Dr. Kurios 2024 XX

Dr. Kurios © zvg/Depositphotos

Dr. Kurios: Darmspiegelung mit tödlichen Folgen

Martina Frei /  Zwei Seniorinnen sterben kurz nach der Spiegelung. Der Grund ist eine Komplikation, die häufiger ist als vermutet.

Sie war 77 Jahre alt und musste zur Darmspiegelung. Unangenehm, aber keine grosse Sache, möchte man meinen. Bei dieser Seniorin aber endete das Ganze tödlich. 

Der erste Versuch, ihren Darm zu spiegeln, wurde abgebrochen. Die Sichtverhältnisse waren schlecht.

Also wurde die Seniorin stationär aufgenommen, wo sie vor dem nächsten Versuch, ihren Darm zu spiegeln, ein zweites Mal den Darm entleeren musste. Diesmal schien alles zu klappen. 

Leider wurde bei der Darmspiegelung ein grosser Darmtumor entdeckt. Er war sehr wahrscheinlich der Grund für ihren Gewichtsverlust, ihre Blutarmut und das Fieber, unter dem die Frau litt. Diese drei Symptome waren der Anlass für die Darmspiegelung gewesen. 

Wie üblich, wurde die Patientin nach der Untersuchung nach Hause entlassen. Zehn Stunden später brach sie dort bewusstlos zusammen.

Lebensbedrohlich tiefer Kaliumspiegel

Der Grund: Der Kaliumwert in ihrem Blut war viel zu niedrig und ihr Stoffwechsel war entgleist. Beim starken Darmentleeren (und ebenso bei Durchfall) verliert der Körper Kalium. Kalium ist ein lebenswichtiges Mineral, das auch hilft, den Säuren-Basen-Haushalt im Körper zu regulieren.

Bei zu niedrigem Kaliumspiegel, der sogenannten Hypokaliämie, kann es zu Muskelschwäche kommen. Das gilt für Arme und Beine wie auch für die Atemmuskeln und den Herzmuskel – im schlimmsten Fall führt Kaliummangel zu schweren Herzrhythmusstörungen bis hin zum Herzstillstand. Bei dieser Patientin schienen die Herzströme jedoch komischerweise normal.

Trotz Ambulanztransport und Spitalbehandlung verstarb die Patientin drei Tage nach der Darmspiegelung. Eventuell trug auch ein Herzmedikament, das sie wegen Vorhofflimmerns einnahm, zu der schweren Komplikation bei. Ihre Schilddrüsenunterfunktion könnte sich ebenfalls ungünstig ausgewirkt haben, mutmassten ihre Ärztinnen. Der Hauptgrund für den tödlichen Ausgang war aber wahrscheinlich der Kaliumverlust durch das zweimalige Abführen. 

Die 77-Jährige war nicht die einzige Patientin, bei der die Darmspiegelung zum lebensbedrohlichen Abfall des Kaliumwerts führte. Auch eine 72-jährige Frau starb innerhalb von 24 Stunden nach der Untersuchung am gleichen medizinischen Zentrum in den Niederlanden. 

Weltweit erster Bericht über tödlichen Ausgang

Ihren Ärztinnen liess das keine Ruhe. 2017 berichteten sie in «Gastrointestinal Endoscopy», was sich zugetragen hatte. Laut ihrer Recherche war dies der weltweit erste Bericht von zwei tödlichen Ausgängen infolge einer Hypokaliämie – obwohl allein in der Schweiz mehr als 300’000 Darmspiegelungen pro Jahr durchgeführt werden. Entweder hatte also kein anderer Arzt etwas Ähnliches erlebt, oder es wurde nicht davon berichtet. 

Derart gewarnt, bestimmten die niederländischen Ärztinnen fortan bei ihren Patienten und Patientinnen, die zur Darmspiegelung kamen, vor dem Darmentleeren den Kaliumwert im Blut, wenn sie diese Personen für «Risikokandidaten» hielten. 

