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Gewöhnliches Bauchweg macht die Werbung schnell zu einem zu behandelnden «Reizdarm» © zvg

Das «beste Gesundheitssystem» wird zum Lazarett

upg /  Das Schüren von Angst macht krank. Ärzte wissen das. Trotzdem malen ihre Fachgesellschaften schwarz und machen Gesunde zu Kranken.

Letztes Jahr gaben wir Schweizerinnen und Schweizer 65 Milliarden Franken für unsere Gesundheit aus. Das sind pro Einwohner 8300 Franken. Nur 2900 Franken davon zahlte die obligatorische Krankenversicherung. Falls die Gesundheits-Ausgaben im gleichen Rhythmus weiter wachsen, zahlen wir in nur 16 Jahren doppelt so viel!
Zu viele eingeredete Kranke
Viele Frauen und Männer waren oder sind krank und deshalb Ärzten und Spitälern zu recht enorm dankbar.
Doch zu viele Schweizer sind nicht krank, weil sie krank sind. Vielmehr reden ihnen Ärzte, Apotheker und Pharmamanager das ein. «Man kann viel Geld machen», kommentierte das British Medical Journal, «indem man Gesunde überzeugt, sie seien krank.» Um dieses «Patientengut» wetteifern im Gesundheitssystem die ärztlichen Fachgesellschaften, Pharmafirmen und Hersteller von Medizinalprodukten mit kühnen Schlagzeilen, welche die Medien gern verbreiten. Es geht ihnen um Anerkennung, Budgeterhöhungen und Forschungsgelder.
Im Kampf um Patienten wird das Gesundheitssystem zum Lazarett
Sie rücken ihre jeweilige Disziplin in den Vordergrund und zeichnen ein schwarzes Bild vom helvetischen Gesundheitszustand: Angeblich leiden 1,4 Millionen Schweizerinnen und Schweizer an chronischen Schmerzen, 900 000 an einem Reizdarm, 740 000 an einer Unterfunktion der Schilddrüse, 500 000 plagt die Inkontinenz, 400 000 haben eine Diabetes, 365 000 befinden sich in einer behandlungsbedürftigen Depression, 150 000 klagen über Schuppenflechte, und 70 000 haben ein offenes Bein. Die Schweiz, ein Lazarett!
Ob diese Zahlen eine Momentaufnahme sind, oder ob diese Krankheiten irgendwann während eines Jahres oder nur irgendwann während des ganzen Lebens auftreten, wird meistens nicht präzisiert. Spielt ja offensichtlich auch keine Rolle, Hauptsache die Leute bekommen Angst, suchen den Arzt auf, lassen sich checken, durchleuchten und zu «Präventiv»-Behandlungen überreden. Und Hauptsache, die Politiker erhöhen die Budgets für die entsprechenden Fachdiszipline im Gesundheitssystem.
Je mehr Kranke, desto höher der Verdienst
Das ist ganz im Sinn von Schweizer Ärzten, weil sie – im Gegensatz zu ihren Kollegen in den meisten andern Ländern – mit jeder Konsultation, jeder Arztkontrolle, jeder Diagnostik und mit jeder Therapie ihr Einkommen aufbessern können. Die Pharmafirmen mischen umso kräftiger mit, als sie für ihre Medikamente hohe Preise verlangen dürfen. Ein Beispiel: Die Kassen mussten allein für den Cholesterin-Senker Sortis 155 Millionen Franken ausgeben. 128 Millionen davon hätten sie sich sparen können, wenn die Kassen für Sortis nur so viel zahlen müssten wie in Deutschland: Für die meistverkaufte Packung mit hundert Tabletten blättern Schweizer Kassen 212.20 Franken hin, während die deutschen Krankenversicherer dafür lediglich umgerechnet 32.50 Franken zahlen müssen. Grund für die tiefe Kassen-Entschädigung in Deutschland: Sortis wirkt in keiner Weise besser als günstige Pillen der Konkurrenz.
Die Kassen dürfen sich nicht wehren
Der exorbitante Sortis-Preis in der Schweiz hat zwei Gründe: Erstens werden die Schweizer Kassen dazu verknurrt, die teuersten Medikamente zu vergüten, selbst wenn es viel günstigere der gleichen Wirkstoffgruppe gibt, die den Zweck ebenso gut erfüllen – das Gesundheitssystem lässt dies zu. Zweitens stützt sich das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf einen Vergleich der Fabrikpreise mit einigen europäischen Ländern, welcher bezüglich der Kassen-Kosten der Fiktion näher kommt als der Realität. Dagegen können die Krankenversicherer im hiesigen Gesundheitssystem nichts tun. Sie dürfen Entscheide des BAG nicht anfechten. Dieses Recht ist Pharmafirmen vorbehalten.
Lieber einen Herztod als einen Krebstod?
Derweil können sich Patienten an die Weisheit des über 80-jährigen Linguisten und Publizisten Wolf Schneider halten. Er möchte genussvoll essen und trinken, seinen Cholesterinspiegel ignorieren und seinen Darm ungespiegelt lassen, und zwar ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Im Voraus zu erfahren, wann und woran er sterben wird, wäre für ihn «eine grauenvolle Einbusse an Lebensqualität». Schneider fragt: «Wenn wir nicht der ‹Volksseuche› Herztod erliegen dürfen, sollen wir dann lieber an Krebs sterben – mit dem Risiko, dass das Sterben wahrscheinlich langwieriger, schmerzlicher und ekelhafter sein wird?» Auf seiner Todesanzeige könne stehen: «Unser Vater, Grossvater, Lehrer und Freund ist ungespiegelten Darmes, ohne PSA-Tests und ohne täglichen Hormonersatz gestorben.»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Vertritt in der Eidgenössischen Arzneimittelkommission die Interessen der Patientinnen und Patienten.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 30.01.2012 um 11:59 Uhr
    Permalink

    Recht herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Oder besser vielen, vielen Dank für alle Ihre Berichte für unser Gesundheitswesen.
    Sie sprechen vielen von uns direkt aus dem Herzen. Sie sind dazu vom Fachwissen her noch viel konkreter als wir vielen Leihen.

    Aber, wo ist die Nachhaltigkeit?
    Nützt Ihr Einsatz irgendwo auch nur im Ansatz irgendjemandem, ausser allen uns Leihen im Krankheitswesen? Zum Beispiel im echt starken Ansatz, dass Politiker in der Arena auf SF1 nicht mehr unbeantwortet so bedenkenlose Behauptungen und Argumente ins Bild rücken.
    Haben die Leser schon mal davon gehört, dass wir einen TCS, eine ACS und sogar einen VCS haben, damit genau das rund ums Auto nicht vorkommt. Wir brauchen einen TCS für das Gesunheitswesen. Besser auch noch einen ACS für die etwas mehr bessern und dann für die etwas Grüneren auch noch einen VCS. Helfen Sie uns, damit der GCS (Gesundheitsclub Schweiz ) stark wird. Dann machen Artikel wie oben beschrieben Sinn. So starke Berichte werden Nachhaltig und bringen uns tatsächlich wieder bezahlbare Krankenkassen Prämien.
    Gruss und weiter so
    Josef Rothenfluh
    GCS Präsident
    Mail: josef.rothenfluh@gesundheitsclub.ch

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