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Betagte in Windeln für die Rendite

Helen Brügger /  Dauerstress für die Angestellten und schlechte Pflegebedingungen für die Betagten in Heimen: Wohin steuert die Langzeitpflege?

«Wir hören in letzter Zeit immer wieder Klagen über schlechte Arbeitsbedingungen», sagt Udo Michel, nationaler Branchenverantwortlicher für die Langzeitpflege in der Gewerkschaft Unia. Er verspürt vielerorts «ein riesiges Bedürfnis» nach gewerkschaftlicher Unterstützung. Für Michel ist klar: «Das ist die direkte Folge der Sparmassnahmen und der Privatisierungstendenzen in der Langzeitpflege.» Wo bisher neben öffentlichen und gemeinnützigen Heimen nur selten profitorientierte Institutionen am Werk gewesen seien, drängten letztere heute in den Markt. «Die Pflege von Betagten wird zunehmend zum Kapitalrenditeobjekt», so Michel. Doch auch bei den öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen beobachtet Michel die «Ökonomisierung der Branche», das heisst, die Ausbreitung des Marktdenkens auf Bereiche, in denen ökonomische Überlegungen in der Vergangenheit eine untergeordnete Rolle spielten.

Traumhafter Wachstumsmarkt

Da man aber, wie Udo Michel sagt, «nicht immer schneller pflegen» kann, werden offenbar andere Strategien entwickelt, um die Gewinne zu sichern. Eine Reportage in der Sonntagszeitung vom 28. September 2014 weist nach, wie gewisse Altersheime «Betagte und Behörden austricksen», indem Personalangaben manipuliert oder zu hohe Leistungen verrechnet werden; ein beliebter Trick scheint auch zu sein, mehr Betten als bewilligt zu belegen; das alles geht auf Kosten der Betagten wie auch des Personals. Im «traumhaften Wachstumsmarkt» der Altersheime, so die Berner Zeitung schon am 20. Juli 2012, könnten private Anbieter Milliardengeschäfte realisieren. Kein Wunder, steigen international agierende Ketten, die teilweise Immobilien- und Investmentgesellschaften gehören, in das Business ein.

Für Udo Michel ändert sich damit das Klima in der Branche, und zwar nicht nur bei profitorientierten, sondern auch bei gemeinnützigen Institutionen: «Ich war früher als Gewerkschaftssekretär im Baugewerbe tätig und habe den Eindruck, dass es bei Arbeitskämpfen in der Langzeitpflege ebenso hart wie auf dem Bau zugehen kann.» Für die Unia ist die Verbesserung der Pflege- und Arbeitsbedingungen im Bereich der Langzeitpflege jedenfalls «eine der wichtigsten Herausforderungen der nächsten zehn Jahre». Als Ziel des gewerkschaftlichen Engagements sieht er einen gesamtschweizerischen Gesamtarbeitsvertrag, mehr und bessere Kontrollen in den Heimen sowie eine politische Grundsatzdiskussion über die Frage, «was uns die Pflege unserer Betagten wert» sei.

Beat Ringger, Zentralsekretär der Gewerkschaft VPOD und geschäftsführender Sekretär des sozialkritischen Schweizer Thinktanks Denknetz, stimmt ihm zu. «Die Langzeitbetreuung in der Schweiz rutscht in eine gewaltige Krise hinein», sagt er. Erstens sei sie unterfinanziert und zweitens fehlstrukturiert. Das aktuelle Angebot beinhalte einerseits Hilfe für die Pflege zu Hause durch die Spitex, andererseits die Pflege in Institutionen. Das decke einen ganz wichtigen Bereich nicht ab, nämlich das wachsende Bedürfnis nach Wohnen in altersgerechten, individuellen Wohnungen, in denen Dienstleistungen wie Essen, Reinigung, Notfalldienst und medizinische Versorgung angeboten werden. «Betreutes Wohnen ist heute praktisch nur für Leute mit entsprechenden finanziellen Reserven möglich, weil der Staat keine Ergänzungsleistungen dafür bezahlt», sagt Ringger. Für ihn ist es nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern ein ökonomischer Unsinn, wenn es «direkt von der eigenen Wohnung ins Heim, direkt von der Autonomie in die totale Abhängigkeit von fremden, immer wechselnden Betreuungspersonen» geht. Viele Menschen könnten unter den Bedingungen betreuten Wohnens autonom bleiben und müssten nicht in Heimen gepflegt und etwa gar mit Beruhigungsmitteln ruhig gestellt werden, weil sie den Wechsel nicht ertragen. Ringger fordert: «Das Recht auf Ergänzungsleistungen muss auf den Bereich des betreuten Wohnens ausgeweitet werden.»

