«E-Bike-Fahren wirkt fast wie ein Medikament»
Unser Nachbar fährt jeden Morgen 16 Kilometer mit dem Velo. Bei jedem Wetter. Am Nachmittag auch. Macht täglich 32 Kilometer. Und wenn er Lust hat, fährt er die Runde auch noch am Mittag. Dann werden es 48 Kilometer.
Unser Nachbar ist 93!
Stolz sagt er: «Ich fahre mit meinem eigenen Motor.»
Das kann nicht jeder von sich behaupten, der auf zwei Rädern unterwegs ist. Der Anteil der motorgetriebenen Velos an den gesamten Verkaufszahlen steigt und steigt. Von den 395’000 Velos, die der Fachhandel und die Grossverteiler im letzten Jahr verkauft haben, sind über 172’000 motorbetrieben. Der Anteil der E-Bikes an den Gesamtverkäufen liegt inzwischen bei 44 Prozent. Vor zehn Jahren waren es noch 18 Prozent.
Auch bei Jungen
Der Anstieg ist nicht weiter erstaunlich. E-Bikes erfreuen sich nicht nur bei älteren oder unsportlichen Personen zunehmender Beliebtheit. Auch viele junge und sportliche Menschen steigen auf ein Velo mit Motor um.
Warum sollen sie sich auch mit einem Velo ohne Motor abmühen? Schliesslich ist in letzter Zeit immer wieder in Medien zu lesen, wie gross der gesundheitliche Nutzen beim E-Bike-Fahren angeblich sei. Gerne zitiert wird etwa die Studie der Leibniz-Universität Hannover und der Medizinischen Hochschule Hannover von Ende 2022.
Die Experten-Gruppe ist keine Experten-Gruppe
Die Studie ist nicht über alle Zweifel erhaben. Studienpartner ist nämlich die Zweirad-Experten-Gruppe (ZEG). Eine Experten-Gruppe ist das allerdings nicht. Der offizielle Name lautet Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG). Sie ist Besitzerin von über einem Dutzend Fahrradmarken – darunter dem E-Bike-Hersteller Flyer aus Huttwil BE. Die ZEG ist also keine unabhängige Experten-Gruppe, sondern ein Velo- und E-Bike-Hersteller, der seine Produkte vermarkten will.
Angesichts dieses Partners ist es kein Wunder, dass die Studie günstig ausfiel. Sie ergab, dass E-Bike-Fahrer während der untersuchten vier Wochen fast gleich lange unterwegs waren wie Fahrer richtiger Velos. Und dass der Puls im Schnitt nur acht Schläge niedriger war. Das heisst: E-Bike-Fahrer strengen sich fast gleich stark an wie Fahrer normaler Velos. Zumindest wenn sie – wie im Studiendesign vorgesehen – nur mit geringer Motoren-Unterstützung fahren.
Schon vor Studienbeginn klar
Was dann alles in die Studie hineininterpretiert wurde, ist schon erstaunlich. SRF schrieb: «E-Bike-Fahren senkt unser Herzinfarktrisiko um 40 Prozent.» «Focus»: «Das E-Bike ist ein echter Fitmacher.» Und das «Velojournal»: «E-Bike-Fahren wirkt fast wie ein Medikament.» Die Schlagzeile gründet auf einer Aussage des Hannoveraner Sportmediziners Uwe Tegtbur. Er hatte gesagt: «Die Ausdauereinheit auf dem E-Bike ist wie eine Blutdrucktablette.»
Gesundheitlicher Nutzen ohne Anstrengung?
«Focus» verstieg sich gar zur Behauptung: «Experten sind sich längst einig – dass eine E-Bike-Tour trotz – oder eben gerade wegen – des Motorantriebs ein effektives Fitnesstraining ist.» Das ist eine steile These, dass das Training «wegen des Motorantriebs» effizient sei.
Auffallend ist, wie Wissenschaft, Industrie und Medien ständig den Eindruck erwecken, ein gesundheitlicher Nutzen sei auch ohne Anstrengung zu haben. Doch kaum jemandem scheint bewusst zu sein, wie wenig man leisten muss, wenn man mit einem modernen E-Bike unterwegs ist.
Mit den ersten E-Bikes war die Fahrt noch einigermassen anstrengend. Der «Flyer Classic», der Mitte der neunziger Jahre auf den Markt kam, verdoppelte die Energie, die der Velofahrer aufbrachte in etwa. Seither haben die Hersteller die Leistung der Motoren aber deutlich erhöht und die Kapazität der Akkus vergrössert.
Nur noch 20 Prozent
Bosch, einer der führenden Motorenhersteller, bietet für seine Motoren rund ein Dutzend Fahrmodi an. Je nach Modus beträgt die Unterstützung 60 bis 400 Prozent. Das heisst: Bei der geringsten Unterstützung trägt der Motor zum Vorwärtskommen etwas weniger bei als der Mensch.
Aber bei der grössten Unterstützung leistet der Motor vier Mal so viel wie der Fahrer. Oder anders gesagt: Nur 20 Prozent der Leistung stammt vom Menschen. Ob sich die Fahrer wohl bewusst sind, wie wenig sie leisten, wenn sie ihr E-Bike auf maximale Unterstützung einstellen?
