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Im Klemmstuhl fixiert. Das Aufstehen ist unmöglich. © pb

«Nie werde ich das Schreien meiner Frau vergessen»

upg /  Trotz restriktivem Gesetz im Kanton Zürich kommt es zu Isolierhaft und Fixierungen. Die Gesundheitsdirektion bleibt passiv. 2. Teil

Das auch in der Schweiz verbreitete «Fixieren» von Patienten ist in Deutschland nur noch unter Anordnung eines Gerichts erlaubt. Entweder wird eine Fixierung beim Richter vorgängig beantragt oder die richterliche Anordnung wird nachträglich, aber «unverzüglich» beigebracht. (Siehe 1. Teil «Das Fesseln Demenzkranker ist Freiheitsberaubung»).

In der Schweiz treten 2013 neue Bestimmungen des Zivilrechts zum «Erwachsenenschutz» in Kraft. «Einschränkungen der Bewegungsfreiheit» sind dann in Pflegeheimen und Spitälern nur noch erlaubt, wenn sie

  • eine «ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritter» abwenden (eine akute Gefahr wie in Deutschland ist nicht erforderlich); oder
  • eine «schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens beseitigen». Diese zweite Bedingung lässt eine Tür für Missbrauch offen.

Im Kanton Zürich nur in Notsituationen erlaubt

In einigen Kantonen ist das Fixieren von Patientinnen und Patienten eine strafbare Freiheitsberaubung, weil es dort keine klare gesetzliche Rechtsgrundlage gibt. Anders im Kanton Zürich. Dort schränkt das kantonale Patientengesetz das Fixieren stärker ein, als es die neuen eidgenössischen Bestimmungen vorsehen. Es erlaubt «freiheitseinschränkende Zwangsmassnahmen» nur, wenn sie «in Notsituationen durchgeführt werden, um eine ernsthafte und unmittelbare Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Personen oder von Dritten abzuwenden.» Die Ärzte müssen die betroffenen Patienten (oder ihre Rechtsvertreter) informieren, dass sie innerhalb von zehn Tagen von einem Einzelrichter eine Beurteilung verlangen können.

«Niemals werde ich das Heulen und Schreien meiner Frau vergessen»

Trotz dieser Rechtslage hatte die NZZ im April den Fall einer an Alzheimer erkrankten Frau aufgedeckt, die sowohl in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) als auch im Sanatorium Kilchberg ZH und in der Privatklinik Schlössli in Oetwil am See in einem Schwedenstuhl mit Klemmbrett festgehalten und sogar mit Unterbrüchen vier Tage lang in einem Isolierzimmer eingeschlossen wurde, obwohl weder eine Notsituation vorlag noch unmittelbare Gefahr drohte. «Niemals werde ich das Heulen, Schreien, Fluchen, Schimpfen und das Getrommel der Hände meiner Frau auf dem Klemmbrett vergessen», berichtete der Ehemann.

Personalmangel vorgeschoben

Chefarzt Thomas Zetzsche und der ärztliche Direktor Martin E. Keck von der Clienia-Klinik Schlössli erklären zu den Vorwürfen des Ehemanns, eine «Arretierung im Pflegestuhl» sei notwendig gewesen «teils wegen erhöhter Sturzgefahr, teils wegen erheblicher psychomotorischer Unruhe». Eine «Notsituation» (Patientengesetz) und eine «unmittelbare Gefahr» für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Personen oder von Dritten» machten sie nicht geltend. Die Sturzgefahr sei wegen der medikamentösen Sedierung entstanden, wie der Chefarzt schreibt. Eine ständige Betreuung während 24 Stunden sei «aufgrund begrenzter personeller Ressourcen» nicht möglich gewesen. Diese Begründung lässt das Zürcher Patientengesetz als Rechtfertigung für Zwangsmassnahmen allerdings nicht zu.
Der Ehemann konnte seine Frau nicht sofort aus der Clienia-Klinik befreien. Für die durchgeführten Zwangsmassnahmen ist in der Schweiz – im Gegensatz zu Deutschland – auch keine gerichtliche Anordnung erforderlich.
Seit einigen Monaten lebt die betroffene Frau wieder zu Hause – mit einer 24-Stunden-Betreuung, jedoch ohne Medikamenten-Sedierung, ohne Fixierungen, ohne Stürze und ohne Gefährdung von Drittpersonen.
Keine Unterstützung fand der Ehemann bei der Schweizerische Alzheimervereinigung. Auch auf deren Webseite sucht man unter den Stichworten «Fixierung», «Fesselung» oder «Klemmbrett» vergeblich nach Informationen.
Gesundheitsdirektion geht auf die Beanstandungen nicht ein
Noch bedenklicher: Trotz einer detaillierten Dokumentation erhielt der Ehemann ebenso wenig Unterstützung von der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich. Diese gab zwar zu, dass sowohl die Klinik Clienia Schlössli in Oetwil als auch das Sanatorium Kilchberg AG aufgrund der Beanstandungen des Ehemanns «einige wesentliche Änderungen und Verbesserungen vorgenommen» hätten, doch um «Sorgfaltspflichtsverletzungen» habe es sich nicht gehandelt. Die Gesundheitsdirektion sehe deshalb «zurzeit keinen Handlungsbedarf». Auf die vom Ehemann im Einzelnen aufgeführten und dokumentierten Missstände ging die Aufsichtsbehörde nicht ein und liess den Ehemann damit ins Leere laufen.
Kliniken und Pflegeheime, die gegen das Patientengesetz verstossen, haben wenig zu befürchten, nämlich lediglich einen Ermahnungsbrief: «Würde die Gesundheitsdirektion Verstösse gegen das Patientinnen- und Patientengesetz feststellen, würde sie die entsprechende Klinik auffordern, den gesetzlichen Bestimmungen nachzukommen», schreibt die Gesundheitsdirektion. Der Interessenkonflikt des Kantons ist eklatant: Er besitzt oder subventioniert die Kliniken und Pflegeheime, stellt deren Regeln auf und sollte diese gleich selber kontrollieren.

