Junge Frau mit Gesichtsmaske

Die Schätzung ging unter anderem davon aus, dass Long Covid nie bessern kann. © Andrew Lozovyi / Depositphotos

Medien verbreiteten ungültige Zahlen zu Long Covid

Martina Frei /  Angeblich sollen 65 Millionen Menschen weltweit an Long Covid leiden. Wie diese Schätzung zustande kam, wurde nicht hinterfragt.

«Mindestens 65 Millionen Menschen weltweit leiden nach einer Corona-Erkrankung an Long Covid, also an Langzeitfolgen», berichtete der «Tages-Anzeiger» im Januar 2024.

Die «Frankfurter Rundschau» im Januar 2024: «Weltweit wird die Zahl auf 65 Millionen Long-Covid-Betroffene geschätzt.»

Die «Wiener Zeitung» im Februar 2024: «Weltweit, so eine aktuelle Schätzung, dürften mindestens 65 Millionen Menschen an Long Covid leiden, und täglich werden es mehr.»

Das ZDF im März 2023: «Rund 65 Millionen Menschen weltweit kämpfen mit Long Covid, hat eine Studie in der Fachzeitschrift ‹Nature Reviews Microbiology› herausgefunden.»

«20 Minuten» im März 2023: Inzwischen leiden «weltweit ungefähr 65 Millionen Menschen unter Corona-Spätfolgen.»

Die ARDTagesschau im Januar 2023: «65 Millionen leiden an Long Covid.»

Die Liste der Medien, die von 65 Millionen Long-Covid-Betroffenen weltweit berichteten, liesse sich fast beliebig fortsetzen. Einer der Autoren des «Nature Review Microbiology»-Artikels, der «von mindestens 65 Millionen» Long Covid-Betroffenen schrieb, ist Eric Topol, ein weltweit bekannter Kardiologe und Molekularmediziner am Scripps Forschungsinstitut in Kalifornien.

Selbst Fachmedien kolportierten die Zahl ohne zu hinterfragen

Auch Fachmedien griffen die Zahl breit auf: «Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 65 Millionen Menschen weltweit länger anhaltende Symptome der SARS-CoV-2-Infektion haben, die als Long COVID oder Post-COVID-Syndrom (PCS) bezeichnet werden», erfuhr zum Beispiel die Leserschaft des «Deutschen Ärzteblatts» im März 2023.

«The Lancet» schrieb im März 2023: «Schätzungsweise mindestens 65 Millionen Menschen kämpfen mit Long Covid». 

«The Lancet Infectious Diseases» informierte im April 2023: «Die jüngste Schätzung, wie viele Menschen weltweit mit Post-Covid-19 (auch als Long Covid bekannt) leben, hat 65 Millionen überschritten.»

«Wissenschaftlich ungültig»

Doch kürzlich, im März 2024, druckte «The Lancet» einen kleinen Leserbrief von drei australischen Wissenschaftlern ab: Die Schätzung von 65 Millionen im «Nature Review Microbiology»-Artikel sei «falsch» und «wissenschaftlich ungültig», schreiben sie und begründen dies.

«Um zu dieser Zahl [von 65 Millionen] zu gelangen, haben die Autoren vorgeblich eine Schätzung […] 90-150 Tage nach der SARS-CoV-2-Infektion aus einer einzigen Prä-Omikron-Studie in den Niederlanden mit weitgehend ungeimpften Erwachsenen übernommen und diese Schätzung dann auf die Gesamtzahl der bisher weltweit gemeldeten Covid-19-Fälle angewandt. Diese Methode ist ungültig.» 

Die Schätzung gehe erstens davon aus, dass sich Long Covid nie bessere. Zweitens seien Studien ignoriert worden, die einen Zusammenhang zwischen Covid-Impfung und 50 Prozent weniger Long Covid nahelegten. Drittens «wurden die Unterschiede zwischen den einzelnen Sars-CoV-2-Varianten nicht berücksichtigt, obwohl es Belege dafür gibt, dass das Auftreten von Long Covid-Fällen bei Infektionen mit der Omicron-Variante (B.1.1.529) um bis zu 75 Prozent geringer ist als bei Infektionen mit der Delta-Variante.» Alle drei Punkte reduzieren die Anzahl an Long Covid-Erkrankungen. 

Es brauche qualitativ hochstehende Forschung zu Long Covid, sind die drei Leserbriefschreiber überzeugt. Wissenschaftlich ungültige Schätzungen weiter zu kolportieren, untergrabe dieses Vorhaben jedoch.

Über diesen Leserbrief der drei australischen Wissenschaftler berichteten die Medien nicht.

