Kommentar
Buchkritik: Darwin schlägt Kant
Red. Thomas von Salis ist Facharzt für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie FMH.
Im Jahre 1993 wurde die Schweiz durch den Mord am Zollikerberg, den Fall Bruman, erschüttert, bei dem ein mehrfach vorbestrafter Sexualmörder auf dem ihm gewährten Hafturlaub eine junge Pfadfinderin tötete. Dies hatte tiefgreifende Reformen im Straf- und Massnahmenvollzug zur Folge. Dabei spielte der Psychiater Frank Urbaniok eine einflussreiche Rolle. Von 1997 bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2018 war er Leiter des Psychiatrisch Psychologischen Dienstes in der Justizdirektion Zürich. Als psychiatrischer Experte für Gewalt- und Sexualverbrechen war er in der Öffentlichkeit durch zahlreiche Auftritte mit Interviews und Diskussionsrunden im Zusammenhang mit spektakulären Tötungs- und Vergewaltigungsdelikten präsent. In den Medien wurde er schon bald als Gutachter des Bösen und Wegsperrer der Nation betitelt. Er trug entscheidend dazu bei, dass Strafmassnahmen massiv verschärft wurden.
Mit Messmethoden in die kleine Verwahrung
Diese Entwicklung, die vor allem auch dem repressiven Zeitgeist geschuldet ist, wurde allerdings aus rechtsstaatlicher Sicht immer wieder kritisiert. Es sind im Wesentlichen zwei Methoden, die im Massnahmenvollzug einen harten Kurs herbeigeführt haben. Zum einen schuf Urbaniok ein Prognoseinstrument (FOTRES), das aufgrund von über 100 Risikomerkmalen die Rückfallgefahr des Verbrechers mit Genauigkeit zu messen vorgibt und dem Richter als Grundlage für eine langdauernde Einsperrung liefert. Zum anderen ordneten die Richter aufgrund solcher ungünstigen Prognoseeinschätzung die sogenannte kleine Verwahrung an, eine auch gegen den Willen des straffälligen Patienten zwangsweise durchgeführte Psychotherapie, die oft persönlichkeitsverletzende Formen annahm. Folge dieser Neuerungen ist, dass seit Jahren viele Täter und Täterinnen nicht für ihre begangenen Taten, sondern für eine mögliche zukünftige Tat mit jahrelangem Freiheitsentzug bestraft werden, der über die Dauer der verdienten Strafe, zum Teil um ein Mehrfaches, hinausgeht.
Der langjährige Leiter der Zürcher Justizdirektion, Thomas Manhart, der diese repressive Politik jahrelang mitverantwortete, erklärte im Zuge seines Rücktritts vor wenigen Monaten, dass er eine so dominante Persönlichkeit wie Urbaniok habe frei walten und schalten lassen. In einem Anflug später Reue und Einsicht räumte er ein, dass er die übertriebene restriktive Haltung als rechtsstaatlich fragwürdig erachte (NZZ online 21.4.20 / pszeitung 22.5.2020).
Die Vernunft im Griff der Evolution
Frank Urbaniok ist aber auch schreibfreudig. In einem fast 500 Seiten starken Buch mit dem Titel «Darwin schlägt Kant» präsentiert er sein Weltbild und das Theorieverständnis, das seinem forensisch-psychiatrischen Handeln zugrunde liegt. Er stellt die These auf, dass die Vernunft, die nach differenzierter Erkenntnis der Wahrheit strebt, letztlich ganz unter der Ägide und im Griff der Evolution verbleibt, deren einzige «Absichten» das Überleben und die Reproduktion sind. Die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre fatalen Folgen – so der Untertitel des Buches – resultieren also aus den Hemmnissen respektive den «Stossdämpfern» der Evolution und dem diesen innewohnenden egoistischen Trieb der Selbstbehauptung im Darwin’schen Sinne. Die menschliche Psyche spannt sich auf zwischen den beiden Polen Wille zur Macht und Kooperation.
Dieses Konzept ist zweifellos nicht uninteressant und wäre es wert, an Phänomenen der Natur und Gesellschaft wissenschaftlich überprüft zu werden, indem die evolutionären Schwachstellen in allen Bereichen der Gesellschaft – wie Theorien, Ideologien, Glauben, Unternehmen, Medien etc. etc. – aufgezeigt werden.
