Kommentar

Deutschlands Krankenversicherung ist eine Zweiklassenmedizin

Bernd Hontschik © ute schendel

Bernd Hontschik /  In Europa kennt allein Deutschland Privatversicherte in Arztpraxen. Die rund zwei Millionen Beamten zahlen praktisch keine Prämien.

Red. Deutschlands Krankenversicherung ist Europas unsozialste. Jeder zehnte Einwohner ist ausschliesslich privat versichert (auch ambulant) und trägt zur sozialen Grundversicherung nichts bei. Die rund zwei Millionen privatversicherten Beamten zahlen fast nichts, sondern lassen ihre Gesundheitsversorgung von den Steuerzahlenden finanzieren. Der deutsche Chirurg und Publizist Bernd Hontschik hat die Grundversicherung in verschiedenen Staaten Europas verglichen.

Allein unter Nachbarn

Laut einer Bertelsmann-Studie könnten die gesetzlichen Krankenkassen neun Milliarden Euro mehr einnehmen und den allgemeinen Beitragssatz um 0,7 Prozent senken, wenn alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger gesetzlich krankenversichert wären. In Deutschland sind aber etwa zehn Prozent ausschliesslich privat versichert. Diese 8,7 Millionen verdienen im Durchschnitt über fünfzig Prozent mehr als die 73 Millionen gesetzlich Versicherten und sind im Vergleich gesünder. Es heisst, sie würden eine privilegierte medizinische Behandlung erhalten, man spricht von einer Zwei-Klassen-Medizin.
Die Besserverdienenden, die ausserdem auch noch die Gesünderen sind, haben sich aus unserem Solidarsystem verabschiedet. Wie ist das eigentlich in unseren Nachbarländern geregelt? Die entscheidenden Fragen sind: Müssen dort alle an einem Solidarsystem teilnehmen? Wie wird es finanziert? Wie sind die Leistungen?

Österreich
In Österreich besteht für ausnahmslos alle Einwohnerinnen und Einwohner eine Krankenversicherungspflicht in regionalen Gebietskrankenkassen. Die Beiträge richten sich nach dem Einkommen und werden zur Hälfte von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden getragen. Familienmitglieder sind überwiegend kostenlos mitversichert. Die Leistungen aller Kassen sind gleich, Konkurrenz zwischen Krankenkassen gibt es nicht. Es existieren vielfältige Möglichkeiten der privaten Zusatzversicherung.
Schweiz
Auch in der Schweiz besteht Krankenversicherungspflicht für alle. Die Beiträge sind unabhängig vom Einkommen pro Kopf gleich hoch, eine kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern gibt es nicht. [Red. Als Kompensation für die unsozialen Kopfprämien erhält ein gutes Viertel der Bevölkerung eine individuelle Verbilligung der Krankenkassenprämien. Bund und Kantone geben dafür jedes Jahr rund 4,5 Milliarden Franken aus.] Alle etwa fünfzig privaten Krankenkassen des Landes müssen identische Leistungen einer gesetzlich festgelegten Grundsicherung anbieten, konkurrieren aber um Mitglieder durch möglichst niedrige Tarife. Die acht grössten Kassen haben zusammen einen Marktanteil von über 80 Prozent. Alle diese Versicherer bieten Zusatzversicherungen an.
Frankreich
Auch in Frankreich ist die Krankenversicherung Pflicht für alle. Die Krankenkassenbeiträge werden von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden anteilig bezahlt, Defizite werden mit Steuermitteln ausgeglichen. Versicherte zahlen ihre Arztrechnungen zunächst selbst und reichen sie anschliessend bei ihrer Krankenkasse zur Erstattung ein. Dabei bestehen Eigenbeteiligungen bis zu 25 Prozent, weswegen die meisten Franzosen private Zusatzversicherungen abschliessen.
Niederlande
Auch in den Niederlanden besteht Krankenversicherungspflicht. Das System ist rein privatwirtschaftlich, aber die Leistungen der etwa 40 privaten Krankenkassen sind gesetzlich genau festgelegt, sodass darüber keine Konkurrenz aufkommen kann. Kinder sind kostenlos mitversichert, Partnerinnen und Partner hingegen nicht. Alle Versicherten zahlen einen gleich hohen Beitrag, der gesetzlich festgelegt ist. Wegen hoher Selbstbeteiligungen sind private Zusatzversicherungen weit verbreitet.
Dänemark
Auch in Dänemark ist das Gesundheitssystem für alle Einwohnerinnen und Einwohner verbindlich. Hier ist es rein staatlich, die Finanzierung geschieht aus Steuergeldern. Wer in Dänemark wohnt oder steuerpflichtig ist, ist automatisch krankenversichert. Medizinische Behandlungen und häusliche Pflege sind für alle Versicherten kostenlos. Private Vollversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen zur Abdeckung der Eigenbeteiligungen.
Italien
Auch in Italien ist das Gesundheitssystem für alle in staatlicher Hand. Es wird aus Steuermitteln und Arbeitgeberbeiträgen finanziert. Die medizinische Grundversorgung ist für alle kostenlos. Private Krankenversicherungen gibt es nicht, nur Zusatzversicherungen.
Deutschland
Deutschland ist also das einzige Land weit und breit, das einem Zehntel seiner Bevölkerung die Möglichkeit einräumt, sich mit der privaten Krankenversicherung aus dem Solidarsystem zu verabschieden. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Sämtliche unserer Nachbarländer machen das vor. Eine Überwindung unseres zweigeteilten Systems würde zwar einige Probleme aufwerfen, aber diese sind alle lösbar, dafür braucht es nur etwas Zeit und kluge Übergangslösungen. Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen und der Beamtenbund malen das grosse Arztpraxissterben an die Wand, wenn den Ärztinnen und Ärzten die privaten Einnahmen wegbrechen. Aber die ärztlichen Einkommen wären in keinerlei Gefahr, denn bislang Privatversicherte würden stattdessen sogleich entsprechende Zusatzversicherungen abschliessen.
Eine Illusion sollte man aber nicht haben: Mit der Abschaffung der Zwei-Klassen-Krankenversicherung wird man die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin nicht erreichen. Dazu müsste man zuerst die Klassengesellschaft abschaffen.
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Zur Statistik über die Versicherten in Deutschland
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Chirurg Bernd Hontschik ist u.a. Mitglied bei der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin AIM, bei MEZIS und bei Ärzte für eine Verhütung eines Atomkriegs IPPNW, ist im Beirat der Akademie Menschenmedizin AMM und im wissenschaftlichen Beirat der Fachzeitschrift «Chirurgische Praxis». Kolumnen von Hontschik erscheinen regelmässig in der Frankfurter Rundschau. Sein neuestes Buch: «Erkranken schadet Ihrer Gesundheit», 2019, Westend Verlag.

