Kommentar
kontertext: En crise. Corona als Aussenwelt und Innenraum
Die psychischen Belastungen der Corona-Krise treten immer deutlicher zu Tage. Das heisst: Wir kennen sie nun als Zahlen und aus einzelnen Meldungen der TherapeutInnen und der Jugendpsychiatrie, messbar werden sie zum Beispiel auch am gestiegenen Konsum von Psychopharmaka. In Fachkreisen werden schon seit dem letzten Frühling regelmässig Studien publiziert, welche auf die psychischen und psychosozialen Schäden der Krise eingehen.
Die Ergebnisse sind summarisch und immer die gleichen: Zunahme von Stress, Ängsten und Depressionen. Das ist nun nicht erstaunlich, mag man denken.
Wie genau aber gesellschaftliche Krisen und «Notstand» in die Psyche der Menschen eindringen, wissen wir kaum.
Denn psychische Not, vor allem Angst, zeigen sich akut meist nur in Privaträumen und Therapiezimmern. Diese Unsichtbarkeit der psychischen Belastungen von Krisen und Traumata hat eine Fernseh-Serie unter dem Titel «In Therapie» 2005 in Israel zum ersten Mal zum Ausgangspunkt genommen für eine bestechend einfache Dramaturgie, in welcher die Verquickung von Subjekt und Gesellschaft durch einzelne Fallgeschichten aufgefächert wird. «In Therapie» wurde seither in sechs Ländern adaptiert, zuletzt in Frankreich. Diese Version wird nun auf Arte ausgestrahlt, zur rechten Zeit, wie es scheint. Nicht nur, weil Serien an Lockdown-Abenden en vogue sind, sondern weil sich darin – zumindest in den ersten Episoden – etwas manifestiert, was auch zu unserer Zeit gehört: die Verbindung zwischen einem kollektiven Trauma und den Neurosen des Einzelnen.
En thérapie: Innenraum und Aussenwelt
In Frankreich beginnt die Serie am Tag nach den Anschlägen auf den Club «Bataclan» im November 2015; Regie geführt hat das Erfolgsduo Eric Tolédano und Olivier Nakache («Les Intouchables»). Man kann vermuten, dass die Entscheidung zu dieser Datierung von ihnen stammt. Oder umgekehrt: Dass der Schock über die Hunderten von Toten im Herzen von Paris die Hand der Regie geführt hat.
Schauplatz ist die Praxis eines klassisch französischen Analytikers, Dr. Philippe Dayan, vollgepackt mit Büchern, Bildern, Vorhängen, Teppichen und seiner Couch. Sie ist zugleich der Wohnort des Arztes mit seiner Familie und man erfährt schon in der ersten Folge, dass sie sich in der Nähe der Anschläge befindet. So ist von Anfang an der Gegensatz errichtet, um den es geht: eine Aussenwelt, in welcher sich Gewalt, Bedrohung und Chaos Bahn gebrochen haben, ein Innenraum, der das Draussen dämpft und filtert. Und in dessen Schutz sich das Chaos im Innern der Figuren äussern kann. Das Verhältnis von Aussenwelt und Innenraum ist mithin kein Gegensatz, sondern ein durchlässiger Zusammenhang. Und so divergent die Erzählungen und Nöte der fünf PatientInnen sind, die wöchentlich wiederkehren, in allen sind die Anschläge Thema. Dabei wird bald klar: Sie sind eigentlich nicht Thema, sondern wirken wie ein Kontrastmittel, das die Konflikte der Einzelnen im Innern verschärft und radikalisiert. Die Chirurgin, welche in jener Nacht operierte und viele Opfer des Anschlags nicht retten konnte, dichtet ihre Erfahrung mit dem Tod durch erotische Phantasien ab; der Polizist einer Spezialeinheit, der im Bataclan, um den Tatort zu «sichern», über Leichen gehen musste, kann nicht mehr schlafen, weil er eigentlich einen Ausweg sucht, um sich von seiner Familie zu trennen. Solche Verschiebungen lassen aufhorchen. Denn worum geht es jetzt? Was ist genau der Zusammenhang von Terror und psychischer Not? Im Sog der dramatisch exzellenten Dialoge, der expressiven und hochkonzentrierten Gesichter und Körper teilt sich immer mehr eine untergründige Spannung mit, die in der dritten Sitzung mit der jungen Leistungsschwimmerin Camille an die Oberfläche der Sprache kommt. Als sie vom Therapeuten auf die Spur ihres vermeintlichen Unfalls geführt wird, erklärt ihr Dayan, dass wir alle Todesgedanken haben, dass Todesangst und Todessehnsucht in allen widerstreiten. Das kleine Detail, das gerne übersehen wird, so Dayan: Jeden beschäftigt der Tod. «Es ist normal, an den Tod zu denken.» In welcher Weise unser Imaginäres vom Tod besetzt wird, das können die Geschehnisse der Aussenwelt beeinflussen. Nach zwei Wochen verkündet Dayan deshalb seiner Supervisorin, er könne sich die Welt draussen nicht mehr vom Leib halten, er sei aufgewacht. So gerät er selber in den Strudel der Gefühle.
