit Medienleute in Staaten, die beim Impfen nicht so schnell sind wie andere. Letzten Samstag (3. April) etwa klagte Christina Neuhaus in der NZZ auf Seite 1, die Schweiz sei bei der «Bewältigung der Krise» nur noch «Mittelmass», weil sie sich «zu spät, zu zögerlich, zu wenig» Impfstoff gesichert habe. Tags darauf wetterten Lukas Häuptli und Franziska Pfister in der Sonntags-NZZ, weil viele Kantone über die Osterfeiertage gar nicht impften.
Widersprüchliche Kritik
Zwar darf man fragen, ob es Sinn macht, bei einem Langstreckenlauf, der mindestens bis Mitte Jahr dauert, die Zwischenzeit an Ostern als Mass aller Dinge zu nehmen. Oder ob Impfen in Sonderschichten an Feiertagen notwendig ist, wenn sich die Impfkapazitäten selbst an Werktagen mangels Impfdosen nicht auslasten lassen.
Doch wesentlich ist etwas anderes: Im nationalen Biet- und Raffwettbewerb um Impfdosen, den reiche auf Kosten von armen Staaten führen, ist die Schweiz tatsächlich nur «Mittelmass». Sie liegt deutlich hinter den Konkurrenten Israel, Grossbritannien oder den USA zurück, also hinter Staaten, die wir bei anderer Gelegenheit wenig rühmen.
Wenn nun die NZZ die mangelnde Performance der Schweiz im globalen Impfwettbewerb geisselt, so ist das für das Leibblatt der Ellbogengesellschaft immerhin konsequent. Weniger konsequent ist, dass dieselbe Kritik auch Medien links der NZZ erheben, die bei anderer Gelegenheit für Ausgleich gegenüber Ländern im Süden plädieren; im Krisenfall steht ihnen das nationale Interesse offensichtlich immer noch näher als die internationale Solidarität.
Allerdings bleibt auch das Medium, das sonst die Devise «weniger Staat, mehr Freiheit» hochhält, nicht konsequent. So kritisierte Christina Neuhaus im erwähnten NZZ-Leitartikel, der Bundesrat sei auf den Vorschlag von VR-Präsident Albert Baehni, die private Lonza mit Staatsmillionen zu subventionieren, um sich damit – allenfalls – zusätzliche Impfdosen zu sichern, nicht eingegangen.
Soweit mein Gemecker über das widersprüchliche Impf-Gemecker der anderen. Abgerechnet aber wird wie erwähnt erst am Schluss. Dann geht es weniger um die «zu spät» oder «zu zögerlich» gespritzten Impfdosen, sondern vielmehr um die Antwort auf die Frage, wie gut die Länder die Corona-Epidemie insgesamt bewältigt haben. Da dieses Ende noch bevorsteht, begnügen wir uns im Folgenden mit einer Zwischenbilanz zum Jahr 2020, basierend auf Indikatoren, die relevanter sind als die aktuellen Impfraten.
Einfluss auf Leben und Tod
Am wichtigsten ist die Natur, denn diese bildet die Lebensgrundlage aller Menschen. Dieses grosse Thema klammern wir an dieser Stelle aus, nachdem Infosperber einige Auswirkungen der Corona-Epidemie auf den Naturverbrauch (Energie, Verkehr, Klima, etc.) schon früher thematisierte, zuletzt unter dem Titel «Naturbuchhaltung 2020».
Beginnen wir also mit dem Einfluss der Epidemie auf das Leben und Sterben der Menschen. Dazu veröffentlichen Ämter und Medien täglich Corona-bedingte Gesundheits-, Spital- oder Sterbedaten. Aussagekräftiger als diese spezifischen, mit Abgrenzungsschwierigkeiten behafteten Corona-Statistiken sind Informationen über die gesamte Sterblichkeit, also: Wie viele Menschen in der Schweiz sind im Corona-Jahr 2020 gestorben, und wie viele mehr waren es im Vergleich zum Vorjahr oder zum Durchschnitt mehrerer Vorjahre*, als sich Corona noch nicht auswirkte?