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9 Meinungen

  • am 24.02.2020 um 17:21 Uhr
    Permalink

    Herr Hontschik bzw. die Redaktion ignoriert wesentliche Tatsachen.

    Beamte werden gegenüber Pflichtversicherten und freiwillig gesetzlich Versicherten bevorzugt. Das steht außer Frage und müsste korrigiert werden, beispielsweise durch eine für alle Bürger verpflichtende Bürgerversicherung. Das ist seit langem meine Auffassung, die ich auch als Beamter vertrete.
    ABER: Sie verbreiten FAKE NEWS, nämlich mit der Behauptung, dass Beamte praktisch keine Versicherungsprämie bezahlen müssten. Das ist schlicht falsch und ein klarer Fall von Stimmungsmache.
    Jeder Beamte bezahlt für sich eine Prämie für 50% einer privaten Krankenversicherung und für jedes Mitglied seiner Familie ebenfalls eine Prämie von 30% für seine Kinder und 50% für seine Ehefrau. Bei zwei und mehr Kindern muss einer der Partner sich nur mit 30 % privat versichern. Pensionierte Beamte müssen sich zu 30% privat versichern.
    Diese Tatsachen sind kein Grund zur Klage, außer für die unteren und mittleren Besoldungsgruppen, die für ihre Krankenversicherung deutlich stärker belastet werden als wenn sie Mitglieder einer gesetzlichen Versicherung wären, was ihnen aber in der Regel vom öffentlichen Arbeitgeber verwehrt wird.
    Dies alles sollte Ihnen eigentlich bekannt sein. Mit Ihren Falschinformationen machen Sie sich unglaubwürdig und entwerten die zutreffenden Gesichtspunkte der Kritik.

