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Sollen gegen Heisshungerattacken helfen: Lemme-Kapseln. © Instagram / Lemme

Nestlé und Co. heilen Krankheiten, die sie selbst verursachen

Philippe Stalder /  Nahrungsmultis machen aus Fettleibigkeit ein Geschäftsmodell – und umgehen dabei Gesetze zu medizinischen Produktangaben.

Sie schiebt den roten Einkaufswagen durch die Gänge eines US-amerikanischen Lebensmittelhändlers und wirft eine Packung Kaffee, einen Behälter mit Eiscreme sowie eine Schachtel Tiefkühlpizza hinein. 

«Was haben diese drei Produkte gemeinsam?», fragt die Einkaufs-Influencerin Joanna Mitru ihre über 500’000 Follower rhetorisch auf Instagram.

«Richtig, sie alle können ernsthafte Beschwerden verursachen.»

Als Nächstes präsentiert Mitru drei Nahrungsergänzungsmittel der Marke Wonderbelly aus einem anderen Regal – in den Geschmacksrichtungen Erdbeermilkshake, Wassermelone-Minze und fruchtiges Müsli. Angeblich sollen sie Sodbrennen und sauren Reflux lindern. 

Nun kann die Influencerin ihr Cookies-and-Cream-Eis nach der Quattro-formaggi-Tiefkühlpizza und einer Tasse Instant-Kaffee also bedenkenlos schlemmen.

Fertiggerichte für Kinder

Hinter dem Gegenmittel für Magenbeschwerden steht der Investmentfonds AF Ventures, der vom französischen Lebensmittelriesen Danone mitbegründet wurde. AF Ventures investiert gleichzeitig auch in Chips, Brezel und Fertiggerichte für Kinder. 

Gemäss ihrer Website hat Danone es sich zur Aufgabe gemacht, «die Gesundheit so vieler Menschen wie möglich durch Ernährung zu verbessern». Doch der Lebensmittelhersteller stellt auch gesüsste Joghurts für Kinder her, die nach Angaben des Diabetes-Fonds zwei Würfelzucker pro Portion enthalten. Ebenfalls Teil des Danone-Sortiments: Erdbeerjoghurt mit nur 2,6 Prozent Erdbeeranteil, dafür gespickt mit bunten, zuckerhaltigen Schokokugeln.

Der französische Lebensmittelkonzern steht mit diesem Widerspruch nicht alleine in der Nahrungsmittellandschaft. Wie das niederländische Magazin «The Investigative Desk» herausfand, investieren fünf der zehn grössten europäischen Hersteller industriell stark verarbeiteter Lebensmittel ebenfalls in Produkte, die angeblich Krankheiten bekämpfen, die durch eine ungesunde Ernährung verursacht werden können. Und profitieren damit von der vermeintlichen Lösung eines Problems, das sie selbst mitverursacht haben.

So bieten Nestlé, Mars, Danone, Unilever und Kraft-Heinz Produkte aus den Sparten Gewichtsreduzierung und medizinische Ernährung für Diabetiker sowie Behandlungen für Verdauungsprobleme an.

Ausserdem bieten sieben der zehn grössten Nahrungsmultis – Nestlé, Mars, Danone, Unilever, Pepsi-Co, General Mills und Kella-Nova – gar Nahrungsergänzungsmittel mit gesundheitsbezogenen Versprechen an. Etwa zur Vorbeugung von Alzheimer, Asthma und Krebs.

Überzuckerte und stark industriell verarbeitete Nahrungsmittel sind einer der Hauptgründe für Adipositas. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bereits heute knapp 60 Prozent der Europäer entweder übergewichtig oder sogar adipös.

Übergewichtige Menschen haben ein höheres Risiko für chronische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, bestimmte Krebsarten und Schlafapnoe. Übergewicht und Adipositas gehören nach Angaben der WHO zu den häufigsten Todesursachen in Europa mit schätzungsweise 1,2 Millionen Todesfällen pro Jahr, was etwa 13 Prozent der Gesamtsterblichkeit entspricht.

