Endlich Klartext zu den untragbar steigenden Kassenprämien
Eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern zahlt im nächsten Jahr 1000 Franken mehr Prämien. Das berechnete die «NZZ». Höhere Prämien ohne entsprechenden Zusatznutzen haben extrem unsoziale Folgen.
Die Kosten von fast 40 Milliarden Franken oder 4500 Franken pro Kopf für die obligatorische Grundversorgung müssten längst nicht so hoch sein. Das zeigen folgende Tatsachen und Vergleiche:
- Innerhalb der Schweiz gibt es grosse Kosten- und Prämienunterschiede. Im Kanton Appenzell Innerrhoden beträgt die Monatsprämie im Jahr 2024 durchschnittlich 246 Franken, in den Kantonen Basel-Stadt und Genf 450 Franken. Der Unterschied beträgt 83 Prozent. Wohlgemerkt: Dem Appenzeller werden alle Kosten berechnet, auch wenn er sich in St. Gallen oder Zürich behandeln lässt.
- Selbst in Regionen, die punkto Bevölkerungsstruktur vergleichbar sind, gibt es erhebliche Unterschiede. Im Kanton Waadt beispielsweise sind die Prämien im nächsten Jahr um stolze 26 Prozent höher als im vergleichbaren Kanton St. Gallen. Doch die Profiteure, die am Gesundheitssystem verdienen, haben kein Interesse daran, die Gründe zu erforschen. Im schlimmsten Fall könnte sich ja herausstellen, dass die St. Galler trotz viel tieferer Kosten ebenso gut versorgt sind wie vergleichbare Waadtländer.
- Ein Vergleich mit Dänemark, Norwegen, Schweden oder Holland, die ähnliche Bevölkerungsstrukturen wie die Schweiz aufweisen, zeigt: Schweizerinnen und Schweizer müssen häufiger und länger in einem Spital liegen, werden häufiger operiert, suchen viel häufiger einen Spezialisten auf und schlucken auch mehr Medikamente. Trotzdem leben Schweizerinnen und Schweizer mit einem gleichen sozialen und wirtschaftlichen Status nicht länger als in den erwähnten Vergleichsländern.
- Es fällt auf, dass es in der Schweiz verglichen mit diesen vier Ländern pro Kopf viel mehr Spezialarzt-Praxen gibt.
Selbst innerhalb der Schweiz sind die Prämien dort deutlich höher, wo es besonders viele Spezialisten gibt wie etwa in den Kantonen Waadt, Bern und Zürich sowie in den Stadtkantonen Basel und Genf. Niemand hat untersucht, ob vergleichbare Patientinnen und Patienten dank mehr Spezialisten-Besuchen gesünder sind. Im schlimmsten Fall könnte sich ja herausstellen, dass dem nicht so ist. - Laut Statistik der OECD gibt es in der Schweiz im Verhältnis zu den Einwohnern mehr als doppelt so viele Spitalbetten wie in Schweden, 60 Prozent mehr als in Dänemark, fast 50 Prozent mehr als in den Niederlanden und rund 30 Prozent mehr als in Norwegen. Ähnliche Unterschiede gibt es bei den Zahlen der Intensivbetten pro Einwohner.
Selbstredend gibt es in der Schweiz auch viel mehr Spitäler. Etliche kleinere Spitäler führen heikle Operationen nur einmal im Monat oder noch weniger durch – das Risiko der fehlenden Routine tragen die Patientinnen und Patienten. Infosperber hat mehrmals darüber berichtet. - In Schweizer Spitälern erleiden – nach konservativer Schätzung des BAG –jährlich über 120’000 PatientInnen infolge falscher oder verspäteter Diagnosen, Infektionen, Behandlungsfehlern oder unzweckmässiger Medikation einen gesundheitlichen Schaden. Sie müssen nochmals operiert oder nachbehandelt werden – mit allen Kostenfolgen.
Die Hälfte dieser Schäden wäre vermeidbar. Diese Angaben machte das BAG vor einigen Jahren. Seither hat sich an diesen Zahlen kaum etwas verändert. - Für Medikamente schliesslich müssen die Krankenkassen in keinem Land Europas so viel Geld ausgeben wie in der Schweiz. Einschliesslich der Spitalmedikamente verschlingen sie fast jeden vierten Prämienfranken. Die Krankenkassen werden sogar gezwungen, auch viele unwirtschaftliche und unzweckmässige Medikamente zu vergüten.
