Chemie im Alltag: Die Industrie zieht am längeren Hebel
Wer glaubt, die EU würde Konsumentinnen und Konsumenten vor gesundheitsschädlichen Substanzen in Alltagsprodukten genügend schützen, täuscht sich gewaltig. Die Industrie ist zwar zur Deklaration auf ihren Produkten verpflichtet und muss der Europäischen Chemikalien Agentur (ECHA) in Helsinki, welche für die Regulierung von Chemikalien in der EU zuständig ist, die nötigen Angaben liefern, damit theoretisch eine Kontrolle möglich wäre. Doch die Industrie liefert eine Flut von häufig unvollständigen Angaben und kann so eine Prüfung jahrelang hinausziehen. Das zeigte ein recherchierter Beitrag des ARD-Magazins «PlusMinus».
Das deutsche Umweltbundesamt UBA wiederum hat nicht einmal die Kompetenz, von der Industrie die Herausgabe aller verwendeten Substanzen zu verlangen. Die Industrie ist am längeren Hebel, obwohl es um die Gesundheit der Menschen geht.
Gesetzeslücken lähmen Behörden
Das UBA ist zwar gesetzlich beauftragt, umweltgefährliche Stoffe in Deutschland zu regulieren. Aufgrund gesetzlicher Lücken weiss diese Behörde aber bis heute nicht, was alles in Alltagsprodukten enthalten ist. «Solange das UBA nicht weiss, wo gefährliche Stoffe enthalten sind, weiss es auch nicht, welche Produkte beschränkt oder verboten werden sollen», erklärte Frauke Stock vom UBA gegenüber «Plusminus». Es sei nicht einmal vorgesehen, dass das UBA solche Daten von den Herstellern erheben dürfte: «Es ist für uns tatsächlich eine Schwierigkeit, dass wir nicht wissen, was wo drin ist. Man könnte schon einmal darüber nachdenken, ob zumindest wir als Behörde solche Daten fordern dürften.»
Die leidige Geschichte des Bisphenol A
Für Gemische in Pulver- oder in flüssiger Form gilt EU-weit die Verpflichtung, gefährliche Produkte zu kennzeichnen. Doch Alltagsprodukte in anderer Form wurden jahrelang nicht als gefährlich eingestuft.
Ein Beispiel sind die meist aus Thermopapier hergestellten Kassenquittungen. Solche enthielten bis vor kurzem Bisphenol A (BPA). Der Stoff ist hormonaktiv und wird mit Entwicklungsstörungen bei Kindern, Unfruchtbarkeit und Brustkrebs in Verbindung gebracht. Das Anfassen genügt: BPA dringt durch die Fettschicht der Haut hindurch. Trotzdem dauerte das Verfahren ein Jahrzehnt, bis die Europäische Kommission 2016 seine Verwendung in Thermopapier verbot, jedoch die Verwendung mit einer grosszügigen Übergangsfrist noch bis Ende 2019 erlaubte.
EU-weit ist die Europäische Chemikalien Agentur ECHA in Helsinki für die Regulierung von Chemikalien zuständig. Grundlage für ihre Arbeit sind diverse Verordnungen. So vor allem die Chemikalien-Verordnung REACH. Oder die Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung CLP.
Allerdings können die Hersteller in Eigenverantwortung entscheiden, wie sie die Verordnung anwenden und ihre Produkte einstufen und welches Schadstoff-Logo sie verwenden (Bild links). Die Industrieunternehmen aus ganz Europa müssen ihre Einstufungen und Kennzeichnungen der ECHA lediglich mitteilen. Vor 10 Jahren galt dies als grosser Fortschritt im Verbraucherschutz, doch registriert die ECHA die REACH-Daten wie die CLP-Daten maschinell, ohne sie nach dem Eintreffen auf Vollständigkeit oder Richtigkeit zu überprüfen. «Verbraucherschutz sieht anders aus», konstatiert «Plusminus».
Tristan Jorde von der Verbraucherzentrale Hamburg meinte: «Im Rückblick auf 2007 sehen wir, dass die REACH-Verordnung ein gigantisches Verschleppungsinstrument ist.» In der Praxis habe sie sich als zahnloser Tiger entpuppt. Mehr als zehn Jahre lang seien häufig unvollständige Daten für die Katz gesammelt worden.
Als Folge davon habe man gefährliche Substanzen nicht rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen. Ein Beispiel ist Bisphenol A, von dem man schon viel länger gewusst habe, dass es schädlich ist.