Abnehmen ohne Änderungen am Lebensstil

Seit der Jahrhundertwende und mit der Ausbreitung von Adipositas haben immer mehr Lebensmittelhersteller in den Gesundheitssektor investiert. 

Wie «The Investigative Desk» herausfand, investierten die grossen Nahrungsmultis in fast 100 Unternehmen aus dem Gesundheitssektor. Die meisten dieser Investitionen wurden während der letzten zehn Jahre getätigt.

Der grösste Investor in diese neue Strategie ist Nestlé mit rund 50 Investitionen im Gesamtwert von 2,8 Milliarden Euro. Unilever hat indes in mindestens 24 Unternehmen des so genannten «Health & Wellbeing»-Sektors investiert und verfügt über ein Portfolio im Wert von mehr als einer Milliarde Euro.

Nestlé, unter anderem ein Hersteller von Schokolade und Tiefkühlpizza, investiert in Abnehmprogramme und Mahlzeiten-Ersatzprodukte – etwa in die deutsche Schlankheitsmarke Bodymed, die Nestlé 2020 übernommen hatte.

Unilever, das Produkte wie Mayonnaise, geräucherte Würstchen und Eiscreme herstellt, ist über seine Investmentabteilung Unilever-Ventures Miteigentümer des Fettverbrennungs-Zusatzstoffherstellers Lemme. 

Das von US-Reality-Star Kourtney Kardashian gegründete Unternehmen vertreibt Pillen, die Heisshungerattacken unterdrücken und Cellulitis bekämpfen sollen. Sie sind in attraktiv gestalteten Gläsern verpackt und kosten etwa 35 Euro das Glas.

Indem sie vermeintlich schnelle Lösungen anbieten, gaukeln die Hersteller den Verbrauchern vor, dass sie einfach eine Pille oder ein Pulver kaufen können, um Gewicht zu verlieren, anstatt die notwendigen Änderungen am Lebensstil vorzunehmen.

Fragwürdige Etikettierung

Die Investitionen der Lebensmittelindustrie weisen Ähnlichkeiten mit den Strategien der Tabakhersteller auf. Die Tabakindustrie verdient ihr Geld nicht nur mit Zigaretten, sondern auch mit dem Verkauf von Medikamenten gegen Krankheiten, die durch das Rauchen verursacht oder verschlimmert werden. Wie etwa Asthma und Krebs.

In den Presseabteilungen der Nahrungsmultis sieht man das jedoch weniger problematisch: «Wir glauben, dass eine ausgewogene Ernährung, kombiniert mit regelmässiger Bewegung, der beste Ansatz für einen gesunden Lebensstil ist. Dazu passen auch Genussmittel», sagte Anya Pieroen, Leiterin der Abteilung Corporate Communications & Affairs bei Nestlé, gegenüber der Rechercheplattform Follow the Money

Eine Sprecherin von Danone antwortete gegenüber derselben Plattform: «Unsere Mission ist es, so vielen Menschen wie möglich Gesundheit durch Lebensmittel zu bringen. Seit Jahrzehnten entwickeln wir unser Angebot in Kategorien, die mit einer täglichen gesunden Ernährung zu tun haben.»

Das EU-Recht unterscheidet zwischen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Zwar gibt es in der EU Gremien zur Bewertung von Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln, doch in der Praxis erweist sich die Trennlinie zwischen den beiden Bereichen als sehr dünn.

Auch für die Schweiz hält das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) fest: «Nahrungsergänzungsmittel befinden sich oft im Graubereich zwischen Lebensmitteln und Heilmitteln. Sie dürfen keine pharmakologische Wirkung entfalten. Sie dürfen auch nicht als Arzneimittel aufgemacht oder mit Hinweisen zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beworben werden. Für eine korrekte Zuordnung eines Produktes ist immer eine Gesamtbetrachtung erforderlich.»

Wenn ein Unternehmen beispielsweise behauptet, dass ein Produkt bei der Behandlung oder Vorbeugung von Diabetes hilft, sollte dies als medizinische Angabe betrachtet werden. 

