Kommentar
kontertext: Nein, wir bleiben nicht 150 Jahre lang gesund!
Wer würde nicht gerne in guter Gesundheit richtig alt werden? Zumindest 120 Jahre, wie es die ältesten Menschen auf der Welt erreicht haben. Das ist seit langem ein Menschheitstraum.
Angeblich lebensverlängernde Elixiere hatten denn auch schon immer Hochkonjunktur.
Jetzt scheint tatsächlich, zumindest wenn man bestimmten Wissenschaftlern glaubt, ein Zeitalter anzubrechen, das eine extreme Verlängerung des Lebens möglich erscheinen lässt.
An sensationellen Meldungen jedenfalls fehlt es nicht. Fast wöchentlich verkünden Zeitschriften oder Zeitungen weltweit neue wissenschaftliche Durchbrüche bei der Erkundung des Alterns und schwadronieren über Medikamente und Gentechniken, die den Alterungsprozess verlangsamen oder sogar stoppen könnten. Vor allem amerikanische Hightech- und Internetmilliardäre stecken Millionenbeträge in kalifornische Startups, die sich genau diesem Ziel verschrieben haben. Sie hoffen, sich ein längeres Leben kaufen zu können, als sie derzeit zu erwarten haben. Angeblich sind 150 Jahre bei perfekter Gesundheit für die heute Geborenen schon erreichbar.
Alterungsprozess lässt sich nicht beseitigen
Der indische Strukturbiologe Venki Ramakrischnan, Chemie-Nobelpreisträger von 2009, steht all diesen Ankündigungen ausgesprochen skeptisch gegenüber. Sie sind, wie er jetzt in seinem Buch* «Warum wir sterben» nachweist, deswegen absurd, weil sich der Alterungsprozess unseres Körpers nicht abschaffen lässt.
Für Laien wie mich ist «Warum wir sterben» keine leichte Lektüre, denn der ausgewiesene Genexperte beschreibt mit aller Detailfreude, wie die Zellen funktionieren. So allgemeinverständlich Venki Ramakrischnan auf 300 Seiten die genetischen Vorgänge auch erklärt, man muss sich die verschiedenen Funktionen der unterschiedlichen Zellformen immer wieder in Erinnerung rufen, bisweilen zurückblättern. Manchmal helfen kleine Zeichnungen beim Verständnis.
Rasante Forschungsentwicklung
Ramakrischnan geht weit zurück in der Geschichte der Erforschung des Alterns. Er stellt berühmte Forscherinnen und Forscher vor, beschreibt, wie sie oft gegen den Widerstand ihrer Wissenschaftsgemeinschaft auf ihre Entdeckungen gestossen sind. Viele von ihnen kennt er persönlich, erzählt von ihren Forschungen, ihrer Persönlichkeit.
Eine rasante Entwicklung hat die Altersforschung spätestens seit der Entdeckung des Doppelstrangs der DNA gemacht. Die darauf folgenden Erkundungen der Gene und ihrer Funktionen zeigen deutlich, wie kompliziert das Zusammenspiel der verschiedenen Bestandsteile einer Zelle ist, in der sich die DNA befindet.
Zu verdanken sind viele der Erkenntnisse der Forschung an einfachen Mikroorganismen und an Mäusen.
Lebenswichtige Proteine
Entscheidend für alle Entwicklungen sind stets die Gene der DNA, denn sie enthalten die Information, wie Proteine aufgebaut werden. Ohne Proteine kein Leben. Proteine steuern den Körper und befähigen die Zelle, Fette, Kohlehydrate, Vitamine und Hormone herzustellen. Sie produzieren die Antikörper, die Infektionen bekämpfen, speichern sogar Erinnerungen im Gehirn.
Die dafür verantwortlichen Gene der DNA werden von der Ribonukleinsäure, der RNA kopiert und dann zur Produktion der Proteine genutzt. So unterschiedlich die Proteine sind, so unterschiedlich ist ihr Aufbau, ihre Funktion und ihre Lebenszeit. Ohne sie gibt es keine neuen Körperzellen, von der Gehirnzelle über die Herzmuskeln bis zur Leber.
Reparaturarbeiten
In elf Kapiteln erläutert Ramakrischnan, wie die Zellen entstehen und wie sie sterben, denn fast alle Zellen im Körper haben eine kurze Lebenszeit. In dieser müssen sie eine Kopie ihrer selbst herstellen, sich also beständig vermehren und dabei geschehen Fehler. Normalerweise werden diese alle eliminiert. Doch die Reparaturmechanismen sind nicht perfekt. So sammeln sich im Laufe der Zeit immer mehr beschädigte Zellen an. Mögliche Reaktionen des Körpers:
- Die fehlerbelastete Zelle dazu zu bringen, sich selbst zu zerstören, quasi Selbstmord zu begehen.
