Kommentar
Organspenden: Eine autoritäre Entmündigung ist keine Lösung
Red. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist in Frankfurt am Main.
Als der Chirurg und spätere Nobelpreisträger Joseph Murray vor 65 Jahren in Boston die erste erfolgreiche Nierentransplantation durchführte, umging er das Problem der Abstossung des fremden Organs, denn der Spender war der eineiige Zwillingsbruder des Empfängers. Enorme Fortschritte der Pharmakotherapie, der Immunsuppression und der Operationstechniken ermöglichen inzwischen die Transplantation nahezu aller Organe, sogar mehrerer Organe gleichzeitig. In Deutschland standen im vergangenen Jahr mehr als dreitausend Organe für eine Transplantation zur Verfügung, aber knapp zehntausend schwerkranke Menschen warten auf die Chance, mit einem transplantierten Organ weiterleben zu können.
Zur Zeit wird heftig darüber diskutiert, wie dieser Mangel behoben werden könnte. Die bisher in Deutschland [wie in der Schweiz] geltende Zustimmungsregelung sei das Problem und die Ursache für das Fehlen ausreichend vieler Organe. Im Deutschen Bundestag sind Gesetzentwürfe eingebracht worden. Dafür wurde sogar der Fraktionszwang aufgehoben. Nicht alle Tage sieht man Jens Spahn für die CDU und Karl Lauterbach für die SPD so einträchtig nebeneinander in der Bundespressekonferenz. Sie begründeten ihren gemeinsamen Gesetzentwurf, die sogenannte Widerspruchsregelung. Danach muss man einer Organentnahme nicht ausdrücklich zugestimmt haben, sondern man ist automatisch Organspender*in, es sei denn, man hat einen Widerspruch dagegen hinterlegt.
Die Widerspruchsregelung ermöglicht dem Staat einen massiven Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Die Grünen machen den etwas abgemilderten Vorschlag einer Art Registerlösung: Beim Aufsuchen des Einwohnermeldeamtes wegen des Personalausweises werden alle Bürger*innen regelmässig nach ihrer Organspendebereitschaft gefragt, die Antwort wird in einem Register gespeichert. Das Recht, sich überhaupt nicht mit dieser ganzen Problematik zu befassen, gibt es bei beiden Vorschlägen nicht mehr.
Ich halte all die geplanten Gesetzesänderungen nicht nur für beunruhigend, sondern auch für wirkungslos. In den USA gilt eine Zustimmungsregelung wie hierzulande, die Anzahl der Organspender ist aber trotzdem fast so hoch wie in Spanien, Frankreich oder Österreich mit ihren Widerspruchsregelungen.
Umgekehrt ist die Organspendebereitschaft in Schweden sogar niedriger als in Deutschland, obwohl dort eine modifizierte Widerspruchsregelung gilt. Es muss also noch ganz andere Gründe geben. Über die Organspende wird in den Krankenhäusern entschieden, vor Ort, in der Situation. Es sind die Ärzt*innen der Intensivstationen, die den Hirntod weitermelden müssen. Was hält sie davon ab? Ich habe vor über dreissig Jahren, als ich noch Stationsarzt einer chirurgischen Intensivstation war, mit dem Einverständnis der Angehörigen ein einziges Mal einen potentiellen Organspender gemeldet. In kürzester Zeit landete ein Hubschrauber vor unserem Krankenhaus und ein Team von Ärzt*innen fiel über uns her, besetzte die Station und den OP und führte in Hochgeschwindigkeit die Organentnahme durch. Schon waren sie wieder weg. Sie hinterliessen fassungslose Angehörige und entsetztes Krankenhauspersonal. Wir alle waren traumatisiert. Ich habe danach nie wieder eine solche Meldung gemacht.
Inzwischen hat sich sehr viel geändert, das Grundproblem ist aber das gleiche geblieben. Die Organspendebereitschaft in der Bevölkerung ist ausreichend. Es mangelt an der Organspendebereitschaft in den Krankenhäusern.
Was bei der Diskussion über die Organtransplantation auch immer wieder stört, ist die Ungenauigkeit, ja Unwahrheit bei der Frage des Todes. Die ARD-Tagesthemen vom 1. April eröffnete Caren Miosga mit dem Satz: «Seit sechs Jahrzehnten versteht es die Medizin schon, einzelne Organe zu übertragen von einem verstorbenen Menschen auf einen lebenden.» Das ist falsch. Organe eines Verstorbenen sind unbrauchbar für eine Transplantation. Spender*innen müssen noch am Leben sein, wenn auch am hirntoten Leben. Hirntote sind noch nicht verstorben, sondern in einem Schwebezustand, der es erlaubt, den Prozess des Sterbens mit Hilfe der Intensivmedizin eine Zeitlang aufzuhalten. Jüngst hat eine solche hirntote Patientin sogar ein Kind geboren. Es könnte der Organspendebereitschaft zuträglich sein, wenn man im Angesicht des Sterbens bei der Wahrheit bleiben würde. Autoritäre Entmündigung ist keine Lösung. Schon gar nicht in einem Land mit der Geschichte Deutschlands.
– – – – – – –
– – – – – – –
Dieser Artikel erschien in der «Frankfurter Rundschau».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Chirurg Bernd Hontschik ist u.a. Mitglied bei der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin AIM, bei MEZIS und bei der Ärzte für eine Verhütung eines Atomkriegs IPPNW, ist im Beirat der Akademie Menschenmedizin AMM und im wissenschaftlichen Beirat der Fachzeitschrift «Chirurgische Praxis». Kolumnen von Hontschik erscheinen regelmässig in der Frankfurter Rundschau.
Es fehlt mir bei der ganzen Diskussion die Berücksichtigung der fast einzigen sicheren Einsicht, dass wir alle sterben müssen. Die Immunreaktion, die bei der Transplantation mit medizinischen Tricks unterbunden werden muss, zeigt doch, dass die Natur Transplantation nicht will. Die Natur kennt auch keine Angst vor dem Tod, er ist zwingend vorgesehen und auch notwendig.
Selber möchte ich in keinem Fall eine Transplantation erleiden um dann lebenslang mit Medikamenten weiter zu vegetieren. Unsere Reparaturmentalität ist letztlich ein Irrweg. Lebensverlängernde Krebsmedikamente für 100’000.–/Monat für sechs Monte längeres Leiden. Geht es um Gesundheit oder eher um falschen Ehrgeiz der Medizin und Interessen der Pharmaindustrie?