Annemarie Reimann.ard

Annemarie Reimann, Mutter eines schwerbehinderten Sohnes: «Über 400 Verdachtsfälle sind doch keine Einzelfälle» © ard

Lebenslange Gehirnschäden wegen Wehenmittel

Ursula Trümpy /  Cytotec ist in der Geburtshilfe nicht zugelassen, wird aber eingesetzt. Nun prozessieren Frauen – wegen schwerer Folgen.

Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn (BfArM) stapeln sich Hunderte von Verdachtsmeldungen. Und nach dem jüngsten Bericht im «Report München» der ARD im Mai dürften sich die Klagen noch mehren: Über 100 Frauen haben sich bereits zusammengeschlossen, um rechtlich vorzugehen: Cytotec Stories, so der Name der Vereinigung, will wissen, ob das Medikament Cytotec Komplikationen bei der Geburt und teilweise massive, im schlimmsten Fall sogar letale Schädigungen bei Neugeborenen verursacht hat. Und ob ihre erlittenen Schäden juristisch einklagbar sind.

Über die Recherchen des «Report München» haben grosse Schweizer Medien bisher nicht informiert.

Schwere Schäden durch Fehlindikation?

Seit über einem Jahr wird der Einsatz des Medikaments Cytotec kontrovers diskutiert – denn der beschränkt sich nicht allein auf seine offizielle Bestimmung als Magenschutzmittel: Der enthaltene Wirkstoff Misoprostol dient zwar der Behandlung von Zwölffingerdarm- oder Magengeschwüren, aber er eignet sich ebenso zur Einleitung von Wehen und wird deshalb auch in der Geburtshilfe standardmässig eingesetzt. Nur: Zum Zweck der Geburtseinleitung ist das Medikament weder in der Schweiz noch in Deutschland zugelassen. Ärztinnen und Ärzte verwenden es im Rahmen der Therapiefreiheit nach eigenem Ermessen, also im Off-Label-Use. 

Frauen, die das Medikament verabreicht bekamen, berichten von verheerenden, traumatisierenden Folgen: von Kindern, die einen Sauerstoffmangel erlitten und mit irreparablen Hirnschädigungen zur Welt kamen – so geschehen bei der Initiantin der Vereinigung Cytotec Stories; ihr Sohn, inzwischen neunjährig, ist geistig beeinträchtigt, wohl lebenslang auf Hilfe angewiesen.

Und es scheint kein Einzelfall zu sein, wie die Aktenlage beim BfArM zeigt. 

Deutlich formulierte Risikowarnungen

In einem sogenannten Rote-Hand-Brief warnt das BfArM seit März 2020 vor der Gabe des Medikaments in der Geburtshilfe und erklärt: «Für die Anwendung von Cytotec bei der Geburtseinleitung liegen keine ausreichenden Daten zur Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor.» 

Damit steht die deutsche Behörde nicht allein. Auch die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel FDA warnt in ihrer Information für Patienten und Anbieter schon seit Jahren vor Risiken: «Wenn Misoprostol während der Wehen und der Entbindung verwendet wird, können schwerwiegende Nebenwirkungen auftreten, einschliesslich eines Uterusrisses. Ein Uterusriss kann zu schweren Blutungen, zur Entfernung der Gebärmutter (Hysterektomie) und zum Tod der Mutter oder des Babys führen.» 

Und selbst der Hersteller, der Pharmakonzern Pfizer, warnt auf der Verpackungsbeilage: «Cytotec can cause abortion (sometimes incomplete which could lead to dangerous bleeding and require hospitalization and surgery), premature birth, or birth defects.»

Ein Fall für das Bundesgericht?

Angesichts der heiklen Faktenlage stellt sich also die Frage, ob Kliniken unsachgemäss und grobfahrlässig handeln, wenn sie Cytotec im Off-Label-Use bei der Geburtshilfe verabreichen – mitunter in zu hoher, von Hand zerteilter Dosis.

Die betroffenen Frauen in Deutschland jedenfalls wehren sich – wie schon Leidensgenossinnen in Frankreich – und ziehen vor Gericht. 