Auch Ringger sieht die «deutliche Verschiebung Richtung private Anbieter» als Problem. Zwar sei es in der Langzeitpflege vorderhand nicht so leicht, grosse Gewinne zu machen. «Das grösste Problem entsteht dann, wenn Gemeinden sparen wollen und deshalb die Heime an private Firmen übertragen, weil diese privaten Firmen tiefere Löhne bezahlen und oftmals auch weniger gut ausgebildetes Personal beschäftigen. Im Schnitt haben kommerzielle Heime in der Pflege fünfzehn Prozent tiefere Personalkosten.»

Vorbild Waadt

Im Kanton Waadt ist seit 2004 der frühere Gewerkschafter und heutige sozialdemokratische Gesundheits- und Sozialdirektor Pierre-Yves Maillard am Werk. Die zuständige VPOD-Regionalsekretärin Maria Pedrosa ist des Lobes voll über die Situation im Kanton. Natürlich stünden auch hier die Pflegenden unter Druck, und natürlich gebe es auch in Waadtländer Heimen Missstände. Doch im Kanton Waadt ist seit 2008 alles ein bisschen anders: Seither führen nämlich zehn InspektorInnen jährlich rund hundert Kontrollen in den Heimen durch, und zwar unangemeldet. So wird im Kanton Waadt jeder Betrieb durchschnittlich einmal pro Jahr kontrolliert. Das Waadtländer Modell hatte einen durchschlagendem Erfolg: 2008 wurden 24 Waadtländer Betriebe erwischt, die zu wenig Personal angestellt hatten, 2014 waren es nur noch vier Betriebe.

Kontrolliert wird nicht nur, ob, gemessen an der Anzahl der Betreuten, genügend Pflegende angestellt sind, sondern auch das Wohlbefinden der Betagten und die Anwendung von Zwangsmassnahmen. Zwangsmassnahmen? «Ja, etwa, ob Betagte angebunden werden, ob die Schranken am Bett hochgezogen bleiben, ob die Betagten früh abends ins Bett geschickt werden und im Bett essen müssen, ob sie Windeln anziehen müssen statt dass sie auf die Toilette begleitet werden und so fort», listet Pedrosa auf. Ihrer Erfahrung nach gebe es ganz selten Fälle von individuellen Misshandlungen durch eine Pflegeperson. In der Regel sei es so: «Wenn das Personal überlastet und das Arbeitsklima schlecht ist und wenn viel Personalwechsel stattfindet, dann werden mehr Zwangsmassnahmen angewandt und dann leiden die Patienten.» Und weil Missstände bei der Behandlung von PatientInnen auf Missstände bei den Arbeitsbedingungen hindeuten und umgekehrt, können auch die Gewerkschaften bei der «Heimpolizei» vorstellig werden, wenn sie von schlechten Arbeitsbedingungen oder mangelnden Personaldotierungen wissen. Pedrosa schätzt sehr, dass auf diese Weise die Gewerkschaften in die Kontrolle eingebunden sind. Damit nicht genug: Pierre-Yves Maillard hat auch Direktiven über eine obligatorische Mindestausbildung von Pflegepersonen erlassen. Und er hat Druck auf die Sozialpartner ausgeübt: Sie haben einen Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen, dem Angestellte von Regionalspitälern, subventionierten Alters- und Pflegeheimen sowie der Spitex gleichermassen unterstellt sind; Maillard hat ihn anschliessend für obligatorisch erklärt.