- In der Schweiz starben 2020 total 76 000 Menschen, zeigen die soeben veröffentlichten Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS). Das sind 8200 Personen oder 12 Prozent mehr als im Vorjahr. Übrigens: Diese vom BFS erfasste Übersterblichkeit (8200 Personen) stimmt weitgehend überein mit den 2020 dem BAG gemeldeten «Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19» (Bericht hier); das relativiert die vielerorts geäusserte Kritik an der entsprechenden BAG-Statistik.
- Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz mit ihrer Übersterblichkeit (11 bis 13 %*) im europäischen Durchschnitt, zeigt ein Vergleich mit Daten von «Euronews». Deutlich tiefer als in der Schweiz war demnach die Übersterblichkeit 2020 in Deutschland oder Dänemark, nahezu gleich hoch in Schweden und Österreich, deutlich höher in Spanien und Italien. In Grossbritannien und den USA, welche einige Medienschaffende wegen ihren hohen Impfraten heute loben, war die Übersterblichkeits-Rate im Jahr 2020 ebenfalls höher als in der Schweiz (auf einen weltweiten Vergleich verzichten wir hier, da die Daten in vielen aussereuropäischen Länder unzuverlässig sind).
Neben den statistisch eindeutig erfassbaren Todesfällen gibt es das Leben vor dem Tod. Die Mittel zur Bekämpfung der Corona-Epidemie – vom Maskenzwang über die Einschränkung der Versammlungs- und Reisefreiheit bis zur Schliessung von Läden und Gaststätten – haben die Qualität dieses Lebens für manche Menschen verschlechtert (Stichworte: «Coronamüdigkeit», «Sehnsucht nach Normalisierung»), für andere verbessert (Stichworte: «Beschaulichkeit», «Abkehr vom ganz normalen Wahnsinn»). Die Bilanz zur Lebensqualität im Corona-Jahr 2020 bleibt somit subjektiv. Nimmt man den Umfang der Einschränkungen als Massstab, so war die Bevölkerung in der Schweiz im Vergleich zu jener der meisten anderen europäischen Staaten unterdurchschnittlich betroffen. So blieben Skigebiete offen, Läden weniger lang geschlossen, etc.
Einfluss auf Geld und Wirtschaft
Leichter als die Qualität des Lebens lässt sich der Gang der Wirtschaft erfassen. Dabei stützen sich Ökonomen und Politikerinnen bevorzugt auf das Bruttoinlandprodukt (BIP), also die Summe aller in Geld erfassten Wirtschaftsleistungen. Hier haben die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie global deutliche und national unterschiedlich grosse Spuren hinterlassen:
- Das weltweite Sozialprodukt schrumpfte im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Prozent. Bei dieser Zahl handelt es sich um die neuste Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zum Vergleich: Kurz vor Beginn der Corona-Epidemie prognostizierte der IWF fürs Jahr 2020 noch ein Wachstum der globalen Wirtschaft um 3,3 Prozent. Das heisst: Corona senkte die globale Wirtschaftsleistung um rund sieben Prozent. Eine noch stärkere Schrumpfung der Weltwirtschaft verhinderten viele Staaten, indem sie die Wirtschaft mit Staatsgeld massiv stützten und damit eine starke Zunahme der Staatsverschuldung in Kauf nahmen.
- Grosse Unterschiede: In den einzelnen Staaten oder Staatengruppen entwickelte sich das Bruttoinlandprodukt 2020 unterschiedlich. Während das BIP in China trotz Corona 2020 noch leicht zunahm, sank es im Schnitt der westlichen Industriestaaten (OECD) stärker als im globalen Durchschnitt. Beispiele: Das BIP in den USA verminderte sich 2020 gegenüber 2019 um 4,6 Prozent, in Japan um 5,5 Prozent im Schnitt der EU um 6,3 Prozent. Innerhalb der EU sank das BIP im viel kritisierten Deutschland um 5,0 Prozent, im von der NZZ zum Impf-Musterland erkorenen Grossbritannien hingegen um 10,3 Prozent, in Italien und Frankreich um 8 bis 9 Prozent (Quellen: OECD, EU, Datenstand Februar 2021, übersichtliche Tabelle WKO hier).