Aber die Nestlé-Tochter Bodymed sagt über ihren Frühstücksshake: «Mit einem eiweissreichen Frühstück betrügen Sie Ihren Körper, weil Ihr Blutzucker- und Insulinspiegel kaum ansteigt.»

Der Durchschnittsverbraucher könnte bei einer solchen Angabe aber einen Zusammenhang mit Diabetes herstellen.

Zahl der Gesundheitsprodukte steigt rapide an

Gemäss der niederländischen Behörde für Lebensmittel- und Verbraucherproduktsicherheit (NVWA) steigt die Zahl angeblicher Gesundheitsprodukte, die insbesondere in sozialen Medien beworben werden, rapide an.

Nestlé hatte im Jahr 2023 einen Umsatz von rund 95 Milliarden Dollar, während der Umsatz von Danone fast 28 Milliarden Dollar betrug. Derweil werden die jährlichen Gesamtkosten der Fettleibigkeit bei Erwachsenen in der EU auf 70 Milliarden Euro geschätzt – einschliesslich der Kosten für das Gesundheitswesen und die verlorene Produktivität.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Zum Infosperber-Dossier:

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Zu wenig Bewegung, zu viel Zucker

Übergewicht ist eine Zivilisationskrankheit. Heimtückisch ist versteckter Zucker in Fertig-Nahrungsmitteln.

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3 Meinungen

  • am 8.09.2024 um 15:18 Uhr
    Permalink

    Auf Schweizerbauern heisst es: Schweine sind Allesfresser. Sie verwerten deshalb viele Nebenprodukte aus der Lebensmittelproduktion. Und auf Welt Print heisst es am 03.11.2009: «Schweine sind in Größe und Erbgut dem Menschen recht ähnlich,…» GEO 06/16 Christian Schwägerl meinten am «Unser Verlangen nach Süßem ist angeboren. Doch im Übermaß genossen, kann Zucker zu Veränderungen im Gehirn führen. Und süchtig machen» Möglich, dass die Grossmanager der Lebensmittelkonzerne erkannt haben könnten, wenn das Schwein alles frisst und ein ähnliche Erbgut wie der Mensch hat, dann wird der Konsument auch alles geniessen dürfen, wenn es mit viel Zucker und Aromastoffen angereichert ist. Sollte das Mästen gesundheitlich Probleme verursachen, dann bräuchte es wohl Wundermittel, um die Illusion zu haben alles essen zu können, um gesund und schlank zu bleiben. Und die Boni fliessen in strömen in die Tröge und die Sucht ist befriedigt?
    Gunther Kropp, Basel

  • am 9.09.2024 um 09:10 Uhr
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    Man kann diese Probleme fast zur Gänze vermeiden, indem man wieder selber mit Grundnahrungsmitteln kocht. Aber offenbar sind die Menschen noch nicht so weit in ihrer Erkenntnis und konsumieren aus Trägheit weiterhin ‹Junk-Food›, lassen sich chemische Fleischersatzprodukte und Insekten aufschwatzen.
    Der Mensch, auf der Suche nach dem Schlaraffenland wird träge und fett und ist nicht mehr in der Lage, selbst zu handeln und zu denken, da ihm alles mundgerecht und leicht erreichbar präsentiert wird. Sobald sich das ändert, sind auch die Food-Multis nicht mehr aktuell mit ihrem Schrottfras.

  • am 10.09.2024 um 20:06 Uhr
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    Die Gesundheitsbehörden haben es nicht leicht, und so manche Studie trägt auch nicht zur Qualität bei.
    Ganz richtig kann sie es daher gar nicht machen.
    Was sie jedoch könnte, ist den Leuten reinen Wein einschenken und zu jedem Entscheid die Grundlagen inklusive der diesbezüglichen Studien online zur Verfügung stellen. Dazu passend wäre eine gute Suchfunktion und eine Kontaktadresse für eine sachbezogene Diskussion anzubieten.
    Da dies nicht getan wird, bleibt es dem Konsumenten unmöglich, auf sachliche Fehler oder durch eine Regelung angerichteten Schaden hinzuweisen.

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