«Fall ist exemplarisch»

Ulrich Erlinger, leitender Arzt der Gerontopsychiatrie des Sanatoriums Kilchberg ZH erklärte, das Hin- und Herschieben und Behandeln dieser mehrfach erkrankten Frau sei «exemplarisch, wenn auch zum Glück nicht in diesem Ausmass». Schon häufig habe er entscheiden müssen, ob eine delirierende Demenzkranke ins Pflegeheim, ins Akutspital oder in die Psychiatrie verlegt werden soll. Sein Fazit: «Niemand weiss, wohin mit den Patienten.» Denn vom Fach her seien Demenzkranke weder im Akutspital noch in der Psychiatrie am richtigen Ort.
Im Sanatorum Kilchberg kommen Zwangsmassnahmen wie Isolierzimmer oder Arretierstühle nach Angaben Erlingers «nur selten» zur Anwendung, am ehesten noch bei älteren Männern, vor denen sich das Personal fürchten müsse. «Aber», räumt er ein, «es gibt nichts Schlimmeres als ein unruhiger Patient in einer Fixierung».

In der Privatklinik Clienia Schlössli Oetwil (Eigenwerbung: «Führend in Psychiatrie») ist die Schwelle offensichtlich tiefer. Der ärztliche Direktor Martin E. Keck erklärte der NZZ, im Schlössli würden Patienten nicht nur wegen Sturzgefahr fixiert, sondern auch um andere Patienten zu schützen. Es kämen Arretierstühle und ein Isolierzimmer zum Einsatz – allerdings nur bei schwerer Eigen- oder Fremdgefährdung und so kurz wie möglich.

Fesselungen wären selten nötig

Fachleute erklären, dass mit einer Eins-zu-eins-Pflege weder Isolierzimmer noch Arretierstühle nötig wären. Persönliche Betreuung und Kontakte würden Demenz-Patienten beruhigen. Es hätten eben nicht nur gesunde, sondern auch demente, depressive oder schizophrene Patienten fairerweise ein Recht auf eine personalintensive Betreuung.
Personelle Engpässe oder Mängel dürften nicht der Grund für Freiheitseinschränkungen sein, erklärt auch Ethiker Klaus Peter Rippe: «Der Staat müsste in diesem Fall eingreifen und mehr Geld für die Demenzpflege zur Verfügung stellen.»
Christoph Hock, Co-Direktor der Klinik für Alterspsychiatrie an der PUK, kritisiert den Spardruck der öffentlichen Hand. Bei auffälligem Verhalten sei direkte fachpflegerische Betreuung besser. Fixationen würden das Verletzungsrisiko nicht verringern. Uwe Brucker, Fachspezialist beim Medizinischen Dienst der deutschen Krankenkassen, pflichtet bei: «Fixierte Menschen, die man ja wieder frei lassen muss, stürzen nachher sogar leichter.» Denn diese Menschen verlören Muskelkraft und litten unter einem gestörten Gleichgewichtssinn. Zudem nähmen Herz-Kreislaufprobleme zu, weil die Fixierung ein Stressfaktor sei. Nachts im Bett seien Fixierungen unnötig, wenn das Bett nahe an den Boden gesenkt werden kann.
Ein entwürdigender Freiheitsentzug wäre in den meisten Fällen nicht nötig, wenn genügend Personal und Mittel auch für Demenzkranke eingesetzt würden. In Deutschland wird das neuste Urteil des Bundesgerichtshofs dazu beitragen: Dort sind Fixierungen nur noch bei vorheriger oder unmittelbar anschliessender Anordnung eines Richters erlaubt.

Der Fall in der Privatklinik Schlössli in Oetwil ZH war kein Einzelfall. Lesen Sie in einem dritten Teil den erschütternden Bericht eines Sohnes, dessen demenzkranken Vater diese psychiatrische Privatklinik sogar hatte sterben lassen wollen.

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Eine Meinung zu

  • am 19.08.2012 um 15:44 Uhr
    Permalink

    Sie erwähnen : …"Fachleute erklären, dass mit einer Eins-zu-eins-Pflege weder Isolierzimmer noch Arretierstühle nötig wären…»

    Wir können schon immer alles fordern und wollen, das heisst aber auch für jeden dementen Patient ein dauerhafter bestand von 3 (Turnus a je 8 Std.), Pfleger/innen, … !

    Da die Gesellschaft immer älter wird und diese Erkrankung weiter zunehmen wird, bedeutet dies (leider), noch mehr Einwanderung, abgesehen von den Kosten.

    Daher Krankenkassen Prämien von mehr als 1000 fr. x Mt. und Person sind nicht mehr weit.

    … „Sozial Systeme wohin …“, wäre auch ein Artikel wert !

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