Aus allen diesen Gründen überrascht es nicht, dass die Kosten für die soziale und obligatorische Grundversicherung – ob mit Prämien oder Steuern bezahlt – in der Schweiz pro Kopf bedeutend höher sind als in den Vergleichsländern Dänemark, Norwegen, Schweden oder Holland. Der Unterschied wäre noch grösser, wenn man berücksichtigt, dass die Grundversicherung in der Schweiz – anders als in den anderen Ländern – keine Zahnarztkosten deckt.
Warum die Grundversorgung in der Schweiz so viel teurer ist, kann man weder medizinisch erklären noch mit Gründen der öffentlichen Gesundheit. Auch die Kaufkraft ist in der Schweiz kaum grösser, wenn überhaupt, als in den genannten Ländern.
Deshalb ist es grotesk, wenn die Profiteure dieser hohen Kosten und Politiker immer wieder behaupten, man könne die exorbitanten Kosten in der Schweiz nicht stabil halten, geschweige denn senken.
Statt Remedur zu schaffen, begründen die Profiteure des 40-Milliarden-Kuchens und angediente Politikerinnen und Politiker die hohen Kosten mit der Alterung der Bevölkerung, dem technischen Fortschritt oder mit zu vielen Leistungen in der Grundversicherung.
Behörden machen beim Ablenkungsmanöver der Profiteure mit
Statt die Öffentlichkeit für die Gründe der übermässigen Kosten zu sensibilisieren und Remedur vorzuschlagen, achten Spitäler, Apotheken, Ärzteorganisationen und Pharmakonzerne und deren Lobbyisten wachsam darauf, ja keinen Anteil am grossen finanziellen Kuchen zu verlieren.
Zu diesem Zweck lenken sie die öffentliche Diskussion auf Nebengeleise. Die Behörden, die unter Druck stehen, machen weitgehend mit und übernehmen folgende Argumente:
- Die «Krankenkassen» seien schuld:
Die Krankenkassen sind jedoch die falschen Ansprechpartner, wenn es um die übermässig steigenden Prämien der Grundversicherung geht. In der obligatorischen Grundversicherung funktionieren die Kassen nur als Zahlstellen. Sie sind gesetzlich verpflichtet, zu fixen Preisen sämtliche Grundversicherungs-Leistungen, welche Ärzte oder Spitäler den Kassen in Rechnung stellen, ohne Ausnahme zu vergüten.
Solange dieser «Vertragszwang» gilt, alle Kassen die gleichen Tarife vergüten müssen und mit Ärzten, Spitälern und Apotheken nicht individuell verhandeln dürfen, kann die Vielfalt der Kassen als Luxus gesehen werden. Doch nur noch eine einzige Kasse würde nichts daran ändern, dass die Prämien aus den genannten Gründen weiter steigen – ausser der Staat hätte im System noch das einzige Sagen.
- Die «Alterung der Bevölkerung» sei schuld:
Auf Anhieb tönt dies plausibel und soll zeigen, dass gegen die Kostensteigerung nichts zu machen sei.
Doch Statistiker sind sich weitgehend einig, dass der steigende Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung lediglich einen Fünftel der jährlichen Kostensteigerung verursacht (siehe: «Gesundheitskosten: Die Alten als faule Ausrede»). - Der «medizinisch technische Fortschritt» sei schuld:
Diesen gibt es zwar und die meisten sind damit einverstanden, bei entsprechendem Nutzen den Preis dafür zu zahlen. Allerdings ist es nicht einsichtig, weshalb der technische Fortschritt – wie überall sonst – nicht ebenfalls dazu führt, dass bestimmte Leistungen günstiger erbracht werden können. Bei den Labors oder den Operationen des Grauen Stars beispielsweise ist dies der Fall. Doch dann vergehen jeweils viele Jahre, bis die Tarife gesenkt werden.
Teure technische Geräte müssen ausgelastet werden, damit sie sich amortisieren. Wenn es zu viele davon gibt – wie in der Schweiz – gelingt die Auslastung nur mit Überbehandlungen. Deren Kosten wären vermeidbar. Überbehandlungen bringen nur Einnahmen, jedoch keinen Nutzen, nicht selten sogar Schaden. - «Neue bahnbrechende Medikamente» seien schuld:
Tatsächlich tragen diese zur Kostensteigerung stark bei. Doch mindestens ein Drittel von ihnen ist nicht besser als bisherige Behandlungen, wie sich später herausstellt. Und in vielen Fällen werden sie unzweckmässig verschrieben: Extrem teure Medikation in den letzten Lebenswochen verlängert oft weder das Leben noch verbessern sie die Lebensqualität.