Industrie verdient jahrelang an gefährlichen Substanzen
Zu den REACH-Daten, welche die Industrie häufig fehler- und lückenhaften an die ECHA liefert, meinte Gerd Romanowski, Sprecher des Deutschen Bundesverbandes der Chemischen Industrie, ein REACH-Dossier sei eben «eine extrem komplizierte Angelegenheit» und «wesentlich komplizierter als eine Steuererklärung». Bei einem komplexen Regelwerk wie der REACH-Verordnung seien Fehler unvermeidlich: «Auch bei einer Steuerklärung haben Sie nicht von vornherein die Akzeptanz des Finanzamts. Da kommen Nachfragen.» In der Realität übernimmt die ECHA die Daten aber ohne Kontrolle und ohne nachzufragen.
Michael Braungart, Chemiker und Professor der Universität Lüneburg, äusserte in «PlusMinus» die Vermutung, die Industrie würde absichtlich unvollständige Daten liefern, um eine Prüfung zu verzögern, so dass sie ihre Produkte möglichst lange verkaufen kann. «Über die Hälfte der Daten sind unvollständig», konstatierte er. Solange die Daten unvollständig sind, liefen Prüfungsprozesse, ohne dass etwas getan werden müsse. Mit dem langen Zuwarten würden wir «unsere Zukunft unser Immunsystem und unsere Zukunft zerstören». Wenn die Leute mit Erregern infiziert werden, könne ihr Immunsystem damit nicht umgehen».
Die ECHA hat bisher lediglich ein Fünftel der Datensätze stichprobenweise überprüft. Sie stellte fest, dass noch immer mehr als die Hälfte fehlerhaft ist. Die Industrie will die Datensätze bis 2027 nachliefern. Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie begründet diese extrem lange Frist damit, dass es sich um eine «extrem komplexe Aufgabe» handle. Die «Aktualisierung eines Registrierungssystems» binde mehrere Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum, meinte er.
Unabhängiger Forscher kritisiert den engen Fokus
Obwohl viele Dokumente eingesammelt würden, geschehe nur wenig damit, kritisiert Verbraucherschützer Tristan Jorde. Die Hersteller könnten so Produkte jahrelang ohne echte Kontrolle absetzen. Erst wenn gröbere Schäden auftauchten, würde alarmiert und eine Substanz eventuell verboten, erklärt Jorde. «Bis dann hat die Industrie aber bereits jahrelang daran verdient», schliesst er.
Professor Michael Braungart, früherer Leiter der Chemiesektion von Greenpeace und heutige Geschäftsführer des Umweltforschungs- und Beratungsinstitut EPEA mit Hauptsitz in Hamburg, weist auf ein weiteres Problem hin: «Meist wird nur eine einzelne Substanz verboten, nicht aber die Schwesterchemikalie. Auch wenn ‹frei von Bisphenol A› (BPA) auf der Verpackung steht, finde ich im Produkt zwei Dutzend andere Chemikalien, die ich sofort in den Blutstrom aufnehme.» Das BPA habe man zudem durch ein Bisphenol S (BPS) ersetzt, welches möglicherweise viel giftiger und gefährlicher sei.
Das Chaos bei der Regulierung und Kontrolle von Chemikalien in Alltagsprodukten wird durch Gesetzeslücken verursacht. So hat etwa das UBA in Deutschland keine Rechtsgrundlage, die erforderlichen Informationen von der Industrie einzufordern. Die Chemikalien-Agentur ECHA der EU in Helsinki vermag mit ihren 500 Mitarbeitern den festgestellten Fehlern und Mängeln bei mehr als der Hälfte der von der Industrie übermittelten REACH-Daten nicht Paroli zu bieten. Die Industrie wiederum rechtfertigt Fehler und Mängel in den übermittelten Daten lapidar unter Hinweis auf eine «extrem komplizierte Angelegenheit» und vergleicht diese unverschämt mit Steuererklärung und Finanzamt. Ausstehende Daten will sie erst bis 2027 nachliefern. Bis dann bleiben möglicherweise Stoffe im Handel, die für Mensch, Tier und Umwelt bedenklich und schädlich sind wie BPA.
STELLUNGNAHME DES BAG ZUR SITUATION IN DER SCHWEIZ
Grundsätzlich haben die Schweizer Behörden das Recht, entsprechende Auskünfte einzufordern und Herstellerinnen haben die Pflicht, diese zu erteilen. Die Rechtsgrundlage befindet sich dazu in den Artikeln Art. 42 ChemG und in Art. 81 ChemV.