  • am 24.02.2020 um 18:45 Uhr
    Permalink

    @Brinning. Für Titel und Lead ist die Redaktion verantwortlich. Das Wort «praktisch» ist etwas drastisch. Doch Beamte in Deutschland sind ambulant und im Spital privat versichert – mit den entsprechenden Vorteilen. Und für dieses unsoziale Privileg zahlen sie nach Ihren eigenen Angaben nur etwa 30 Prozent der normalen Prämien für Privatversicherte. Das sind vielleicht nicht «praktisch keine» Prämien, wie wir eingangs etwas provokativ schrieben, es ist aber lächerlich wenig. Die von Ihnen unterstützte Bürgerversicherung geht in die richtige Richtung.

  • am 25.02.2020 um 09:54 Uhr
    Permalink

    @Gasche. Sie möchten partout Recht behalten und zitieren mich deshalb falsch.
    Ich muss mich nicht wiederholen. Wer – anscheinend im Gegensatz zu Ihnen – genau wissen möchte, welche Bedingungen für Beamte gelten, der möge meinen ersten Beitrag lesen.
    Ich stelle fest, dass „Titel und Lead“ der Redaktion polemisch und irreführend und Sie nicht bereit sind, dies zu korrigieren.
    Ihr Verhalten veranlasst mich, redaktionelle Beiträge auf infosperber, wenn überhaupt, künftig im Bewusstsein zu lesen, dass sie von erheblicher Ungenauigkeit geprägt sein könnten.
    Sensationsmache und unzulässige Vereinfachungen sind Kennzeichen des Boulevard und zunehmend auch der sogenannten «Qualitätsmedien». Dass Sie sich diesem Stil anzuschließen scheinen, enttäuscht mich, verringert jedoch zugleich meinen Zeitaufwand für die Lektüre politischer Online-Informationen …

  • am 25.02.2020 um 21:56 Uhr
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    @Brinning. Den Titel «Deutschlands Krankenversicherung ist eine Zweiklassenmedizin» bewerten Sie als «polemisch und irreführend». Diese Meinung dürfen Sie haben. Sie müssen jedoch zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland nicht nur in Krankenhäusern, sondern auch in Arztpraxen trennt zwischen Normalversicherten und Privatversicherten mit entsprechenden Privilegien und Vorteilen. Deshalb halten wir am Titel fest.

  • am 26.02.2020 um 10:41 Uhr
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    Im Gegensatz zu Ihnen, bin ich bereit mich zu korrigieren.
    Der Titel „Deutschlands Krankenversicherung ist eine Zweiklassenmedizin“ ist zutreffend.
    Anders verhält es sich mit dem sog. „Lead“. Er ist eindeutig „polemisch und irreführend“, weil hier fälschlicherweise behauptet wird „…Die rund zwei Millionen Beamten zahlen praktisch keine Prämien. …Die rund zwei Millionen privatversicherten Beamten zahlen fast nichts, sondern lassen ihre Gesundheitsversorgung von den Steuerzahlenden finanzieren.“

    Wenn diese Behauptungen nicht „polemisch und irreführend“ sind, wofür sollen diese Begriffe dann überhaupt noch angewendet werden?
    50 Prozent Versicherungsbeitrag, in einer deutlich geringeren Zahl der Fälle 30 Prozent, sind nicht „fast nichts“. Außerdem sind für Beamte (und Angestellte des Öffentlichen Dienstes) „die Steuerzahlenden“, repräsentiert durch öffentliche Institutionen, formal und funktional die Arbeitgeber. Und diese müssen grundsätzlich 50 Prozent der Versicherungskosten tragen, auch für gesetzlich Versicherte. – Vor diesem Hintergrund wird der polemische Charakter Ihres „Lead“ überdeutlich.

    Es ist offensichtlich, dass jegliche Korrektur von unbestreitbaren Falschinformationen oder gravierenden Ungenauigkeiten für Sie ausgeschlossen ist. Daher macht die Fortsetzung dieser Korrespondenz keinen Sinn.
    Schade um die Glaubwürdigkeit von infosperber, dessen Lektüre ich mir nach dieser Offenbarung seiner tatsächlichen Seriosität künftig sparen werde.

  • am 28.02.2020 um 16:48 Uhr
    Permalink

    ein niedliches stück meinungsmache, wenn der autor behauptet:
    "beamte zahlen praktisch keine beiträge».
    in meinem fall sind das monatlich 223 euro. damit sind 30% meiner behandlungskosten abgedeckt meine frau hätte für 30% mtl 300 euro zahlen sollen. wären ca 530 euro mtl.
    bedeutet das in der schweiz: «praktisch nichts?"