Die Pharmalobby sorgt dafür, dass die Krankenkassen in keinem Land Europas so viel für Medikamente ausgeben müssen wie in der Schweiz. Diese Tatsache wird weder von Politikern noch vom BAG so ausgesprochen.
In den Vergleichsländern ist beispielsweise die Abgabe von Generika vorgeschrieben, ausser ein Arzt schreibt aus medizinischen Gründen das Original vor. Auch müssen die dortigen Krankenkassen sowohl für Originalpräparate als auch für Generika nicht so hohe Preise zahlen wie die Kassen in der Schweiz.
Bei den kostspieligen Überbehandlungen wird zugeschaut
Noch immer gibt es Spitäler, in denen Chirurgen sogar Prämien erhalten, wenn sie häufiger operieren. Die Spitalfinanzen sehen besser aus, wenn Betten und Geräte möglichst ausgelastet sind.
Falsche finanzielle Anreize und ein Übermass an teurer Technik führen zu unzweckmässigen Operationen, welche Chirurgen an ihren Verwandten und Freunden nie durchführen würden. Und es kommt zu unnötigen Untersuchungen mit Herzkathetern, Röntgenbildern, Computertomographien, Blutentnahmen usw.
Manche Politiker sprechen die «falschen Anreize» an, die zu Überbehandlungen verleiten, welche für die Betroffenen nur Nebenwirkungen und Risiken, aber keinen Nutzen bieten. Doch konkrete Vorschläge hatten im Parlament keine Chance, denn es könnten ja Teile des 40-Milliarden-Kuchens wegfallen. Mitte-Nationalrat Gerhard Pfister muss es aus eigener Erfahrung wissen: «Die Interessengruppen sind so ineinader verzahnt, dass sie im Parlament fast immer eine Mehrheit haben. Es gibt zwar viele Akteure im Gesundheitswesen, aber keiner hat wirklich ein Interesse an tieferen Kosten» (NZZ vom 27.9.2023).
Je mehr ein Spezialist eine Patientin behandelt, desto mehr verdient er
Spezialisten wie Urologen, Herzkreislauf-Ärzte oder Dermatologen verdienen in ihrer privaten Praxis an jedem einzelnen Behandlungsschritt. Das ist ein absurder Anreiz: Mit jeder erbrachten Einzelleistung erhöhen diese Ärzte ihr Einkommen. Dieses steigt, wenn sie Patientinnen und Patienten weniger schnell gesund bekommen statt umgekehrt.
Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass in der Schweiz – trotz bereits überdurchschnittlich vieler Spezialisten-Ärzte – stets ein «Ärztemangel» herrschen wird.
Anders in Holland und in den meisten andern Ländern Europas: Dort sind die Ärzte – auch die Hausärzte – angestellt oder pro Anzahl Patientinnen und Patienten pauschal bezahlt.
Mit höheren Franchisen und Selbstbehalten lenken Lobbyisten und Politiker ab
Über das Verteilen der Kosten wird öffentlich gerne debattiert. Die Profiteure des Systems sind für manche Finanzierungsmodelle zu haben, so lange die Finanzierung das weitere Wachstum des heutigen 40-Milliarden-Kuchens nicht gefährdet. Nicht weh tun den Profiteuren beispielsweise höhere Franchisen oder höhere Selbstbehalte. Die Kassen müssten einfach etwas weniger zahlen, dafür die Versicherten etwas mehr aus der eigenen Tasche.
Deshalb erstaunt es nicht, dass Politiker und einige Ökonomen höhere Selbstbehalte oder höhere Franchisen fordern, anstatt den Hebel bei den Spitälern, Spezialisten, Apothekern, der Pharmaindustrie und den Prothesenherstellern anzusetzen. Der Fokus auf höhere Franchisen und Selbstbehalte ist eine Augenwischerei, denn diese haben auf die Kosten, welche Spitäler, Spezialisten und Medikamente verursachen, keinen messbaren Einfluss. Schon heute zahlt man in der Schweiz einen viel höheren Anteil der Grundversorgungskosten aus der eigenen Tasche als in Holland, Dänemark, Norwegen oder Schweden – ohne dass dies die Kosten in der Schweiz gesenkt hätte.