- Die Schweizer Wirtschaft schrumpfte 2020 mit einem BIP-Minus von 2,9 Prozent weniger stark als die Wirtschaft der meisten anderen Industriestaaten, zeigt die neuste Schätzung des Bundes. Dabei dämpften Bund und Kantone den BIP-Rückgang ebenfalls mit zusätzlicher Staatsverschuldung.
Vor und mit Corona: Ein Leben auf Pump
Die Meinungen, ob und ab welchem Mass Staatsschulden ein Problem sind, gehen innerhalb der Wirtschaftswissenschaft weit auseinander. Fest steht: Schon seit der Jahrtausendwende wachsen – bei jährlichen Schwankungen – die Schulden der meisten Staaten (die Schweiz blieb dank Schuldenbremse eine Ausnahme). Im Corona-Jahr 2020 allein stieg die Staatsverschuldung, gemessen am BIP, in den USA um annähernd 20 Prozentpunkte (PP), in den EU-Staaten um durchschnittlich 16 PP, in der Schweiz hingegen um weniger als 10 PP, zeigt eine Publikation der ETH-Konjunkturforschungsstelle vom Januar 2021. Am Ende des Jahres 2020 summierten sich die Staatsschulden in den USA auf rund 130 Prozent des jährlichen BIP, in der EU auf knapp 100 Prozent, während die Staatsverschuldung in der Schweiz mit rund 30 Prozent relativ moderat bleibt.
Eine zunehmende Staatsverschuldung ermöglicht ein vorweggenommenes Wachstum oder eine reduzierte Schrumpfung der Wirtschaft; dies zu Gunsten der heutigen, zu Lasten von späteren Generationen. Das veranschaulicht ein theoretisches Beispiel: Wollten die USA ihre aufgelaufenen Staatsschulden von 130 Prozent des BIP vollständig abbauen, müssten dort alle Erwerbsstätigen 1,3 Jahre gratis arbeiten. Eine solche Schuldentilgung strebt in der Praxis selbstverständlich keine Regierung an.
Fazit: Die Bekämpfung der Corona-Epidemie senkte im Jahr 2020 die Lebenserwartung um ein knappes Prozent, senkte die Wirtschaftsleistung der westlichen Industriestaaten um 2 bis 12 Prozent, erhöhte die Staatsverschuldung um 10 bis 20 Prozentpunkte, aber verminderte zumindest vorübergehend die Ausbeutung der Natur. Ein weiterer Aspekt, den wir in diesem Artikel ausklammerten: Die Arbeitslosigkeit stieg 2020, ebenso die Kurse an den Aktienbörsen, was zeigt: Corona vergrösserte die Kluft zwischen arm und reich.
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* Die Sterblichkeit lässt sich unterschiedlich bemessen. Entweder vergleicht man die Todesfälle im (Corona-)Jahr 2020 mit dem Vorjahr 2019 und erfasst damit die Differenz, in der Schweiz also 8200 Personen oder 12 Prozent. Oder man vergleicht die Todesfälle mit dem Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre; für die Schweiz ergibt dies im Jahr 2020 eine Zunahme von 13 Prozent. Oder man vergleicht die Zahl der Verstorbenen mit der von Statistik-Experten voraus berechneten Sterblichkeit. Daraus resultiert eine Übersterblichkeit von 11 Prozent. Was zeigt: Bei allen drei Methoden unterscheiden sich die Resultate für die Schweiz nur unwesentlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
in memoriam hpg: Serie im Gedenken an Hanspeter Guggenbühl
Hanspeter Guggenbühl (2. Februar 1949 – 26. Mai 2021) gehörte zu den profiliertesten Schweizer Journalisten und Buchautoren für die Themen Energie, Umwelt, Klima und Verkehr. Hanspeter Guggenbühl engagierte sich seit den Gründerjahren mit viel Leidenschaft für Infosperber – er schrieb mehr als 600 Artikel und prägte die Online-Zeitung ganz wesentlich. Sein unerwarteter Tod ist ein grosser Verlust für den Journalismus, für Infosperber und für alle, die ihm nahestanden.
