Intensives Lobbying für teure Bluttests in den USA
«Der Kampf gegen Krebs bedeutet einen Wettlauf gegen die Zeit. Je früher die Erkrankung erkannt wird, umso grösser sind die Überlebenschancen. Bereits seit geraumer Zeit wird an Bluttests geforscht, die eine schnelle Früherkennung versprechen. Einer dieser Tests soll nun mithilfe einer einzigen Probe in der Lage sein, mehr als 50 verschiedene Krebsarten zu erkennen.»
Schweizerische Depeschenagentur, 20.8.2021
So begann ein Artikel, den die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) 2021 verbreitete.
Die «NZZ am Sonntag» zitierte im April 2023 einen Hamburger Krebsforscher: «Diese Tests werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich ziemlich breit auf den Markt kommen.»
Der bekannteste Krebs-Bluttest namens «Galleri» erkannte in einer früheren Studie laut der SDA nur rund 17 Prozent der Tumoren im frühen Stadium I, 40 Prozent im Stadium II, 77 Prozent im Stadium III und 90 Prozent im Stadium IV. In der jüngsten veröffentlichten Studie gab der «Galleri»-Test bei 323 von 5461 Personen an, die wegen krebsverdächtigen Beschwerden untersucht wurden. Bei 244 der 323 fanden die Ärzte tatsächlich Krebszellen, die sich in etwa 85 Prozent der Fälle in dem Organ befanden, das der Test vorausgesagt hatte. Der Hersteller «Grail» verkaufte den Test schon 2021.
Etwa 400 Organisationen in den USA sind dafür
In den USA machen sich Politiker für die neuen Bluttests zur Krebsfrüherkennung stark. US-Abgeordnete lancierten bereits 2021 einen Vorstoss, der ihnen zufolge von rund 400 US-Organisationen unterstützt wurde. Hersteller «Grail» gab allein im vierten Quartal 2022 über eine Million Dollar fürs Lobbying bei US-Kongressabgeordneten aus, berichtete «Statnews».
Im Frühling 2023 griffen republikanische und demokratische Politikerinnen und Politiker das Thema wieder auf. Würde ihre Gesetzesvorlage angenommen, dann müsste «Medicare», die staatliche US-Krankenversicherung für Menschen ab 65 Jahren und für jüngere mit bestimmten Erkrankungen, künftig Bluttests zur Krebsfrüherkennung bezahlen. Auch die US-amerikanische Krebsgesellschaft unterstützt das Anliegen.
Ein solcher Test koste rund 1000 Dollar. Für die Sozialversicherung Medicare könne dies Kosten in Höhe von etwa 40 Milliarden US-Dollar pro Jahr verursachen, nicht eingerechnet die Kosten, die durch nachfolgende Abklärungen entstehen würden. Dabei sei zum jetzigen Zeitpunkt offen, ob dieser Bluttest tatsächlich Leben rette, wendet der US-Medizinprofessor Gilbert Welch in der Ärztezeitschrift «Jama Internal Medicine» ein. Welch ist einer der profiliertesten Kritiker des Krebs-Screenings. Screening-Tests können Menschen auch schaden, indem sie falsche Alarme und Überdiagnosen produzieren, zu mehr Untersuchungen führen und die Kosten hochtreiben, wendet der Mediziner ein.
Politiker erliegen Trugschlüssen
Solche Einwände fechten den US-Kongress nicht an: «Die Früherkennung von Krebs, bevor er sich im ganzen Körper ausgebreitet hat, kann Leben retten. Krebserkrankungen, die entdeckt werden, wenn sie noch lokalisiert sind, können wirksamer behandelt werden und haben eine krebsspezifische 5-Jahres-Überlebensrate von etwa 90 Prozent, verglichen mit etwa 20 Prozent bei Krebserkrankungen, die nach dem Auftreten von Metastasen entdeckt werden», heisst es in der Gesetzesvorlage.
Diese Daten würden zwar weitgehend zutreffen. Doch die Schlussfolgerung, dass sie beweisen würden, dass das Krebs-Screening Leben rette, beruhe auf drei Trugschlüssen, so Welch.
- Der erste Fehlschluss sei, dass alle Tumore, die Metastasen bilden, früh entdeckt werden könnten. Denn gerade solche Tumore seien sehr aggressiv und manche hätten zum Zeitpunkt, an dem sie erkennbar werden, bereits metastasiert, wendet Welch ein.