Das Qualitäts- und Kontrolldispositiv hat offenbar auch eine abschreckende Wirkung auf private Pflegeketten. Jedenfalls könne man im Kanton Waadt nicht sagen, dass gewinnorientierte Private massiv ins Geschäft drängten, sagt Maillard; im Kanton Waadt sind nur rund ein Viertel der Anbieter profitorientiert – im gesamtschweizerischen Durchschnitt ist es bereits ein Drittel. Private Anbieter im Waadtland seien meist kleine, familiäre oder gemeinnützige Strukturen, die der Kanton mit Subventionen unterstütze. «Wir haben im Gesetz Grenzen für die Ausschüttung von Dividenden und für die Direktorenlöhne festgelegt. Das hat private Akteure davon abgehalten, sich bei uns auf die Liste der subventionierten Anbieter setzen zu lassen. Das gilt auch für die Spitalliste.» Jeder einzelne Schritt der Reformen von Maillards Departement sei «mit Klagen bis vor Bundesgericht», so Maillard, bekämpft worden. Ohne Erfolg: «Das ganze System wurde von den Gerichten bestätigt!»
Doch nicht nur bei der Kontrolle der Lebens- und Betreuungsqualität in den Heimen und der Regelung der Arbeitsbedingungen beschreitet der Kanton neue Wege. Wenn Angehörige ihre Verwandten zu Hause pflegen, können sie sich für eine Auszeit durch professionelle Fachkräfte rund um die Uhr oder übers Wochenende entlasten lassen. Unter Maillard wird die Spitex stark subventioniert: «Das führt dazu, dass wir im Kanton rund 25 Prozent weniger Heimplätze haben als im Schweizer Durchschnitt.» Und wie sieht es im Bereich des betreuten Wohnens aus? «Wir sorgen dafür, dass sich das nicht nur Betuchte leisten können.» Das erreicht Maillard, indem der Kanton Anbieter subventioniert, die bereit sind, kontrollierte Mietzinsen für ihre Alterswohnungen einzuführen. «Das alles kostet Geld», ist sich Maillard bewusst, aber da gleichzeitig die Spitäler und Pflegeheime entlastet würden, habe man die Kosten im Griff. «Ohne starkes politisches Engagement des Kantons und eine globale und langfristige finanzielle Sicht geht es aber nicht.»

Dieser Text erschien (in einer längeren Version) erstmals in der «Wochenzeitung»


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7 Meinungen

  • am 3.04.2015 um 11:59 Uhr
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    Der Artikel ist, vor allem für ältere Menschen, sehr interessant. Mir fehlt allerdings die Vielfalt der Statements: was sagen die Organisationen der Heimleiter, der Pflegenden zu diesen Aussagen, die ja auch Vorwürfe enthalten. Gibt es andere Kantone, die soweit sind, wie der Kanton Waadt oder ist alles andere «Brachland».

  • am 3.04.2015 um 14:04 Uhr
    Permalink

    Hier geht es wieder mal nur um Arbeitsbedingungen, um Löhne, … das Kern Problem wird nicht angesprochen !

    Der Mensch selbst ist zum „Geschäfts-Objekt“ verkommen. Es hat sich nun mal etabliert, (da wir mit Gegenstände aller Art genügend eingedeckt sind), dass die „Bewirtschaftung des Menschen“ auch ein lukratives Segment sein kann.
    Siehe den Milliarden teueren Asylwesen, den ebenso teueren Sozial Irrsinn, die strapaziöse Bemühungen für die Reintegration von Renitenten und Gefangene, usw. und nun die extrem teuere Betreuung des Alters.
    Wie sieht es in 50 Jahre aus ?

    Ich für mich, … will das alles nicht !

    Wenn die Natur uns den Hinweis gibt „ es ist bald aus“ warum alles noch in die länge ziehen, zu lasten von einem selbst (wo ist da noch die Lebensqualität), und zu lasten der „anderen“ und deren Finanzen ?
    Windeln, Schläuche, gestresste, überlastete oder schlecht gelaunte (oder zu wenige) Betreuer … um am ende doch noch (mehr oder minder qualvoll), teuer zu sterben, wer will das schon ?
    Es soll endlich ein System zugelassen werden dass dem Individuum selbst überlassen wird ob er dies will oder ob ihm AKTIV geholfen werden soll sich zu verabschieden. Dies muss rechtzeitig von jedem selbst, im gesundem Zustand, schriftlich (per Gesetz genau definiert), festgelegt werden, und am ende soll dann aber auch die ERLÖSUNG gewährt werden.

