RSV-Impfung «St. Galler Tagblatt»

Ganzseitig rührte das «St. Galler Tagblatt» am 1. Oktober 2024 die Werbetrommel für die neue Impfung. © «St. Galler Tagblatt»

Mediale Werbeaktion für «Säuglingsspritze» gegen RSV

Pietro Vernazza /  Als gäbe es keine Alternative, warb das «St. Galler Tagblatt» für eine neue Impfung. Einen wichtigen Faktor ignorierte es komplett.

Red. Professor Pietro Vernazza war bis Sommer 2021 Chefarzt der Infektiologie/Spitalhygiene am Kantonsspital St.Gallen. Ein Gastbeitrag.


Diese Woche haben die Medien wieder einmal tüchtig die Werbetrommel gerührt: Es geht um eine neue Spritze, mit der wir ab diesem Winter das Risiko eines «gefährlichen Virus» mit einer Spritze verhindern sollen. CH-Media berichtete gross darüber.

Das «respiratory syncitial virus» (RSV) ist seit Jahrzehnten bekannt als Verursacher einer Atemwegsinfektion, die vor allem bei Säuglingen schwer verlaufen kann. Bei jungen Säuglingen, insbesondere in den ersten drei Monaten, kann eine Lungeninfektion aufgrund der noch sehr kleinen Atemwege rasch zu einem komplizierten Verlauf führen und ist gemäss dem Bundesamt für Gesundheit die häufigste Ursache für eine Spitaleinweisung bei Neugeborenen in den Wintermonaten. Die Infektion kann – etwa gleich häufig wie Influenza – auch bei älteren Menschen zu schweren und tödlichen Verläufen führen (siehe hier). Es gibt also gute Gründe, eine Vorbeugung dieser Erkrankung zu fördern. 

Antikörper gegen RSV

Eine neu in der Schweiz zugelassene, einmalig nach der Geburt oder während der Risikomonate verabreichte Injektion mit einer Antikörperspritze (Nirsevimab, Beyfortus®) soll den Säugling in den ersten Monaten vor einer solchen bei gesunden Kindern praktisch nie tödlich verlaufenden Infektion schützen. Die Behandlung wurde in insgesamt drei Studien bei 11’000 Säuglingen mit unterschiedlichem Risikoprofil geprüft (veröffentlicht 2023 in «Jama Networks Open»). Insgesamt konnte die Behandlung 75 Prozent der Infektionen und ebenso viele Hospitalisationen verhindern. Die Behandlung scheint sicher zu sein. 

75 Prozent Wirkung – relativ!

Von Pharmafirmen (und neuerdings auch unkritischen Medien) sind wir uns gewohnt, dass diese uns die eindrückliche relative Wirkung einer Massnahme vorrechnen. Insofern ist eine Risikoreduktion von 75 Prozent eindrücklich. Doch wer sich auskennt, weiss, dass wir bei einer Intervention immer das absolute Risiko betrachten müssen. Denn die wenigsten Kinder, die eine Spritze erhalten, werden auch an RSV erkranken. 

Daher müssen wir auch die absolute Risikoreduktion berücksichtigen. Dazu greifen wir zurück auf die publizierten Zahlen: In der grössten Untersuchung, die auch Kinder mit «normalem» Erkrankungsrisiko einbezogen hat, wurden circa 4000 Kinder behandelt, und gleich viele erhielten Placebo.

Eines von 80 Kindern hat einen Nutzen

Hospitalisiert wurden in der Placebo-Gruppe 1,5 Prozent der Kinder und in der Nirsevimab-Gruppe 0,3 Prozent. Das heisst, durch die Behandlung kann bei 1,2 Prozent (1,5 minus 0,3) der Kinder eine Hospitalisation verhindert werden. Das ist die absolute Risikoreduktion.