Der Berliner Anwalt Andreas Lambrecht betreut über 100 Fälle; er hat ein Rechtsgutachten erstellen lassen, das sich auf die Warnung des Herstellers stützt. «Wenn ein Hersteller ein Medikament und seinen Einsatz verbietet, also davor warnt, dieses Medikament in der Geburtshilfe einzusetzen, und eine Ärztin oder ein Arzt es trotzdem tut, macht es das auf eigenes Risiko, dann ist das erst einmal die Vermutung eines groben Behandlungsfehlers», lässt sich Gutachter Hans-Peter Schwintowski im ARD-Beitrag zitieren.

Berufung auf die Studienlage – auch in der Schweiz

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hält sich zu den jüngsten Vorwürfen bedeckt, wie man dem ARD-Bericht entnimmt. Und Wolfgang Henrich, der Direktor der Geburtsklinik in der Charité, beschwichtigt: Es existiere eine ausreichende Zahl an Studien zum Thema, die den Einsatz des Medikaments rechtfertigten – sofern es richtig dosiert werde.

Eine ähnliche Tonlage stimmt man auch in der Schweiz an. In einem Expertenbrief argumentiert die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG), der Wirkstoff Misoprostol werde «aufgrund der guten Evidenz aus Studien» seit Jahren zur Geburtseinleitung verwendet. Die Autoren räumen jedoch ein, dass die Off-Label-Anwendung eine «korrekte Indikationsstellung, eine Aufklärungspflicht über den off-label use und die Alternativen und eine engmaschige stationäre Überwachung von Mutter und Kind» erfordere. Das ist insofern relevant, als das Medikament Cytotec auch in der Schweiz zur Geburtseinleitung verwendet wird, ohne dass es dafür offiziell zugelassen wäre.

Inzwischen gilt für Cytotec in Deutschland – wie auch in Frankreich – ein Vertriebsstopp, nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sich persönlich dafür starkgemacht hat. Bereits importierte Ware darf allerdings noch verkauft werden – und der Aktenberg beim BfArM harrt der Aufarbeitung.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

_________________
NACHTRAG

Am 18. Juni erreichte uns folgende Stellungnahme des Wiener Arztes Christian Fiala, der seit dreissig Jahren Misoprostol für Geburtseinleitungen verwendet und zu diesem Arzneimittel sogar eine Doktorarbeit geschrieben hatte:

Die Aussage «Cytotec ist in der Geburtshilfe nicht zugelassen, wird aber eingesetzt“ ist richtig. Die Erklärung ist aber einfach: Misoprostol ist das ideale Prostaglandin für die Geburtshilfe. Es ist allerdings so billig und hat keinen Patentschutz mehr, dass keine Firma eine Zulassung beantragen wird. Das wäre einfach zu teuer. In der Geburtshilfe (und der Kinderheilkunde) gibt es viele Medikamente ohne Zulassung, weil es fast unmöglich ist, die für eine Zulassung notwendigen Studien durchzuführen. Zu diesem Aspekt habe ich mit einem Kollegen eine Publikation veröffentlicht.
Richtig ist auch die Aussage «Inzwischen gilt für Cytotec in Deutschland – wie auch in Frankreich – ein Vertriebsstopp, nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sich persönlich dafür starkgemacht hat. Bereits importierte Ware darf allerdings noch verkauft werden – und der Aktenberg beim BfArM harrt der Aufarbeitung.“ Aber der Hintergrund ist ein anderer als oben beschrieben: Cytotec ist zu billig. Deshalb wird es vom Markt genommen und durch teurere Medikamente ersetzt, die den gleichen Wirkstoff enthalten.So gibt es z.B. Topogyne oder MisoOne, welches 20-mal teurer ist. Und für die Geburtseinleitung das Misoprostol Präparat Angusta.

Misoprostol hat zahlreiche wichtige Indikationen in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Deshalb wurde es von der WHO auch in die Liste der wichtigsten Medikamente für verschiedene Situationen aufgenommen. Konsequenterweise habe ich dieses wichtige Präparat in den letzten 30 Jahren auch nicht nur zur Geburtseinleitung eingesetzt, sondern in verschiedenen Situationen. Und ja, es kann damit auch Probleme geben, aber nur wenn man es zu hoch dosiert. Das ist aber kein Argument für eine Gefährlichkeit des Medikamentes, sondern zeigt lediglich, wie wichtig eine korrekte Anwendung ist.

Dr. Christian Fiala, Gynmed Ambulatorium für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung, 1150 Wien.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.