Kolumne «Dr. Kurios»

Choleraausbruch mitten in Paris, Explosion des Patienten bei der Darmspiegelung, Halluzinationen durch Hirsebällchen – in der Medizin passieren immer wieder unglaubliche Dinge. Glücklicherweise aber nur sehr selten. Seit über 20 Jahren sammelt die Autorin – sie ist Ärztin und Journalistin – solche höchst ungewöhnlichen Krankengeschichten. Aus ihren früheren Kolumnen sind bisher zwei Bücher hervorgegangen: «Das Mädchen mit den zwei Blutgruppen» und «Der Junge, der immer in Ohnmacht fiel».

Vier von 100 «Risikokandidaten» hatten schon vorher zu tiefe Kaliumwerte

Als «Risikokandidaten» stuften sie zum Beispiel Personen ein, die extra für die Darmspiegelung hospitalisiert wurden, was nur unter besonderen Umständen gemacht wird. Auch Patientinnen und Patienten, die einen entwässernd wirkenden Blutdrucksenker nahmen, erachteten sie als «Risikokandidaten». Denn solche Medikamente können eine Hypokaliämie begünstigen. 

Etwa vier von 100 «Risikokandidaten» wiesen bereits vor dem Darmentleeren erniedrigte Kaliumwerte auf, ergab die Studie, welche die Ärztinnen in «Gastrointestinal Endoscopy» veröffentlichten, um ihre Kollegen auf das Problem aufmerksam zu machen. 

… nachher waren es 24 von 100

Bei einem Teil der Patienten mit anfangs normalen Kaliumwerten wiederholten sie die Laboranalyse nochmals nach der Darmspiegelung – mit erschreckendem Ergebnis: Nun hatte fast jede vierte «Risikokandidatin» bzw. «Risikokandidat» zu wenig Kalium im Blut. Alle hatten vor der Darmspiegelung mindestens zwei Liter einer Lösung mit Polyethylenglykol (auch Macrogol genannt) zum Darmentleeren getrunken. Dieser Wirkstoff ist dafür heutzutage sehr gebräuchlich.

Weiter verschafften sich die Ärztinnen einen Überblick über die bereits vorhandenen Studien zu dem Thema. Deren Resultate fassten sie im Fachblatt «Digestive Endoscopy» zusammen. Demzufolge spielt der Wirkstoff, der zum Darmentleeren eingenommen wird, eine grosse Rolle. 

Nach dem Abführen mit Polyethylenglykol hatten in diesen Studien Null bis 13 von 100 Patienten zu tiefe Kaliumwerte. Nach dem Darmentleeren mit dem nicht routinemässig empfohlenen Natriumphosphat waren es hingegen 7 bis 31 von 100 – wobei in all diesen Studien viele «Risikokandidaten» von vornherein ausgeschlossen wurden. Die wahre Anzahl der Patienten mit Hypokaliämie nach dem Darmentleeren könnte also höher sein. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
➔ Solche Artikel sind nur dank Ihren SPENDEN möglich. Spenden an unsere Stiftung können Sie bei den Steuern abziehen.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Dr. Kurios

Höchst seltene und manchmal auch skurrile medizinischen Fallgeschichten.

Bildschirmfoto20130713um10_03_04

Für die Gesundheit vorsorgen

Meistens wird die Prävention nur finanziell gefördert, wenn jemand daran verdienen kann.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden

Eine Meinung zu

  • am 12.08.2024 um 12:00 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen Bericht. In der Alterssiedlung wo ich wohne haben einige ein Aufforderungsschreiben bekommen, man müsse sich den Darm spiegeln lassen. Wer sich nicht anmelden würde, müsse dann halt den Selbstbehalt selber bezahlen. Der Ton war wie in einem amtlichen Schreiben. (Knapp am Kasernenhofton, ein typ. Marketingschreiben.) Auch wer diese Leistung nicht wolle müsse sich registrieren laßen über das Internet. Mit alten Menschen kann man das machen. Ein 67 jähriger Bekannter von mir, erlebte an sich einen perforierten Darm, was zu üblen Konsequenzen führte, er leidet heute noch an Darmstörungen. Ich habe meine Vorsorge Untersuchung bei einem professionellen Anbieter gemacht und mich zuvor gut informiert über Risiken, vorherige Reinigung mit Kaliumhaltiger Trinklösung und vorheriger Einsicht in die Vorfall-Statistik. (Es kann immer was passieren in der Welt des Big Business, und es wird womöglich noch schlimmer werden. ) Danke und Gruss B. Gubler

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...