Aus dieser Zahl können wir berechnen, wie viele Kinder wir behandeln müssen, um eine Hospitalisation zu verhindern: 100 Prozent geteilt durch 1,2 Prozent ergibt die Zahl von rund 80 Behandlungen, um eine Hospitalisation zu verhindern, die sogenannte «Number needed to vaccinate» (NNV). Das bedeutet auch, dass 80 Kinder das Risiko einer Nebenwirkung haben, aber nur bei einem Kind eine Hospitalisation verhindert wird. 

Exorbitanter Preis

Die NNV können wir auch verwenden, um die Kosten einer erhofften Medikamentenwirkung abzuschätzen. Eine Dosis Nirsevimab kostet in der Schweiz rund 400 Franken. Das heisst, die Kosten, um eine Hospitalisation zu verhindern, belaufen sich auf gut 30’000 Franken. Das ist ein Vielfaches der Kosten, welche durch eine Hospitalisation entstehen. Zwei europäische Untersuchungen, eine dänische und eine französische (beide veröffentlicht in «BMC Infectious Diseases»), beziffern die Kosten der Hospitalisation auf maximal 3000 Euro. Je jünger die erkrankten Kinder, desto aufwändiger die Hospitalisation, wie aus der Abbildung der französischen Studie ersichtlich ist:

RSV associated hospitalization France
So viel kostete die Hospitalisierung eines Kindes mit RSV-Infektion in Frankreich. Links die Angabe in Euro, unten waagrecht das Alter des Kindes in Monaten. (Angegeben sind die Durchschnittskosten (graue Linie), die Mediankosten (orange Vierecke) und der Schwankungsbereich in den meisten Fällen (Kreuze bzw. schwarze Rauten).

Indirekte Kosten der Erkrankung

Gut möglich, dass die Kosten für eine Hospitalisation in der Schweiz etwas höher sind. Aber der Preis von 30’000 Franken pro verhinderte Hospitalisation scheint exorbitant.

Natürlich kann man noch argumentieren, dass man mit einer Behandlung weitere Kosten reduzieren kann, wie zum Beispiel Arbeitsausfälle, wenn ein Elternteil wegen einer Erkrankung des Kindes zu Hause bleiben muss, auch wenn das in den ersten drei Risiko-Monaten wegen Mutterschutz selten sein wird. Folgekosten, wie zum Beispiel Asthma als nachfolgende Erkrankung, könnten ebenfalls anfallen. Aber wie man es auch drehen will: Der hohe Preis des Medikamentes ist schwierig nachvollziehbar.

Stillen als wirksame Prävention

Liest man die Medienberichte, könnte man meinen, dass die «Säuglingsspritze» nun endlich die Lösung für das «gefährliche Virus» bringe («St. Galler Tagblatt» vom 1.10.24). Jetzt werden plötzlich werdende Eltern mobilisiert, sich Gedanken zum Risiko einer RSV-Infektion bei ihrem Neugeborenen zu machen. Man könnte meinen, wir hatten bisher keinerlei Möglichkeiten, uns vor RSV zu schützen. 

In keiner Medienmitteilung wurde jedoch erwähnt, dass auch das Stillen eine wirksame Methode zur Verhinderung von Atemwegsinfektionen ist. Doch wir wissen schon lange, dass Stillen für drei bis sechs Monate nicht nur das Risiko für RSV, sondern auch für weitere Atemwegsinfektionen beim Säugling deutlich reduziert. Eine ältere Metaanalyse kam zum Schluss, dass nicht gestillte Babys ein 3,6-mal höheres Risiko einer Atemwegsinfektion aufweisen. Die Wirksamkeit des Stillens zur Risikoreduktion einer RSV-Erkrankung wurde in einer 2022 publizierten Metaanalyse erneut bestätigt. Wer über die Prävention von RSV-Risiken schreibt, sollte doch auch auf diese wichtige Information hinweisen. 

Und wer sich für die Wirkungsweise des angeborenen Immunsystems interessiert, weiss längst, dass die Wirkung dieses Immunsystems weitgehend abhängig ist von einer guten Vitamin-D-Versorgung. 

