Bleiverschmutzung tötet jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen
Blei ist eine der ältesten Umweltchemikalien. Um das Jahr 100 war im Trinkwasser Roms rund 40 mal so viel Blei wie in Quellwasser. Das Schwermetall stammte aus bleihaltigen Wasserleitungen.
Später sanken die Bleiwerte, doch im frühen Mittelalter stiegen sie auf den 100-fachen Wert des natürlichen Wassers in der Umgebung an.
Seit 2000 Jahren dasselbe Gift
Heute ist das Leitungswasser in Italien kaum noch mit Blei belastet. Inzwischen hat die Menschheit dem Wasser aber eine Vielzahl anderer giftiger Chemikalien hinzugefügt. Und es gibt noch immer zahlreiche Länder, in denen das Schwermetall ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellt. Trotz «Newcomern» wie PCB und PFAS ist Blei eines der schädlichsten Gifte weltweit.
Wer Blei im Körper hat, wird es so schnell nicht mehr los. Das Schwermetall lagert sich in den Zähnen und Knochen ab und wird von dort langsam freigesetzt. 1,5 Millionen Menschen sterben laut der Weltgesundheitsorganisation WHO jährlich an Bleivergiftung. Unzählige andere bezahlen mit dem Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten.
Viele Kinder büssen schon am Anfang ihres Lebens ihr Potenzial ein
Bei Kindern genügen schon sehr geringe Mengen Blei, um die Gehirnentwicklung zu beeinträchtigen. Das Metall ist neurotoxisch und schädigt neben Leber und Niere auch das Nervensystem. Ist die Mutter mit Blei belastet, sind Kinder dem Schwermetall schon im Mutterleib ausgesetzt. Störungen der Intelligenz und geistiger Leistungen sind die Folge.
Dieser Effekt der «alten» Umweltchemikalie ist messbar. In Afrika führen Bleivergiftungen zu einer Verminderung des Bruttoinlandsprodukts um vier Prozent, in Asien reduziert sich das BIP dadurch um zwei Prozent, führt eine im Fachmagazin «The Lancet Planetary Health» veröffentlichte Studie auf, über die «Infosperber» vor zwei Jahren berichtete.
Schlauer und reicher ohne Blei
Junge Menschen in den USA hätten heute einen höheren IQ als vor 50 Jahren, stellte ein Kommentar in der «New York Times» Ende Oktober fest. Geschrieben wurde er anlässlich einer Initiative des abtretenden Präsidenten Joe Biden, die die Bleibelastung weltweit verringern will.
Diese Initiative ist überfällig, wenn man sich die Zahlen ansieht. «Ich glaube nicht, dass es in meiner Karriere ein Problem gab, bei dem sich mit so wenig Geld so viel ausrichten lässt» kommentierte Samantha Power, die Leiterin des US-Entwicklungsministeriums.
Blei im Körper, zitieren die Autor:innen, fördere auch gewalttätiges und aggressives Verhalten. Seit den 1990er-Jahren sinkende Kriminalitätszahlen in den USA könnten so mit sinkenden Bleiwerten zusammenhängen, sagen laut dem «Deutschlandfunk» auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Regulierung hilft. Und früher war mehr Lametta.
In Europa hat die frühe Regulierung von bleihaltigen Produkten wie Farben, das im Ganzen funktionierende E-Recycling sowie das Verbot von verbleitem Benzin die Bleibelastung der Bevölkerung stark reduziert.
Für Blei in Lebensmitteln gibt es Höchstwerte, in Kosmetika ist das Metall verboten. Heute wird vor allem vor Bleimunition und Bleigewichten in der Hobbyfischerei gewarnt. Schwangere und Kinder sollen daher auf Wildbret verzichten.
In älteren Anstrichen und Wasserrohren, in Feinstaub oder in Fluss- und Seesedimenten findet sich jedoch noch immer Blei. Und früher war zwar mehr (bleihaltiges) Lametta, den Christbaumschmuck gibt es aber noch immer. Genauso wie den Brauch des Bleigiessens. Eine Rolle spielen auch Importprodukte, die Blei einhalten. Insgesamt ist die Belastung der europäischen Bevölkerung aber niedrig.
Jedes dritte Kind weltweit hat zu viel Blei im Blut
Ausserhalb Europas sieht das anders aus. Das Kinderhilfswerk Unicef berichtet, dass weltweit jedes dritte Kind bedenkliche Bleikonzentrationen im Blut hat. 5 Mikrogramm pro Deziliter oder 50 Mikrogramm pro Liter Blut sind die Grenze, ab der Blei laut der Weltgesundheitsorganisation WHO die Intelligenz mindert.
Für die US-Behörde CDC (Centers for Desease Control and Prevention) sind Gegenmassnahmen ab dieser Belastung dringend nötig. Auch kleinere Mengen Blei sind schädlich. Eine für Kinder ungiftige Menge Blei gebe es nicht, sagen sowohl die EU-Behörde EFSA als auch die CDC.
In den USA erinnerte ein Bleiskandal 2016 in Flint, Michigan, daran, wie gefährlich Bleivergiftung sein kann. Mindestens 10’000 Kinder waren von bleiverschmutztem Trinkwasser betroffen. Der US-Präsident rief den Notstand aus, die Zahl der Fehlgeburten nahm innerhalb weniger Jahre sprunghaft zu. Flint war ausserdem zeitweise die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in den USA. In vielen US-Städten gibt es noch immer Bleirohre und abblätternde Bleifarben, Flint ist also kein Einzelfall.