Die Profiteure müssen Federn lassen
Für Experten der Öffentlichen Gesundheit ist klar: Der Gesundheitszustand der Bevölkerung und die Lebenserwartung hängen nicht davon ab, dass Spitäler, Spezialisten-Ärzte, Apotheker und Pharmafirmen noch mehr Geld erhalten.
Weil die Reichsten selbst in der Schweiz zehn Jahre länger leben als die sozial Schwächsten, kann man die durchschnittliche Lebenserwartung effizienter erhöhen, indem man Armut verhindert. Und den Anteil der Lebensjahre in guter Gesundheit erhöht man bei uns besser mit Anreizen zu mehr Bewegung und ausgewogenerem Essen sowie mit anderer Prävention als mit noch mehr Milliarden für die Gesundheitsindustrie.
Die Politik könnte das Übel der Kostenexplosion an der Wurzel packen und dafür sorgen, dass die Kosten der medizinischen Grundversorgung in der Schweiz in absehbarer Zeit nicht mehr höher sind als in Holland oder in Skandinavien. Es braucht andere Vergütungssysteme (kein Herumdoktern am bürokratischen Tarmed), andere finanzielle Anreize, stark geförderte Hausarztmodelle und integrierte Versorgungen wie etwa das neue Netzwerk «Réseau de l’Arc» im Jura.
Nur eine mutige radikale Reform würde dafür sorgen, dass die Profiteure nicht mehr abzocken könnten.
- Dann müssten die Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr häufiger und länger in einem Spital liegen als die Holländer, Dänen, Norweger oder Schweden.
- Sie müssten nicht mehr so viele Medikamente einnehmen.
- Die Gesundheits-Akteure wären endlich auch finanziell daran interessiert, dass die Patientinnen und Patienten möglichst rasch wieder gesund werden. Heute verdienen sie desto mehr, je länger man krank ist und je mehr sie behandeln können.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Selbstverständlich müssten wir mit viel mehr Sicherheit der Patientinnen, Patienten und des Personals nicht «nur» grosses Leid ersparen, sondern könnten auch viel Geld sparen. Das ist seit Jahren, Jahren bekannt. Ich habe das Buch Zwischen Sorge, Hoffnung und Vertrauen, Patienten, Patientinnen, Personal – mehr Sicherheit für alle, im Juni 2023 veröffentlich. Selbstverständlich nehme ich alle relevanten Aspekte der Sicherheitskultur auf – doch auch die Medien interessieren sich kaum für das Buch. Jedenfalls bis jetzt.
Vorschlag zur Problemlösung: In Gemeinden und Stadtquartieren werden ungefähr je 5000 Anwohner:innen Gesundheitszentren geschaffen, die qualitativ hochstehende ärztliche Unterstützung sowie die notwendigen Medikamente anbieten. Das dort tätige Fachpersonal bestimmt ob ein Fall so gravierend ist, dass eine Einweisung in eine geeignete Pflegeeinrichtung notwendig wird. Die Zentren sind für die allgemeine Gesundheit zuständig, Spitäler für schwerwiegende Fälle, Pflegeinstitutionen für langfristige Behandlungen. Hausärzte in Einzelpraxis und Privat-Apotheken decken den Markt ausserhalb der Versicherung ab. Die Ärzte, das Pflege- und Apothekenpersonal sind von einer Genossenschaft angestellt und werden nach verhandeltem Tarif bezahlt. Und, schwupp, sind die Gesundheitskosten halbiert.
Endlich ein Beitrag, welche die wahren Gründe für die Kostenexplosion zeigt.
Es zeigt auch auf, dass eine Einheitskasse die wahre Problematik nicht lösen würde. Einheitskasse ist höchstens bequemer, man muss nicht jährlich die Prämien der verschiedenen Kassen vergleichen und ev. kündigen und neu anmelden.
Wer immer noch meint, es läge an hohen Verwaltungskosten, wo es tatsächlich hohe Unterschiede gibt kann hier vergleichen:
https://www.priminfo.admin.ch/downloads/Verwaltungskosten_D.pdf
Was es auf jeden Fall braucht ist eine Reform der Grundversicherung. Alle «Lifestyle» Leistungen gehören AUS der Grundversicherung und in Zusatzversicherungen. Alle zum Überleben und Wiederherstellung der Gesundheit nötigen Massnahmen wie Rettungswagen, medizinisch notwendige Zahnbehandlungen usw. gehören IN die Grundversicherung.
https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/gesundheitswesen_diese-10-medizinischen-leistungen-muessen-sie-in-der-schweiz-selbst-bezahlen/44220308