Infektionsrisiko hing mit dem Vitamin-D-Spiegel zusammen

Vor über zehn Jahren haben zwei Studien (hier und hier) gezeigt, dass das Risiko einer RSV-Infektion bei Säuglingen mit dem Vitamin-D-Spiegel zusammenhängt. In der verlinkten niederländischen Studie war das Risiko einer RSV-Infektion bei Säuglingen, die normale Vitamin-D-Werte im Nabelschnurblut hatten (mehr als 75 nMol/L), sechsmal geringer als das Risiko der Säuglinge mit Vitamin-D-Mangel (weniger als 50 nMol/L). 

Zahlreiche weitere Studien haben den Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und Auftreten von Atemwegsinfektionen bei Säuglingen bestens dokumentiert und auch den vermuteten Wirkungsweg von Vitamin D beschrieben. Dabei sei auch erwähnt, dass auch das Risiko einer Asthmaentwicklung durch RSV oder einen anderen Atemwegsinfekt durch eine gute Vitamin-D-Versorgung deutlich reduziert wird.

Vitamin D als Wundermittel

Kritiker werden nun einwenden, dass noch nicht gezeigt ist, dass eine tägliche Vitamin-D-Versorgung von Schwangeren und Säuglingen das Risiko reduzieren kann. Leider stimmt das. Doch gut gezeigt ist, dass Vitamin D für ein gutes Funktionieren des angeborenen Immunsystems notwendig ist und dass die Bildung des für die Virusabwehr wichtigen «Interferon» deutlich von der Vitamin D-Versorgung abhängt.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie von dänischen Experten untersuchte die Wirkung einer Vitamin D-Gabe an Schwangere: Dabei zeigte sich, dass für eine gute Versorgung des Neugeborenen eine hohe Dosis (täglich 3600 internationale Einheiten, abgekürzt I.E.) der tiefen Dosis (400 I.E./Tag) eindeutig überlegen ist. In der Gruppe, die eine hohe Dosis erhielt, hatten nur elf Prozent der Neugeborenen einen Vitamin-D-Mangel, gegenüber 51 Prozent in der Gruppe, die während der Schwangerschaft eine niedrige Vitamin-D-Dosis bekam.

Erwähnen könnte man in diesem Zusammenhang sicher auch die zahlreichen weiteren Vorteile der guten Vitamin-D-Versorgung. Die «Mavidor»-Studie verglich den Effekt von Vitamin D (1000 I.E.) während der Schwangerschaft gegenüber Placebo. In der soeben publizierten Analyse dieser Studie fanden die Autoren bei Kindern im Alter von sechs bis sieben Jahren eine signifikant bessere Knochenmineralisierung, wenn deren Mütter Vitamin D erhalten hatten. 

Fehlender Wirksamkeitsvergleich

In einer idealen Welt würden wir davon ausgehen, dass eine Pharmafirma ein neues Medikament wie diese Antikörperspritze mit dem besten Behandlungs-Standard vergleicht. Nach allem, was wir heute über Vitamin D wissen, würde man erwarten, dass man in der Zulassungsstudie bei allen Teilnehmern eine gute Vitamin-D-Versorgung gesichert hätte. Doch das war in keiner Zulassungsstudie der Fall. 

Angesichts des sechsfach erhöhten RSV-Erkrankungs-Risikos für Neugeborene mit Vitamin-D-Mangel, verglichen mit Neugeborenen ohne diesen Mangel, könnte es durchaus sein, dass die Wirkung der «Säuglingsspritze» bei guter Vitamin-D-Versorgung nicht mehr nachweisbar wäre. Eine Zulassungsbehörde könnte einen solchen Wirksamkeitsvergleich fordern, bevor man eine solche teure Massnahme für kassenzulässig erklärt. Könnte. 