Betroffen sind vor allem Kinder in armen Ländern
Nach Schätzungen sei bleibedingte kognitive Beeinträchtigung die Ursache für mehr als einen Fünftel des Bildungsgefälles zwischen der reichen und der armen Welt, sagt Richard Fuller, Präsident von Pure Earth. Die NGO engagiert sich seit 25 Jahren gegen Bleiverschmutzung.
Hunderte Millionen Kinder, vor allem solche aus Entwicklungsländern, bleiben hinter ihrem Potenzial zurück. Sie sind weniger intelligent und möglicherweise aggressiver und gewalttätiger, als sie sein könnten.
Ein Report von Unicef und Pure Earth legte 2020 dar, dass in Indien untersuchte Kinder so viel Blei im Blut haben, dass sie dadurch durchschnittlich vier IQ-Punkte verlieren. Eine Studie in «The Lancet Planetary Health» geht davon aus, dass 2019 bei Kindern unter fünf Jahren wegen Bleivergiftung 765 Millionen IQ-Punkte verloren gingen, 95 Prozent davon in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen.
Heikles Thema zwischen Arm und Reich
Weltweit werden laut Unicef bis zu zehn Prozent aller geistigen Behinderungen mit unklaren Ursachen auf Blei zurückgeführt. Bleivergiftung schränkt die Impulskontrolle ein, daher die Vermutung, dass Bleiverschmutzung mit Verbrechen zu tun hat. Eine Studie mit mexikanischen Kindern brachte Blei 2014 auch mit ADHS in Verbindung.
Blei und seine Auswirkungen sind deshalb ein schwieriges Thema zwischen Nord und Süd, Arm und Reich. Bleiverschmutzung kann lebenslange Schäden hervorrufen und den IQ ganzer Bevölkerungsgruppen schmälern. Diese Zusammenhänge zu thematisieren ist heikel, weil die Fakten schnell einen rassistischen Beiklang bekommen können.
Auch in den Industrieländern ist man vor Blei nicht sicher
Sicher vor Blei ist aber auch die Bevölkerung in den Industrieländern nicht. Ein Viertel aller US-Vorgärten könnte bleiverschmutzt sein, schrieb «US News» im Juni. Gelegentlich wird das giftige Schwermetall auch importiert, in Zimt oder Kurkuma zum Beispiel. Es gelangt versehentlich oder – bei Kurkuma – auch absichtlich ins Produkt.
Im November 2023 gab es in den USA einen Lebensmittelskandal wegen Blei in Apple Sauce (eine Sauce, die auf Apfelmus basiert), die mit importiertem Zimt gewürzt war. Die Quelle einer unerklärlich hohen Bleibelastung afghanischstämmiger Kinder im US-Staat Washington stellte sich als Verunreinigung aus einem speziellen Kochtopf namens Kazan heraus, den die Eltern der Kinder aus dem Heimatland importiert oder mitgebracht hatten.
Importkosmetika, Mineralerde und auch Schokolade
Die CDC warnen die US-Bevölkerung auch vor importierten Süssigkeiten, traditioneller Medizin, Spielzeug, Kosmetik und Schmuck aus dem Ausland. Blei kann Bestandteil von Hennaprodukten oder traditionellem Khol/Kajal sein. In den Industrieländern sind diese Beimischungen verboten. Sie können in Importprodukten aber dennoch vorkommen.
Auch in Produkten aus Meeresalgen, Ölsaaten, Mineralerde wie Kieselerde oder Tonerde und in ayurvedischen Produkten sei der Gehalt an giftigen Schwermetallen viel zu hoch gewesen, sagt die deutsche Verbraucherzentrale und warnt vor Käufen im Internet oder im Ausland.
Auch in Kakao und Schokolade wurde schon Blei gefunden. Gerade erst musste sich Lindt & Sprüngli wegen Cadmium und Blei in Schokolade vor einem US-Gericht verantworten, die 2022 gefunden worden waren.
E-Waste ist eine der Hauptquellen von Blei weltweit
Weltweit findet sich Blei in Farben, Wasserleitungen, verschmutztem Boden und verschmutztem Wasser, besonders in der Nähe von Industrieanlagen und Mülldeponien.
Die in vielen ärmeren Ländern wichtigste Quelle ist Elektromüll, der ohne die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zerlegt wird. Häufig stammt er aus Industrieländern, die ihren Abfall in ärmere Länder exportieren.
Die meisten Betroffenen haben keine Ahnung, dass sie sich vergiften
In vielen Ländern ist Blei in Farben noch immer nicht verboten. Das gleiche gilt für Blei in Kosmetika, Gewürzen, Pfannen und Keramikglasur. Die Regulierung müsse endlich weltweit nachziehen, fordert Unicef. Ebenso die Aufklärung über die Gefahren des Schwermetalls. Der Grossteil der Betroffenen habe keine Ahnung, welchem Risiko sie sich und ihre Kinder aussetzten.
Bleibelastung müsse weltweit überwacht werden, vor allem bei Kindern. In den USA beispielsweise werde in Schulen noch immer nicht flächendeckend auf Blei getestet, beklagte die «Washington Post» im August.
Kinder sollten sich zudem unbedingt von bleiverschmutzten Orten wie Recyclingeinrichtungen oder Mülldeponien fernhalten. Bleiverschmutzung in Wasser und Boden müsse beseitigt, E-Recycling sicher gestaltet werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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