  • am 28.02.2020 um 16:55 Uhr
    Permalink

    @Hemmers. JA. In der Schweiz kostet eine private Zusatzversicherung allein für die Krankenhäuser rund 800 Euro pro Monat. Für die ambulante Medizin in Arztpraxen oder in Krankenhäusern (ohne Übernachtungen) gibt es in der Schweiz keine Privatversicherung, also keine Zweiklassenmedizin. Um die vollen Kosten der Privatbehandlungen in Deutschland zu decken, müssten Ihre Prämien das Drei- bis Fünffache kosten. «Praktisch keine Beiträge» ist damit etwas provokativ formuliert, aber anders scheint die Botschaft in Deutschland nicht anzukommen.

  • am 3.03.2020 um 10:49 Uhr
    Permalink

    Fällt es jemandem auf? Weil wir so unterschiedliche Gruppen in Deutschland haben, die alle verschiedenen Kassen angehören, wird es nie eine Einigung, ganz zu schweigen Solidarität unter den verschiedenen Gruppen geben. Und das ist politisch gewollt. Wäre es anders, dann würden wir Massenhafte Proteste wie in Frankreich haben.

    Interessant wäre doch einmal im Vorfeld, heraus zu arbeiten, wie viele unterschiedliche Kassen es gibt. Ich weiß, Journalisten die Notare, Rechtsanwälte, Ärzte, Beamte und viele mehr «haben alle ihre eigenen Kassen» und deshalb wird es auch nie zu einer Einigung kommen können.

    Vielleicht könnte man einmal damit anfangen, die Beitragsbemessungsgrenzen abzuschaffen, Zeitgleich auch alle Steuerausnahmetatbestände für Reiche, wäre doch einmal ein Anfang. Gefolgt von der Einführung einer Vermögenssteuer, und einer Erbschaftssteuer die den Namen auch verdient.

    Aber da CDU/CSU/SPD/GRÜNE/FDP wirtschaftspolitisch eine Einheitspartei sind, wird sich auch schon deshalb nicht viel ändern, weil zusätzlich jetzt auch noch die AfD gewählt wird, die ja noch Neoliberaler ist als alle anderen Parteien zusammen. Und alle o.g. Parteien, bekommen regelmäßig bei demokratischen Wahlen, eine Mehrheit von 80% oftmals 85%

    Meine Frage deshalb, wie schaffen die das, dass eine Mehrheit regelmäßig Parteien wählt, die nur den reichen 10% nützen. Denn die Parteien werden seit 40 Jahren gewählt. Helfen tut Ihnen dabei wohl die Medien.

  • am 3.03.2020 um 14:03 Uhr
    Permalink

    Dem Beitrag kann man nur widersprechen.
    Es gibt Unterschiede bei den gesetzlichen Versicherungen.
    Private Versicherungen unterscheiden u.a. sehr stark in Neu- und Langzeitmitgliedern.
    Außerdem gibt es Privatzahler.

    Für versicherte war der bekannte Dr. Müller Wohlfahrt ( lange Arzt des FC Bayern ) tätig.
    Er kümmerte sich sehr, war oft bis spät abends in der Praxis. Das brachte laufenden Ärger mit gesetzlichen und privaten Kassen ein.
    Daraufhin entschloß er sich nur noch für Selbstzahler zu praktizieren.

    Privatversichert ist nicht immer ein Vorteil.
    Wer als Privatversicherter ins Krankenhaus kommt, ist ein Business Case, geht das volle Programm durch.

    Auch Privatzahler, ist nicht immer ein Vorteil.
    Eine Privatklinik in München hatte sinnlose Operationen für Privatzahler durchgeführt. Bis der Schwindel aufflog.

    Deutschland hat ein 5 Klassengesundheitssystem.
    Durch hunderte Krankenkassen, die per Gesetz nicht konkurrieren dürfen, wurde ein riesiger Büro Wasserkopf geschaffen.
    Der macht das Grsundheitssystem unnötig sehr teuer.

    Deutschland hat mit 56,5 Jahren, die viertniedridste gesunde Lebenserwartung der EU. Siehe homepage Professor Lauterbach
    Zum Vergleich in Norwegen sind es 13, Schweden 17, Japan 18 und Singapore fast 20 Jahre mehr !
    Das obwohl Norge + Sweden viel weniger pro Kopf, für Gesundheitswesen ausgeben.

    Zu Statistik gesetz/ privat versichert.
    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/155823/umfrage/gkv-pkv-mitglieder-und-versichertenzahl-im-vergleich/

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