Das Imaginäre und die Todesangst
Eine Pandemie konfrontiert uns anders mit dem Tod als terroristische Anschläge. Aber sie dringt in unser Unbewusstes ein, das wusste schon der Chronist in Camus’ «La Peste» von 1947: «Auch jene, die die Pest nicht haben, tragen sie im Herzen». Insofern verändert sie uns, ob wir wollen oder nicht. Dass Covid-19 eine grössere Zäsur darstellt, wurde vielen schon im letzten Frühling bewusst. Der Band 5 der «Essais agités», «Die Zäsur. Beobachtungen und Bedenken in Zeiten der Pandemie» hat das Imaginäre des Terrains schon frühzeitig erkundet mit Essays und Gedichten zum Unsichtbaren der Pandemie, zu Grenzziehungen, Widerstand, Entgrenzungen, sprich: zum Imaginären, das die Pandemie begleitet und das unsere Wirklichkeit genau so bestimmt wie das Faktische. Der Band ist unabhängig von Fallzahlen und R-Faktor relevant und lesenswert.
Denn seit bald einem Jahr oktroyiert man uns Tag für Tag Berichte und Zahlen von Mortalität und Todesraten, mehr noch: Wir erhalten kontextlos die Anzahl der an und mit Covid Gestorbenen pro Kanton, fast täglich. Wir hören von Mutationen zu noch schlimmeren Varianten. Wir gewinnen immer wieder den Eindruck, wir befänden uns in einem Kampf auf Leben und Tod. Wir beobachten uns selber und zweifeln plötzlich, ob wir genügend Abstand und genügend sichere Masken haben. Wie verlieren das Gespür für Situationen, für Räume und Zeit hinter unseren Bildschirmen.
Welche Auswirkungen dies langfristig auf unsere Psyche, namentlich auf die Psyche junger Menschen haben wird, lässt sich jetzt noch nicht konkret sagen – weil wir so verschiedene Individuen sind wie jene, die in der Serie bei Dr. Philippe Dayan auf der Couch sitzen. Was beim Betrachten der Serie aber deutlich wird: Auch unsere Beziehung zu Krankheit, Tod und Sterblichkeit hat sich durch die Krise verändert – und damit auch die Beziehung zum Leben. Denn Leben und Tod hängen nun einmal zusammen, nicht nur in der Psychoanalyse. Die Fragen vieler junger Menschen, wann «das Leben» eigentlich zurückkehre, ist symptomatisch. Jüngere Menschen sind dabei weniger mit Todesangst konfrontiert als mit Todessehnsucht und der Angst vor dem Leben, die sich auch in Depressionen äussert. Depressionen kaschieren nach der klassischen psychoanalytischen Theorie oft die Aggressivität gegen das Verlorene. Verloren ist zum Beispiel das physische Erleben von Gemeinschaft, das sich nicht online kompensieren lässt. Denn wir repetieren seit einem Jahr, dass die Nähe der Anderen gefährlich, dass heftig Atmen, Singen und Tanzen und überhaupt das Leben in Gesellschaft ansteckend und damit potentiell tödlich sein kann. Wir sind einem Kontrollzwang ausgesetzt, der uns immer veranlasst zu fragen und zu wissen, wer mit wem Kontakt hatte. Wir ahnen hinter den geschlossenen Läden mancher Bars und Lokale, dass hier so bald kein Leben mehr zurückkehren wird. Wir vermissen Öffentlichkeit nicht einfach, weil wir auf das Programm Kino, Kneipe, Shoppen konditioniert sind, sondern weil Öffentlichkeit als gemischte und geordnete Sphäre uns entlastet vom Privaten und uns zu gesellschaftlichen Wesen macht.