Interessant ist auch Urbanioks RSG-Modell (R = Registrieren, S = Subjektivieren, G = Generalisieren). Dieses besagt, dass der Mensch die Dinge gemäss seiner Erkenntnismöglichkeit wahrnimmt, nach seiner subjektiven Wertung verarbeitet und daraus zu einer Wahrheit von allgemeiner Gültigkeit generalisiert.
Rundumschlag gegen Psychoanalyse, Marxismus, Bürokratie und Ausländer
Die Lektüre des Opus Magnum des «Starpsychiaters » vermittelt aber den Eindruck, dass er seine These missbraucht, um seine eigenen Antipathien, Ressentiments und Vorurteile breit abzuhandeln. Im Visier hat er insbesondere die Psychoanalyse, den Marxismus, die Frankfurter Schule. Er verurteilt beispielsweise apodiktisch die Autoren Horkheimer und Adorno und verneint den Gehalt ihrer Aussagen. «Viel heisse Luft, viel Theaterdonner, aber wenig Substanz», so Urbaniok. Diese saloppe Umgangsform mit seinen Intimfeinden und sein diskutabler Argumentationsstil haben ihm eine beissende Kritik des NZZ-Rezensenten Urs Hafner eingebracht, der dem Werk «viele abstruse Ideen», «Jonglieren mit Halbwahrheiten» und «Attitüde des grossen Welterklärers» attestiert (NZZ Online 06.05.2020).
Von Urbanioks Rundumschlag kriegen beispielsweise auch die Bürokratie mit ihrer «übertriebenen Regelungsdichte» und die Medien mit ihren «Tabuisierungen und ihrer weichen Selbstzensur» ihr Fett ab. Allen Gegnern wirft er Kompetenzüberschätzung und übertriebenes Kontroll- und Ordnungsbedürfnis vor und verkennt dabei seinen eigenen blinden Fleck angesichts des von ihm ausgiebig praktizierten Eingreifens in die juristisch-normative Zuständigkeit und des von ihm erfolgreich etablierten Bürokratieungetüms FOTRES in der forensischen Psychiatrie.
Je nach Neigung des Lesers wird Urbaniok auf Zustimmung oder Ablehnung stossen. Ist dieser naiv wie Felix Krull in Thomas Manns Roman, wird er dem Professor – im Roman heisst er Kuckuck – fasziniert zuhören und folgen. Der Applaus ist ihm auch von denen sicher, denen Urbanioks vehement vertretene Behauptung gefällt, dass Ausländer vermehrt aus kriminellem Holz geschnitzt seien, wobei er sich auf Statistiken beruft. Das Urteil von Fachkollegen dürfte von deren medizin-ethischen Haltung abhängen.
Verleiten zu ethisch fragwürdigen Methoden
Und hierzu ist zu bedenken, dass Urbaniok mit seinem biologistischen und statistischen Konzept der forensischen Psychiatrie zu Methoden verleiten könnte, die auf eine ethisch schiefe Bahn geraten. Denn im Gegensatz zu psychoanalytisch orientierten Ärzten und Psychologen befürworten die an biologischen und Messmethoden ausgerichteten Fachleute beispielsweise den Ausschluss von Patienten von einer möglicherweise wirksamen Behandlung, damit sie als Kontrollgruppe für Forschungszwecke zur Verfügung stehen. Sie widersetzen sich auch nicht den inhumanen Massnahmen zur Förderung der Volksgesundheit, etwa auch die bis im Jahre 1981 praktizierte Versenkung von Verwahrlosten wegen liederlichem Lebenswandel in Anstalten ohne rechtliches Verfahren und Rekursmöglichkeiten, Sterilisationen von Frauen nach unehelicher Geburt, und Experimenten, bis zur massenhaften missbräuchlichen Praxis des nationalsozialistischen Regimes im letzten Jahrhundert. Aufsehen erregt hat in der Schweiz kürzlich der Fall des zwar analytisch gebildeten Psychiaters Professor Roland Kuhn, der in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren mit unermüdlichem Eifer fragwürdige Medikamentenversuche an Patienten mit erheblichen schädigenden Auswirkungen durchgeführt hat, die kürzlich in einer Buchpublikation in ihrem Ausmass aufgedeckt wurden. (Marietta Meier, Mario König, Magaly Tornay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980, Verlag Chronos 2019)
Es ist damit zu rechnen, dass die heute im Geist von Urbaniok praktizierten Methoden des Massnahmenvollzuges ebenfalls einmal in früherer oder späterer Zukunft gründlicher beleuchtet werden könnten. Die Zunft der Historiker wird in der Zukunft gefordert sein.
