Kommentar
Es flimmert nicht nur der Vorhof
Vor wenigen Tagen erhielt ich Kenntnis von einer neuen Leitlinie. Was ist das, eine Leitlinie? Eine Leitlinie ist die ultimative Zusammenfassung des gegenwärtigen Kenntnisstandes über eine Krankheit und ihre Behandlung, State of the art der medizinischen Wissenschaft. Leitlinien sind keine Vorschriften, keine Behandlungsgesetze, aber wenn man von ihnen abweicht, muss man sehr gute Gründe haben.
Leitlinien sind für Ärzte und Ärztinnen hilfreich, damit sie Fehler vermeiden können. Da niemand die Fülle medizinischwissenschaftlicher Erkenntnisse – selbst im eigenen Fachgebiet – überschauen kann und weil die medizinische Wissenschaft immer in Bewegung ist, weil immer neue Erkenntnisse dazukommen, müssen Leitlinien regelmässig überprüft und aktualisiert werden. Leitlinien sind fundierte und evidenzbasierte Hilfsmittel, dank derer sich Ärzte und Ärztinnen im klinischen Alltag besser orientieren können.
Zu jeder Leitlinie gehört heutzutage ein Anhang, in dem die Autor:innen ihre Interessenkonflikte darlegen müssen. Was ist das, ein Interessenkonflikt? Ein solcher entsteht immer dann, wenn gegensätzliche Interessen in ein und derselben Person aufeinandertreffen. Zwei Herzen schlagen in der Brust, sagt man dann.
Schluss mit der Unabhängigkeit
An sich dürfte es keine guten oder schlechten Leitlinien geben, aber wenn beispielsweise ein Leitlinien-Autor ein Medikament beurteilen soll und gleichzeitig von der Herstellerfirma zu hochdotierten Vorträgen oder Reisen eingeladen wird, dann ist es aus mit dessen Unabhängigkeit. Oder wenn eine Ärztetagung von Pharmakonzernen mit grossen Summen gesponsert wird, kann man den Aussagen auf dieser Tagung nicht unbedingt über den Weg trauen.
Nach dieser langen Vorrede werfen wir nun einen Blick auf die zu Beginn erwähnte Leitlinie, bei der es sich um die neuste, europaweit gültige Leitlinie zur Behandlung des Vorhofflimmerns handelt. Was ist das, ein Vorhofflimmern? Bei dieser Herzrhythmusstörung pulsieren die Vorhöfe unregelmässig und zu schnell. Es kann zu Embolien, Schlaganfällen oder einer Herzinsuffizienz kommen.
Da in Deutschland etwa 300’000 Menschen davon betroffen sind, ist eine solche Leitlinie von sehr grosser Bedeutung. Umso wichtiger ist es also für die Betroffenen, dass sie sich auf die Unabhängigkeit der Leitlinienautor:innen verlassen können. Wie sieht es in diesem Fall damit aus?
Die meisten haben Interessenskonflikte
Die Leitliniengruppe umfasst hier 26 Autoren. 23 von Ihnen geben im Durchschnitt 3,9 Interessenkonflikte an. Die beiden federführenden Autoren sind sogar mit fünf beziehungsweise neun Pharma- und Medizinproduktefirmen verbunden. Man braucht nicht viel Fantasie, um deren Einfluss auf das aktualisierte Behandlungskonzept des Vorhofflimmerns zu erahnen.
Die kritische Ärztevereinigung Mezis schreibt dazu: «Über 90 Prozent der ReferentInnen, die bei gesponserten Veranstaltungen Vorträge hielten, hatten zuvor Gelder von den sponsernden Pharmafirmen erhalten. Dabei sind die Sponsoringsummen für eine Tagesveranstaltung mit bis zu 200’000 Euro exorbitant hoch. Ärztinnen und Ärzte werden mit kostenlosen Fortbildungen und einem leckeren Essen geködert, so dass die Vorträge reine Werbeblöcke der sponsernden Firmen sind.»
Keine Fortbildungspunkte
Erstmals 2018 verweigerte die Ärztekammer Baden-Württemberg einer Tagung wegen massivem Industrie-Sponsoring die Zertifizierung, so dass den Teilnehmer:innen keine der begehrten Fortbildungspunkte bescheinigt werden konnte. Leider sind dem bis heute nicht alle Ärztekammern gefolgt, weswegen es immer noch gekaufte Vorträge, gekaufte Veranstaltungen und gekaufte Leitlinien gibt. Man kann hinschauen, wohin auch immer – es ist ein Grauen.
Ein krasses Beispiel für Industrienähe und Interessenskonflikte aus jüngerer Zeit war das Covid-Symposium der Paul-Martini-Stiftung im November 2023 in Berlin. Schirmherrin war sogar die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Die als Veranstalter firmierende Paul-Martini-Stiftung wird von 48 Unternehmen der Pharmaindustrie finanziert. Die Begrüssungsrede durfte der Managing Director der Firma Pfizer halten. Er sass neben dem Medical Director von Biontec auch auf dem Podium.
Die Veranstalter hatten eine Fortbildungszertifizierung beantragt. Obwohl dies nach den Regeln der Ärztekammer Berlin nicht anerkennungsfähig ist, wurde die Veranstaltung trotzdem mit elf Fortbildungspunkten bedacht. Ausserdem darf dieser Veranstalter munter weiter wirken, demnächst am 30. November, wieder in Berlin. Die Punkte sind schon beantragt. Wann hat das endlich ein Ende?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Dieser Kommentar des Arztes und Autors Bernd Hontschik erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau.
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ihre Meinung
Lade Eingabefeld...