- Der zweite Trugschluss bestehe darin, zu glauben, dass die Früherkennung immer zu einem Gewinn an Lebenszeit führe. Welch verweist auf eine aktuelle Studie zum Screening auf Eierstock-Krebs: Dort wurden viele Tumore dank des Screenings zwar in einem früheren Stadium entdeckt und behandelt – trotzdem verbesserte sich die Sterberate an Eierstockkrebs nicht. Die «Früherkennung» verlängerte für die betroffenen Frauen folglich lediglich die Zeitspanne, in der sie mit der Diagnose Krebs lebten.
- Der dritte Fehlschluss sei, dass hohe Fünf-Jahres-Überlebensraten nach einer Krebsdiagnose beweisen würden, dass die frühzeitige Behandlung erfolgreich gewesen sei. Das könne bei manchen Patienten zwar zutreffen. Es könne aber auch bedeuten, dass es sich um prognostisch günstigere Tumoren gehandelt habe, die sowieso nicht zu Beschwerden oder zum Tod geführt hätten. Folglich wäre auch die Behandlung unnötig gewesen. Je mehr solcher «Überbehandlungen», desto länger leben die «Krebsdiagnostizierten» statistisch durchschnittlich. Die hohen 90-Prozent-Überlebensraten bei Tumoren in den USA würden laut Welch vor allem durch solche «Überbehandlungen» erzielt. Besonders häufig seien diese Überdiagnosen und Überbehandlungen bei Brust-, Schilddrüsen-, Prostata- und Schwarzem Hautkrebs.
«Die entscheidende Frage ist: Ist der Nutzen für wenige so gross, dass er den Schaden, den viele davon haben, rechtfertigt?»
US-Medizinprofessor Gilbert Welch
Welch schreibt: Es sei möglich, dass die Multikrebs-Bluttests Leben retten und die damit verbundenen Kosten und Schäden rechtfertigen. «Aber wir werden es nie wissen, wenn wir es nicht hinterfragen.» Er fordert randomisierte Studien, bei denen die Teilnehmenden per Los der Screening-Gruppe zugeteilt werden oder der Nicht-Screening-Gruppe.
Gegenwärtig laufen verschiedene, teilweise Hersteller-gesponserte Studien, die den «Galleri»-Test auf die Probe stellen. Darunter ist auch eine grosse, randomisierte Studie. Die Ergebnisse sind erst in den nächsten Jahren zu erwarten – doch vorher stehen in den USA die Wahlen an.
Riesige Lobby für das Screening
Die Lobby für Krebs-Screening-Programme sei gross und es bestünden Interessenkonflikte, schreiben der norwegische Gesundheitswissenschaftler Michael Bretthauer und zwei KollegInnen in einem Meinungsbeitrag in «Jama Internal Medicine» und listen auf:
- Krebsligen und wohltätige Organisationen müssten, um Spenden zu erhalten, aktiv und engagiert wirken. Auch sie würden das Krebs-Screening befürworten und daran festhalten. Über Schäden wegen Überdiagnosen oder infolge der Behandlung würden sie hingegen weniger informieren.
- Unter denjenigen Patientenvertreterinnen und -vertretern, die sich vehement für eine Ausweitung der Screening-Programme einsetzen, seien solche übervertreten, die glauben, ihr Leben dem Krebs-Screening zu verdanken – die in Wahrheit aber zu den überdiagnostizierten Opfern des Screenings zählen würden.
- Politiker befinden sich «inmitten eines Sturms der Lobbyisten», schreiben die drei Wissenschaftler. «Es ist schwer vorstellbar, dass ein Politiker bei der nächsten Wahl mehr Stimmen erhält, wenn er vorschlägt, bestehende Krebs-Screening-Programme abzuschaffen […]; es ist attraktiver, neue Krebs-Screening-Programme vorzuschlagen. Daher haben wir nie von einer politischen Kampagne gegen einen Krebs-Screening-Test gehört.»
- Allein in den USA würden sich die Ausgaben fürs Krebs-Screening auf 40 bis 80 Milliarden Dollar jährlich belaufen. Das verschaffe zehntausenden von Gesundheitsfachleuten und weiteren Personen Arbeit. Sie würden wohl kaum in einem Bereich arbeiten wollen, den sie als unnütz erachteten. Sie würden auch ihre Arbeit nicht verlieren wollen. Die Gastroenterologen beispielsweise zählten in den USA zu den bestverdienenden Fachärzten, was vor allem auf das Darmkrebs-Screening zurückzuführen sei.
Die Schlussfolgerung der drei Wissenschaftler: Personen mit medizinischen oder finanziellen Interessenkonflikten sollten sich an Empfehlungen für das Screening nicht in führender Position beteiligen dürfen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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