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Frank Urbaniok: «Darwin schlägt Kant – Über die Schwäche der menschlichen Vernunft», Orell Füssli, 2020, 480 Seiten, 35 CHF. Aus der Verlagsmitteilung: Der primär evolutionäre Zweck der Vernunft, nämlich die Überlebensfähigkeit der menschlichen Art zu steigern, wird oft zu wenig beachtet. Ihr Potenzial hingegen wird überschätzt
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Facharzt für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie FMH.
Der Autor bezeichnet Sexualverbrecher und -mörder als «straffällige Patienten» und findet, mit ihnen «zwangsweise durchgeführte Psychotherapien» hätten «oft persönlichkeitsverletzende Formen» angenommen. Mir kommen die Tränen ob soviel Empathie für Verbrecher, die Frauen bestialisch umgebracht und unsägliches Leid über deren Familien gebracht haben. Kein Wunder, hat das Volk den Eindruck, die Gerichts-Psychiater würden nicht nur die Gefährlichkeit von Triebtätern unterschätzen, sondern seien mit ihren nachweislich oft falschen Prognosen für die bedauernswerten Opfer von Wiederholungstätern – wir hatten in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren mannigfache Beispiele – mitverantwortlich.
Es war und ist Herr Urbaniok nie suspekt, wie er als einzelner so viel Einfluss im Justizsystem haben kann. In seiner teutonischen Selbstüberschätzung kam es ihm nie in den Sinn, dass er missbraucht werden könnte.
Nun kann man in der Schweiz im Strafvollzug Sachen anordnen, die kein aufrechter Eidgenosse persönlich verantworten möchte. Muss auch keiner mehr, kann sich doch jetzt jeder bequem auf FOTRES abstützen und dadurch die Verantwortung für sein Handeln an Herr Urbaniok delegieren.
Irgendwann wird es auch Herrn Urbaniok dämmern, dass nicht er den Schweizer den Meister gezeigt hat, sondern dass er von den konservativen Kräften vor den Karren gespannt wurde.
ob es herrn urbaniok je dämmern wird, ist dann noch die frage! jedenfalls grossen dank an thomas von salis für seinen text!
Darwin schlägt Kant, ist ein reisserischer Buchtitel.
Die meisten Menschen haben selbst wenig von den Werken von Darwin und Kant gelesen und noch weniger zutreffend verstanden. Meist ist es nicht mal gute Sekundärliteratur, auf denen die blossen Meinungen ohne eigene Urteilskraft die Aufklärung basiert.
Wenn der Umgang mit Extremfällen verallgemeinert wird, weiss der Erkenntnisreiche wes Kindeskind ein Texter ist.
Nebenbei, wer die aufklärerischen Texte von Kant verstehen will muss die drei Bücher,
– Kritik der ‹reinen› Vernunft,
– Kritik der ‹praktischen› Vernunft
– Kritik der Urteilskraft
im Zusammenhang lesen. Ein komplexes System von vielfachen Zusammenhängen zutreffend zu beschreiben geht nicht einfach linear. Offenbar wurde von dem ehrenwerten Frank Urbaniok nur die ‹Kritik der reinen Vernunft› gelesen.
"Kritik» hatte zur Zeit von Kant noch die Hauptbedeutung «Untersuchung».
In Kritik der Urteilkraft geht es im zweiten Teil um die ‹Teleologie,
dem bewussten zweckgerichten Handeln von Menschen.
In der Evolution wird kein Zweck vorgegeben. Chemische Moleküle bis zu Makromolekülen und Genen kombinieren sich immer wieder neu. Was überlebt, überlebt nur vorläufig, bis sich die Mitwelt verändert und es ausselektiert wird.
Wer möchte von einem Richter, bloss nach dessen ‹freier Meinung› beurteilt werden oder doch nach den vernünftigen Regeln und Methoden eines demokratischen Rechtsstaates ?