Nach Artikel 48 ChemV besteht eine umfassende Meldepflicht in der Schweiz für Stoffe und Zubereitungen, für die ein Sicherheitsdatenblatt erstellt werden muss.
Unter anderem gilt die Meldepflicht auch für
- Stoffe, die besonders besorgniserregend sind und deshalb auf die Liste der besonderes besorgniserregenden Stoffe (Anhang 3 ChemV) aufgenommen wurden.
- Zubereitungen, die einen besorgniserregenden Stoff nach Anhang 3 ChemV in einer Einzelkonzentration von 0,1 Gewichtsprozent enthält.
Neue Stoffe, das sind Stoffe, die nicht im Europäischen Altstoffverzeichnis EINECS gelistet sind, sind mit einem Datensatz, der einer REACH-Registrierung entspricht, anmeldepflichtig. Jedes Anmeldedossier wird geprüft.
Die Schweizer Behörden können auch alte Stoffe überprüfen, die aufgrund der hergestellten oder in Verkehr gebrachten Mengen oder aufgrund ihrer Gefährlichkeit oder der Gefährlichkeit ihrer Folgeprodukte oder Abfälle ein besonderes Risiko für das Leben oder die Gesundheit des Menschen oder für die Umwelt darstellen (Art. 80 ChemV).
Im Bereich Chemikalien, welche in der EU unter REACH reguliert sind, besteht keine «Anbindung» der Schweiz an die ECHA. Die Meldung hat in der Schweiz durch die Herstellerin bzw. Importeurin innert drei Monaten nach dem ersten Inverkehrbringen an die Anmeldestelle Chemikalien zu erfolgen (Angaben zum Stoff oder zur Zubereitung, insbesondere zur Einstufung und zur Zusammensetzung). Die Anmeldung muss vor dem ersten Inverkehrbringen erfolgen (Daten und Unterlagen vergleichbar mit einem REACH-Registrierungsdossiers).
Diese Verfahren führt die Schweiz eigenständig durch.
Soweit wir wissen, werden die erwähnten Logos von nicht-staatlichen Stellen vergeben. Wenn dies falsche Vorstellungen über die Produkte erwecken sollte, würden die kantonalen Vollzugsbehörden (Art. 87 Abs. 2 ChemV) einschreiten. Die Regeln, was akzeptabel ist und was nicht, sind in einer Wegleitung festgelegt.
Bundesamt für Gesundheit, 27.8.2020
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Red. Wie weit und effizient das BAG mit seinen vergleichsweise beschränkten Mitteln die gesetzlich möglichen Kontrollen im Sinne des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung durchführt bzw. durchzuführen in der Lage ist, konnte Infosperber nicht recherchieren.
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Bearbeitung: Christiane Natiez / Urs P. Gasche
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ach, es menschelt halt überall, und das nicht erst seit gestern.
In Mayak kippen die Russen Abfälle aus der Uranaufbereitung arglos in offene Becken, bis sie Hopps gehen. In Bhopal fliegt ’ne schlecht gewartete Chemiefabrik in die Luft, in Kölliken buddelt man Fässer ein. Aus den Augen aus dem Sinn ist das Motto – und das möglichst schnell und billig.
Von den Engländer im Ärmelkanal auf 40m Tiefe verklappte Fässer mit Atommüll, die sind allesamt verrostet, der Inhalt verschwunden (in Norwegischem Fisch nachweisbar). Und auf den Kanalinseln haben’s ungewöhnlich viele Hirntumore. Die Bevölkerung im Englischen Windscale hat Plutionium im Zahnschmelz eingelagert, die Strände dort sind zwar idyllisch schön, aber eben ein bisschen… verseucht.
Das bisschen Antibaby-Pille im Abwasser, das nur ganz ganz ganz sparsam eingesetzte Antibiotika in der Tiermast (dafür wird dort eines der letzten Reserve-Antibiotika verheizt), und das ganze Glyphosat im Mais und im Soya und sonst überall auf den Äcker, da wird einem richtig warm ums Herz. Da sind unvollständige Datensätze noch das kleinste Übel.
Der Mensch begreift’s einfach nicht.
In diesem Zusammenhang mutet es echt heuchlerisch an, dass uns die selbsternannte Politikerelite vorgaukelt, sie müssten uns vor Covid-19 schützen. Das ist doch nur ein ganz schlechter Witz!
Herr Wieland, danke für diese Ergänzung aus der Vogelsicht. Sehr guter Artikel mit ebensolchem Kommentar