Infosperber bat Professor Eric Topol um eine Stellungnahme zur Kritik. An seiner Stelle antwortete Lisa McCorkell, Ko-Autorin des Artikels und Mitbegründerin einer Vereinigung von forschenden Long Covid-Betroffenen. Sie verwies auf diverse Studien, die zu noch viel höheren Schätzungen gekommen seien als 65 Millionen. Ausserdem, so Lisa Mc Corkell, biete die Covid-Impfung nur «minimalen Schutz vor Long Covid». Auf die konkreten Vorwürfe der australischen Wissenschaftler, eine wissenschaftlich ungültige Methode angewandt zu haben, ging sie nicht ein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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8 Meinungen

  • am 15.05.2024 um 10:12 Uhr
    Permalink

    Hauptsache, die Zahl «65 Millionen» ist in den Köpfen; der Zug der Aufklärung, des wie und warum ist hiermit abgefahren. Wer ein bißchen nachdenkt, könnte sich ja fragen wie hoch die Zahl der Spät- und Langzeitfolgen für alle möglichen anderen Krankheiten ist: Schlaganfälle, Herzerkrankungen, Unfälle, Diabetes usw. Viele schwere Erkältungskrankheiten hinterlassen Spät- und Langzeitfolgen, dazu kommen noch unzählige postvirale Folgen samt Rückfällen und Sekundärerkrankungen wegen der starken Schwächung des Immunssystems. Übrigens könnte man die Long-Covid-Angstmache ja auch umdrehen: Milliarden Menschen haben symptomlos oder mit leichten Symptomen eine Covid-Infektion überstanden.

  • am 15.05.2024 um 11:43 Uhr
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    Zitat:
    «Mitbegründerin einer Vereinigung von forschenden Long Covid-Betroffenen.»

    Sind das tatsächlich Forschende, die selbst von «Long-Covid» betroffen sind?

  • am 15.05.2024 um 13:24 Uhr
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    Wieviele dieser «Long Covid» Fälle sind geimpft? Die Symptome von Long Covid und Post Vax sind identisch. Immerhin, die Impfung schützt vor Long Covid… oder eben halt nicht.

  • am 15.05.2024 um 13:34 Uhr
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    McCorkell, Ko-Autorin des Artikels und Mitbegründerin einer Vereinigung von forschenden Long Covid-Betroffenen: Covid-Impfung biete nur «minimalen Schutz vor Long Covid». Oder löst es aus, frage ich.
    bluewin.ch (11.5.2024) titelt: Long-Covid-Betroffene klagen vor Gericht gegen die IV
    Schwere Verlaufsform von Long Covid ist das Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS [WHO anerkannt seit 1969], eine schwere neuroimmunologische Erkrankung. Betroffene leiden oft unter ausgeprägter körperlicher Schwäche, grippalen Symptomen, Muskelschmerzen, (…). Auch Herzrasen, Schwindel, Benommenheit [Brainfog], Blutdruckschwankungen können auftreten. Viele Betroffene können dadurch nicht mehr für längere Zeit stehen oder sitzen. (…) Die meisten Patienten würden als Simulanten oder als psychisch krank angesehen, kritisiert die Fachfrau. Wissenschaftlicher Konsens sei aber, dass es sich bei Long Covid um eine körperlich Krankheit handle.
    ME/CFS Ein Albtraum für die Betroffenen | Reportage | SRF Dok (Youtube)

  • am 15.05.2024 um 18:10 Uhr
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    Interessant wäre auch zu wissen, wieviele der LC Patienten mindestens eine (mRNA) Impfung machen liessen. Grundsätzlich wäre es nicht so schwer die zu eruieren, da aber nie eine Zahl gemeldet wurde, steigert dies mein Vertrauen in die offizielle Covid Kommunikation nicht merklich.

  • am 16.05.2024 um 00:16 Uhr
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    Die drei Briefschreiber haben aber den wichtigsten Punkt völlig vergessen: Long Covid ist von einer schlimmen Nebenwirkung der Covid-Impfung, dem sog. Post Vaccine Syndrome nicht klar und eindeutig zu unterscheiden. Wie viele «Long Covid»-Fälle also in Tat und Wahrheit Post Vac-Fälle sind, weiss kein Mensch. Aus diesem Grund ist jede «Studie», die behauptet, eine verlässliche Zahl der Long Covid-Fälle angeben zu können, nichts anderes als wissenschaftlicher Schrott.

    • am 16.05.2024 um 16:32 Uhr
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      @Sauser. Doch,ich denke es könnte einen Hinweis sein. Wenn in der CH mehr als 70% der LC Fälle mindestens 1x geimpft wurden, könnte man davon ausgehen, dass die Impfung keinen nennenswerten Schutz vor LC bietet. Ich bin aber mit ihnen einig,dass LC und Post Vacc sehr ähnlich sind und dass beide eine anständige Medikation verdienen.

  • am 16.05.2024 um 18:24 Uhr
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    Der österreichische Red-Bull-Sender Servus TV hat gestern einen zweistündigen Zweiteiler «WHO – Auf der Suche nach der Wahrheit» ausgestrahlt. Darin geht es um viele Aspekte, die hier jeweils auch von Frau Frei angesprochen werden. Und insbesondere auch um die zukünftigen Strategien der WHO, die wirklich besorgniserregend sind, wenn auch nur ein Teil der gemachten Aussagen zutreffen.

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