Deshalb stellt sich die Frage, ob der gesundheitliche Nutzen tatsächlich so gross sei, wie uns die Industrie weismachen will. Oder ob es darum geht, dass wir nicht nur ein simples Velo kaufen, sondern eines mit Motor. Das lohnt sich für den Handel und die Industrie gleich mehrfach. Denn:
- Elektrovelos sind bei der Anschaffung deutlich teurer als normale Velos.
- Der Verschleiss an Kette, Pneus, Bremsbelägen und Bremsscheiben ist grösser.
- Die Leistungsfähigkeit des Akkus nimmt mit der Zeit ab. Irgendwann muss er ersetzt werden.
Für den Ersatzteilhandel und für die Reparaturwerkstätten sind E-Bikes aus diesen Gründen eine ausgesprochen lukrative Einnahmequelle.
Kein Fitnessgerät
Für Ältere, für Unsportliche, für Übergewichtige und für gesundheitlich Angeschlagene mag ein E-Bike eine gute Sache sein – zumindest wenn sie nicht mit maximaler Unterstützung fahren. Im Sinne von: besser eine Fahrt mit dem E-Bike als gar keine Bewegung.
Von Nutzen ist ein E-Bike für alle, die vom Auto aufs motorbetriebene Velo umsteigen. Oder vom Sofa aus. Aber ein Fitnessgerät ist es nicht – auch wenn uns das Industrie und Medien weismachen wollen.
Wer problemlos ein normales Velo fahren kann, fährt aus gesundheitlichen Gründen besser ohne Motor. Vielleicht ein bisschen weniger weit, dafür aus eigener Kraft.
Wie unser Nachbar.
Flyer verlässt wohl die Schweiz
Die Tage des Schweizer E-Bike-Herstellers Flyer sind wohl gezählt. Wie die Eigentümerin, die Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG), mitgeteilt hat, sind gegenwärtig Abklärungen im Gang, ob «die Produktion in Zukunft ausserhalb der Schweiz anzusiedeln» sei. 155 von gegenwärtig noch 170 Arbeitsstellen am Sitz in Huttwil BE sind gefährdet. Bereits vor einem Jahr hatte Flyer 80 Stellen abgebaut.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
E-Bikes als Ersatz für ein Auto finde ich eine super Sache. Möglicherweise profitiert die Gesundheit sogar noch ein wenig. Am ehesten wohl, wenn der Fahrer ein routinierter Sportler ist, der die Anstrengung nicht scheut, und der dank Motorunterstützung einen langen Arbeitsweg mit dem Zweirad schaffen kann.
Die meisten E-Bike-Fahrer lügen sich aber wohl in die eigene Tasche. Gerade für Sportmuffel ist die Versuchung, durch einen einfachen Knopfdruck die körperliche Anstrengung auf quasi null zu reduzieren, zu gross. Eine Anstrengung auf Spazier-Niveau mag besser als gar nichts sein, aber viel schlechter als eine intensivere Aktivität.
Menschen sind schon sehr kreativ, wenn es darum geht, sich selbst ein Bein zu stellen. Wir eliminieren gekonnt jede körperliche Aktivität aus dem Alltag, dafür erfinden wir dann Fett-weg-Spritzen gegen den dicken Bauch. Die Lebensqualität sinkt. Aber Hauptsache, das BIP steigt!
Wenn ich diesen Text lese, taucht vor mir das Bild eines Mannes auf, der sich für das Velo entschieden hat, nun aber zu seinem Frust ständig von E-Bike-Fahrern überholt wird. Nun schlägt er zurück. Dabei unterlässt er es, die eigentlich allein relevante Information zu vermitteln: Werden durch den E-Bike-Boom Autokilometer gespart? Als 80-jähriger mit Herzproblem bin ich dankbar für das E-Bike. Dass die Velowerkstatt an einer guten Dienstleitung verdient, ist für mich o.k.
Der Autor macht einen Denkfehler. Es ist falsch, das E-Bike mit dem Velo zu vergleichen. Es ist eine Alternative zum Auto (für Jugentliche alt Töffli/neu E-Roller) und diesem in allen Belangen vorzuziehen. Wer schon Velo fährt, steigt nicht um. Es sind Autofahrer, die aufs E-Bike umsteigen. Und das ist gut so.
Die Wahrheit liegt zwischen dem Expertenbericht und dem Infosperber-Artikel. Natürlich ist Fahren ohne Motor gesünder als mit Motor. Aber mit E-Bike fahren ist gesünder als auf dem Sofa sitzen oder mit Bus / Auto fahren! Das E-Bike kommt sehr oft da zum Zug, wo das normale Velo weniger sportlichen Leuten nicht mehr dienlich ist.
Eine grober Fehler im Artikel ist die Behauptung, das beim E-Bike der Motor immer mindestens 40% der Antriebsleistung übernehme. Richtig ist, dass er seine Leistung immer der Tretleistung anpasst. Er unterstützt den/die Fahrerende nicht, wenn er abgeschaltet ist, wenn der Fahrer das Treten einstellt oder das E-Bike schneller fährt als die gesetzliche Limite von 25 bzw. 35 km/h.