Wider die Grobschlächtigkeit der Allgemeinplätze
Die Serie «In Therapie» zeigt, dass die Weisen, wie solch kollektive Krisen und Verunsicherungen in uns eindringen, völlig verschieden sind. Wie grobschlächtig ist es deshalb, Typologien zu erstellen. Dabei sind Kategorisierungen wie (rechte) Corona-VerharmloserInnen, (linke) Lockdown-EuphorikerInnen oder Massnahmen-SkeptikerInnen nur die Spitze solcher Grobheit. Die Psyche des Einzelnen nimmt die Pandemie mit den je individuellen sozialen, emotionalen, intellektuellen und körperlichen Bedingungen auf. So konkret ein Anschlag oder eine Pandemie sind: Sie bleiben letztlich abstrakt, das heisst, wir müssen sie für uns übersetzen und die Krisen, die durch sie ausgelöst werden, zeitigen bei allen andere Wirkungen. Miterleben lässt sich «In Therapie» auch, dass man immer zu wenig weiss über sich selber. Umso wichtiger ist es, dass jemand zuhört und sich nicht mit Allgemeinplätzen begnügt, sondern wirklich zu verstehen versucht. Ein solcher Gemeinplatz behauptet zur Zeit auch, dass die Krise uns auf uns selber zurückwerfe. Nicht bei allen bewirkt der Zustand der Isolation verstärkte Ängste, Stress und Depressionen. Es gibt auch noch immer viele, die glauben, die Gesellschaft und eventuell auch die Einzelnen würden gestärkt (geimpft!) aus der Krise hervorgehen. Resilienz (Yoga und Brot backen) ist dazu ein anderer viel beschworener Gemeinplatz.
Aber gerade junge Menschen brauchen Kontakt, Beziehungen ausserhalb der eigenen vier Wände und auch Menschen, die ihnen zuhören, was immer sie zu erzählen haben. Ein Sozialpädagoge spitzt zu: «Psychische Belastungen können nicht weggeimpft werden».
Man muss nicht alle 35 Folgen der Serie anschauen (sie ist zur Zeit in der Arte-Mediathek verfügbar). Es müssen auch nicht alle in Therapie gehen. Aber die Serie vermittelt uns ein starkes Gefühl dafür, wie sehr unsere Psyche ein Resonanzgefäss ist, in welchem gesellschaftliche Spannungen auf die Einsamkeit des Individuums treffen. Das ist nicht nur heilsam. A suivre.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst mit den Schwerpunkten visuelle Kultur, Kunst und Politik, ästhetische Bildung. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.
Liebe Silvia
In Fachkreisen redet man schon seit längerem von den «Adverse Childhood Experiences» (ACE) und «wie» diese auf diese auf die Psyche des heranwachsenden Menschen einwirken. So unbekannt ist diese Frage also nicht. Auch hierzulande, von Nordirland bis in den Südosten Europas, bietet sich seit längerem Anschauungsmaterial. Und wenn wir in Israel jenseits der grünen Linie auf die palästinensische Jugend schauen, werden wir ACE mehr als Regelfall antreffen denn als Ausnahme. ACE können als bekannt vorausgesetzt werden.
Warum duckt sich mehr oder weniger das gesamte politische Personal weg, wenn solches zur Sprache kommt? Als von der SP offene Briefe an mehrere Exekutiven unterwegs waren mit derm Inhalt, die Corona-Massnahmen seien umgehend zu verschärfen, habe ich sie auf die zu erwartenden Schäden auf die Psyche hingewiesen — nicht nur bei Kindern und Jugendlichen! Dies beschwiegen die Antworten, während man sich en vogue auf irgendwelche abstrakten Tabellen und Werte berief.
Wie geschädigte Jugendliche später als Erwachsene sich verhalten werden, dazu gibt es viele, aber wenig erbauliche Literatur. Wir können mit dem heutigen Wissenstand sehr wohl sagen, was mit den Corona-Massnahmen herauskommen wird. Seit wann werden Angst- und Schuldgefühle induziert und zwecklich verwendet? Wenn Fachkreise ihre Expertisen nach den politischen Gegebenheiten richten, sollten wir besser nachfragen, warum es dazu gekommen ist. Todestrieb? Neee!
Herzlich, Andreas