Auch Mediziner sind gefordert

Doch die Anerkennung der breiten Wirksamkeit von Vitamin D auf unser angeborenes Immunsystem hat es schwierig. Denn so lange sich viele Mediziner nicht trauen, eine gute Vitamin-D-Versorgung zum Standard zu erklären, wird es der Pharmaindustrie einfach gemacht, neue, teure Medikamente einzuführen, deren Wirksamkeit von der Fitness unseres angeborenen Immunsystems abhängt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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5 Meinungen

  • am 5.10.2024 um 11:11 Uhr
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    Bravo Kollege Pietro Vernazza!
    Warum setzen sich die Kinderärzte der Schweiz, die FMH, das BAG, die Zulassungsbehörden und alle anderen Sachverständigen nicht für Ihre Forderungen ein, bevor die Zulassung erfolgte und die lauten Werbetrommeln geschlagen werden?

    Ich denke, dass sich die wenigsten Verantwortlichen überhaupt die Mühe nehmen, so tief in die Materie einzusteigen, weil es viel einfacher ist, einfach Big Pharma zu glauben, dass die ihre Arbeit schon gut gemacht haben.
    Dass mit dieser fast allgemein angewandten Strategie unsere Krankenkassenprämien unbezahlbar werden, wird als alternativlos akzeptiert.

    Leider hat dieser Ansatz nichts mit Wissenschaft, aber sehr viel mit einer Medizin-Religion zu tun. Es zeigt exemplarisch, dass das System des Profits der Aktionäre seinem traurigen Ende entgegensteuert. Echte Wissenschaft scheint darin keinen Platz mehr zu haben.

  • am 5.10.2024 um 12:49 Uhr
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    Die unbedarfte Medientrommel schlug unlängst auch die Sonntags-Zeitung vom 18.2.für die Meningokokken-Impfung, und zwar auf eine, wie mir scheint perfide Weise, Die Autorinnen Brit Uhlmann und Anke Fossgreen alarmierten die Eltern, dass Meningokokken-Bakterien das Leben ihrer Säuglinge innert Stunden auslöschen oder verändern kann. Kein Wort darüber, dass es eine Behandlung mit Antibiotika gibt, kein Wort darüber, dass zur Impfung wichtige Daten fehlen, dass die Wirksamkeit etwa 85% liegt, kein Wort darüber, dass vor allem Menschen in Afrika davon betroffen sind, kein Wort darüber, dass Schweden ein Impfung nur empfiehlt, wenn man sich dorthin begeben will. Kritisch beleuchtete am 16.04.24 das BR Fernsehen in seiner Sendung Gesundheit diese Impfung: Gesundheit!: Meningokokken B: Was halten Kinderärzte von der Impfung? – hier anschauen (ardmediathek.de).

  • am 5.10.2024 um 13:07 Uhr
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    Guter Artikel, danke. Wie viel kostet eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung? Braucht es da einen Test zuvor?

    • am 6.10.2024 um 11:17 Uhr
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      Hallo Herr Bopp
      Das ist ja das Problem, Vitamin D ist zu billig und mit 25 Franken/Jahr können Sie eine 5 Köpfige Familie 1 Jahr mit je 5000 IE Vitamin D pro Tag versorgen. Einen Test müssen Sie nicht unbedingt machen, da Sie mit 5000 IE/Tag in der Regel auf einen sehr guten Vitamin D-Level gelangen und auch kaum eine Vergiftung erleiden werden. Weil Vitamin D so billig ist und Ihr Immunsystem verbessert, hat vor allem die Pharmaindustrie kein Interesse an Vitamin D. Gesund Menschen bringen kein Geld an die Pharmafirmen oder die Ärzte genauso wie tote Menschen. Also muss man sie zwischen gesund und tot in der Schwebe halten. 100 Milliarden Franken im Jahr kostet uns das Gesundheitswesen in der Schweiz (Kosten jährlich stark steigend).

  • am 5.10.2024 um 20:24 Uhr
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    Vielen Dank Herr Vernazza
    Sehr gute und fundierte Hinweise für Jedermann/-frau.
    Die Medien kann man nicht mehr ernst nehmen, wenn die heroischen Journalisten solche, nicht wirklich neuen, Kenntnisse verschweigen. Deren Glaubwürdigkeit ist eh dahin. Das hat evtl. etwas mit Bildung oder einer verwendeten KI zu tun.
    Nochmals: Danke

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