Um einen Beitrag an das Andenken von Hanspeter Guggenbühl zu leisten, haben sich mehrere Schweizer Autornnen und Autoren bereit erklärt, einen Text mit der Vorgabe zu schreiben, dass Hanspeter ihn gerne gelesen hätte. «Gerne gelesen» heisst nicht, dass er nicht widersprochen hätte – war ihm die argumentative Auseinandersetzung doch ebenso wichtig wie das Schreiben.
In der gleichen Serie publizierten wir auch einige Artikel von Hanspeter Guggenbühl, die an Aktualität wenig eingebüsst haben. Als letzten diesen heutigen.
Alle Beiträge wurden in den letzten Wochen in loser Folge publiziert. Ein letzter von Jürgmeier folgt am nächsten Sonntag. Alle Beiträge werden als Serie «in memoriam hpg» zusammengefasst und im hier verlinkten Dossier vereint.
Die Beitragenden (in alphabetischer Reihenfolge):
- Marcel Hänggi, Journalist und Autor mit Fachbereich Umwelt und Klima, Lehrer, Mit-Initiant der Gletscher-Initiative, Zürich.
- Reto Knutti, Professor für Klimaphysik, ETH Zürich, Zürich.
- Jürgmeier (Jürg Meier), Schriftsteller, Winterthur.
- Rudolf Rechsteiner, alt Nationalrat (SP, Basel), Ökonom (Dr. rer. pol.), selbständiger Berater und Dozent für Umwelt- und Energiepolitik mit Schwerpunkt erneuerbare Energien, Basel.
- David Sieber, Journalist, Chefredaktor von «Die Südostschweiz» (bis 2015), Chefredaktor «Basellandschaftliche Zeitung» (bis 2018), Chefredaktor «Schweizer Journalist» (bis 2021), Basel.
- Felix Schindler, Journalist mit Fachbereich Mobilität, Zürich.
- Billo Heinzpeter Studer, Sozialforscher und Journalist, Gründer und Präsident der Organisation fair-fish, Adria.
- Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte, Universität Zürich, Zürich.
- Jakob Weiss, war zwanzig Jahre lang in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft tätig und ist Autor des Buches «Die Schweizer Landwirtschaft stirbt leise. Lasst die Bauern wieder Bauern sein».
Den Nachruf, den sein langjähriger Freund und Weggefährte Urs P. Gasche schrieb, finden Sie hier: Adieu, lieber Hanspeter.
(fxs.)
Eine Frage zum Impfwettlauf scheint mir bis heute offen:
War die ganze Impfoffensive nicht in vielen europäischen Staaten sowieso zu spät?
Die grosse, verlustreiche zweite Welle war in den meisten dieser Staaten vorbei, bevor grössere Teile der Bevölkerung geimpft werden konnten. In der Schweiz führte die Alpha-Variante (Britische Variante) nur mehr zu einer kleinen Welle mit relativ wenigen Opfern. Auch zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht viele Menschen geimpft. Hat die Impfung die Pandemie beendet, oder ist sie zu einem Zeitpunkt gekommen, als diese sowieso am Abklingen war? Oder war es eine Mischung von beidem?
Interessanterweise waren viele Länder, welche später vom Coronavirus erfasst wurden (z.B. Neuseeland, Australien), auch mit dem Impfen spät dran.
Ohne Impfung wäre doch die jetzt entstehende Welle längst schon viel grösser als letzten Herbst, dies weil das Virus viel ansteckender wurde.
Der Text von HPG war aber unglaublich weitsichtig und unaufgeregt. Danke dafür.
Herr Forster, eine neue Virus-Variante den ungeimpften in die Schuhe schieben ist für mich schon wenig glaubhaft. Könnte es nicht so sein, dass gerade die schlechtwirkende Impfung neue Mutanten erzeugt? Ich lasse mich gerne durch glaubhafte Argumente überzeugen.