- Die Zelle stillzulegen, so dass sie keinerlei Funktion mehr ausübt und sich nicht mehr vervielfältigen kann.
- Sie zu reparieren, also alle Fehler zu beseitigen.
Je mehr Zellen stillgelegt werden, desto schlechter arbeitet das entsprechende Organ, in dem sie sich befinden. Je weniger repariert wird, desto stärker werden die Funktionen einzelner Organe beeinträchtigt. Jeder Ältere kann das bestätigen: man hört oder sieht nicht mehr so gut, die Muskelmasse schwindet, das Immunsystem hat Mühe, Entzündungen zu bekämpfen, das Gedächtnis lässt nach. Es kommt sogar zur Demenz.
Das ist der unvermeidbare Alterungsprozess der Organe, der bei den einen früher, bei den anderen später auftritt. Aber niemand bleibt von ihm verschont. Wenn die stillgelegten oder zerstörten Zellen die Überhand gewinnen, sterben die Organe, stirbt der Mensch.
Man hofft mit besserem Verständnis der Reparaturmechanismen die Fehler eindämmen oder sogar beseitigen zu können. Warum, so fragen sich die Genforscher, funktionieren sie bei den einen bis ins hohe Alter, warum versagen sie bei anderen frühzeitig? Anders formuliert, warum sterben die einen relativ früh, leben die anderen relativ lang?
Einige Genabschnitte scheinen dafür verantwortlich zu sein. Ihre «Reparaturfähigkeit» könnte tatsächlich zu einer Verlängerung des Lebens führen. Und diese Reparaturfähigkeit könnte befördert werden durch Rapamycin, ein in einem Bakterium auf den Osterinseln entdecktes Immunsuppressivum, das die geschädigten Zellen daran hindert, sich zu vermehren, also geschädigte Zellen zum Selbstmord treibt. In Laborversuchen hat Rapamycin bei Mäusen das Leben und die Gesundheit verlängert. Doch es ist mit Vorsicht zu geniessen, weil es unter anderem das Infektionsrisiko bei Krebspatienten steigen lässt. Einigen Forschern gilt es dennoch als Wunderarznei und manche Menschen nehmen es schon heimlich ein. Ob es beim Menschen wirklich wirkt, ist umstritten. Es fehlen grundlegende Studien.
Venki Ramakrischnan ist jedenfalls sehr skeptisch. Als grossen Vorteil sieht er, dass Rapamycin den Kalorienspiegel senken hilft. Es wirkt quasi wie Fasten, und Fasten, also wenig, möglichst gesund essen, hat statistisch nachgewiesen tatsächlich Einfluss auf den Alterungsprozess. Es verzögert ihn ebenso wie Sport, also viel Bewegung, und viel Schlaf, denn im Schlaf repariert sich der Körper selbst. Alle drei, so der Autor, hängen zusammen, denn wer Sport treibt, schläft gut und hat wenig Hunger.
Fazit
Mit Staunen folgt man den vielen Forschungsansätzen. Man taucht in eine fremde Welt ein. Sie ist für die meisten von uns alltagsfern, aber dennoch faszinierend angesichts der unglaublichen Raffinesse, mit der unser Körper sich ständig erneuert und repariert. Sie zeigt uns zudem, dass das Altern ein natürlicher und beabsichtigter Vorgang der Evolution ist. Allerdings hat sich die Lebenszeit heute dank zahlreicher medizinischer und pharmazeutischer Entdeckungen gegenüber früheren Zeiten gut verdoppelt. Den Altersforscher Denis Gerstorf von der Berliner Humboldt Universität hat das zu der saloppen Feststellung veranlasst, dass 75 heute das neue 60 ist. Doch der Prozess des Alterns steckt weiterhin voller Geheimnisse. Nur eines ist klar und Venki Ramakrischnan beweist es überzeugend: Ein gesundes Leben lässt sich nicht unendlich verlängern, der Alterungsprozess nur hinauszögern.
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*Venki Ramakrischnan: Warum wir sterben – Die neue Wissenschaft des Alterns und die Suche nach dem ewigen Leben. Klett-Cotta Verlag 2024, ca. 30 Franken.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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