    Ich weiss es sind sehr provokative Aussagen ! Da wir aber immer älter / zahlreicher auf dieser Welt werden, drängt sich diese Problematik auf.

  • am 3.04.2015 um 16:48 Uhr
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    @Bruderer: Ich hätte Verständnis für Ihre Provokationen, wenn Sie in einem armen Land leben würden. Aber Sie sind Schweizerin. Bürgerin des wohlhabendsten und reichsten Landes der Welt. Und in diesem unserem Land diskutieren wir Kosten für Betagte, Behinderte, sozial Schwache mit Argumenten wie «können wir uns nicht leisten». Da frage ich mich, wozu wir so reich sind. Offenbar nicht, um im Leben etwas davon zu haben.
    Wir Schweizer, übrigens, werden nicht immer zahlreicher, sondern haben rückläufige Geburtenraten. Ohne Immigration wäre die Schweiz wohl schon länger ausgestorben…

  • am 3.04.2015 um 20:36 Uhr
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    @ Rothenbühler

    Bitte nicht wieder Ideologische Argumente aufs Tapet bringen !
    Durch die „Wanderung“ ganzer Völkergruppen, kriegsbedingt oder auch weil es viel einfacher geworden ist, wird die Zuwanderung in die Schweiz eher zunehmen als abnehmen. Es wird nicht eine „arbeitende“, sondern eine „Private“ Einwanderung sein.

    Ich weiss diese sind unbeliebte Themen, ich weiss ich missbrauche eventuell hier den Beitrag von Helen Brügger für ein Anliegen welches nicht ganz ins Konzept passt, aber ich wünschte mir dass wir uns auch DAMIT beschäftigten.
    Das Problem bleibt bestehen, unabhängig davon ob wir ein reiches Land sind oder nicht, wir dürfen die Augen davor nicht verschliessen.
    Es gibt immer mehr Menschen die älter werden, viele davon sind schwer Krank, etliche davon in unwürdigem Zustand dahinvegetierend, unfreiwillig ans Bett gefesselt, gequält mit Infusionen, Urinsäcke, mit Schläuche durch Nase, Bauch oder Speiseröhre genährt, von schmerzen geplagt und unfähig auch nur ein Wort zu sprechen, … und die Gesellschaft nennt dies „nächsten Liebe“ … ich nenne es Folter !
    Exit und Dignitas sind, zu unrecht, in Misskredit geraten, die Menschen die eventuell freiwillig deren Dienste in Anspruch nehmen würden verunsichert und stellen sich fragen wie : Ist es legal, ist es ethisch verantwortbar, wer hilft mir … „wenn ich nicht mehr will“ … ?

    Ich sähe es gerne wenn die Bevölkerung (mit ausgedehnte Diskussionen), auch diesen Aspekt der Gesellschaft beleuchten und regeln würde.

  • am 3.04.2015 um 21:05 Uhr
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    Leider vernehme ich nur die Meinungen von zwei Gewerkschaftsvertretern nicht aber von Direktbeteiligten in der Langzeitpflege. Das würde ebenfalls interessieren. Zum Beispiel eine Antwort auf die Frage, wie mit Engpässen in der oben geschilderten Art umgegangen wird?
    Meine Erfahrungen bei Besuchen, im Meinungsaustausch mit Angehörigen von Gästen von Langzeitinstitutionen decken sich nicht mit im Artikel beschriebenen Zuständen.

  • am 4.04.2015 um 10:44 Uhr
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    Nur eine ideologisch wertfreie mathematische Frage zum Waadtländer Modell: 10 Inspektor/innen führen jährlich «rund hundert» Kontrollen durch; pro Inspektor/in also rund eine in fünf Arbeitswochen. Und was machen diese Angestellten der Sozialindustrie in der restlichen Arbeitszeit?

  • am 6.04.2015 um 19:06 Uhr
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    @ Frau Bruderer: Besten Dank für Ihre Gedanken, die ich sehr unterstütze.
    — In anderen Foren hätte das ein «gefällt mir» gegeben» :).
    @ Herr Fröhlich: Alles bis zum Schluss gelesen habe ich, weil ich Ihre Arithmetik auch anbringen wollte – ich hoffe sehr, dass diese Kontrollen nebenamtlich erfolgen!

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