Deutsche HNO-Ärzte weigern sich, Kinder zu operieren
Seit einem Jahr hört Lukas* schlechter. Während der Sprechstunde in der Praxis des bayrischen HNO-Arztes Rainer Jund sieht der Junge aus dem Fenster, sein Blick wirkt schläfrig. «Manchmal hat man den Eindruck, dass er völlig abwesend ist», berichtet Lukas Vater. Lukas ist heute bereits das dritte Kind mit denselben Problemen in der Sprechstunde.
Der Grund für Lukas Beschwerden sind seine riesigen Rachen- und Gaumenmandeln. Sie engen den Luftweg ein und erschweren dem Kind das Atmen. Um trotzdem ausreichend Luft zu bekommen, hat der Knabe den Mund ständig leicht geöffnet. Jede Nacht erwache sein Sohn zwei- bis dreimal, sagt der Vater. «Er schläft seit einem Jahr nicht mehr durch.»
Etwa eines von 100 Kindern bekommt wie Lukas beim Schlafen nicht genügend Luft und hat nächtliche Atemaussetzer. Die von solchen Schlafapnoen betroffenen Kinder sind tagsüber müde oder hyperaktiv. Ihr Blutdruck kann wegen des nächtlichen Sauerstoffmangels steigen. Meist hören sie auch schlechter, weil die grossen Rachenmandeln dazu führen, dass sich im Mittelohr Flüssigkeit ansammelt. Die Folge: Ihr Spracherwerb verzögert sich und sie können im Kindergarten oder in der Primarschule schlechter am Unterricht teilhaben. Ausserdem neigen sie zu wiederkehrenden Mittelohrentzündungen. All das schmälert ihre schulischen Leistungen.
Berufsverband warnt vor unterlassenen Operationen …
Manchmal bilden sich vergrösserte Mandeln von selbst wieder zurück. Wenn Kinder aber so schwer betroffen sind wie Lukas, dass sie im Schlaf zu wenig Sauerstoff bekommen oder schlecht hören, dann kann ihnen eine Operation helfen. «Häufig führt die Entfernung der Rachen- und Gaumenmandeln zu einem Verschwinden der Schlafapnoen und verhindert schwerwiegende Krankheitsfolgen», klärt eine Broschüre des Kinderspitals Zürich auf. Um den Mittelohrerguss zu beseitigen, wird bei dem Eingriff meist vorübergehend noch ein kleines, sogenanntes Paukenröhrchen ins Trommelfell gesteckt. In der Regel werden betroffene Kinder zwischen zwei und acht Jahren an den Mandeln operiert.
Doch in Deutschland weigern sich die meisten operierenden HNO-Ärzte seit Januar, Kinder wie Lukas zu operieren. «Einen Operationstermin haben wir erst in fünf Monaten bekommen. Eine andere Klinik hat diese Eingriffe ganz eingestellt», sagt die Mutter und sieht zu ihrem Jungen, der von all dem nicht viel mitzubekommen scheint.
Schon im Dezember 2022 betrug die Wartezeit für eine solche Operation in Deutschland laut dem «Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte» (DBHNO) in Spitälern sechs bis neun Monate, in ambulanten OP-Zentren drei bis vier Monate.
Gemessen an der Entwicklung eines Kindes, seien das «exorbitant lange Wartezeiten», die mehr als zehn Prozent der Lebenszeit bis zur Einschulung ausmachen könnten, gab der Präsident des DBHNO, Jan Löhler, zu bedenken. Er warnte, dass eine Verzögerung bei Kindereingriffen «oft nachhaltige Folgen» habe: Die Eingriffe seien notwendig für die Kinder hinsichtlich geistiger Störungen, Gedeihstörungen, Schlafstörungen und Sprachentwicklungs-Verzögerungen. Auch um wiederkehrende Infekte zu vermeiden spielten die Operationen «eine entscheidende Rolle».
… und ruft trotzdem zum Boykott auf
Dessen ungeachtet riefen im Januar der DBHNO und ein weiterer Berufsverband die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte und -Ärztinnen auf, bei Kindern keine solchen Operationen mehr durchzuführen. 85 Prozent der ambulant operierenden HNO-Ärzte beteiligen sich angeblich daran.
Die Familien warten nun noch länger, bis sie einen Operationstermin erhalten. Oder sie fliegen in die Türkei, um ihr Kind dort für umgerechnet etwa 2300 bis 3400 Franken operieren zu lassen. Im Internet sind diverse solcher Angebote zu finden. Eine andere Familie, die zu Jund kam, machte eine Adresse in Österreich ausfindig. Junds Mitarbeiterinnen telefonieren für Lukas herum, um vielleicht doch noch irgendwo einen Operationstermin für ihn zu erhalten.
Der Grund für den OP-Boykott ist die aus Sicht der deutschen HNO-Ärzte «chronische Unterfinanzierung des ambulanten Operierens». Das Fass zum Überlaufen brachte eine Tarifreduktion. Seit Januar 2023 bezahlen die deutschen Krankenkassen nur noch rund 107 Euro für den Eingriff, der rund zehn bis zwanzig Minuten dauert. Etwa 174 Euro beträgt das Honorar, wenn mit Laser operiert wird. Auf diese Beträge hatten sich Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Krankenversicherer geeinigt.
Laut dem «GKV-Spitzenverband», der die Interessen der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland vertritt, wurde das Honorar für die Mandel-Operationen um vier Euro, von 111 auf 107 Euro, reduziert. Das Honorar für andere Operationen sei hingegen aufgestockt worden.
Die Vergütung für die Mandel-Operationen sei nicht kostendeckend, sagen die HNO-Verbände. Kein Zentrum könne damit «die laufenden Kosten stemmen. Von der Summe müssen die OP-Miete (40 Euro), die Sterilisation der Instrumente (25 Euro), die OP-Assistenz (15 Euro) sowie weitere Posten wie die Instrumentenanschaffung, die Wartung der OP-Technik, die Haftpflichtversicherung sowie die Rufbereitschaft des Arztes nach einem Eingriff, bezahlt werden.» Unterm Strich würden dem Operateur etwa zehn bis 20 Euro vor Abzug von Steuern und Altersvorsorge als Honorar bleiben. «Durch die jahrelange Unterfinanzierung der HNO-Kinderoperationen haben viele ambulante Operateure Ihre OP-Tätigkeit in dem Bereich eingestellt», so Löhler.
«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen»
In Hamburg hätten 2019 noch 50 HNO-Ärztinnen und Ärzte Kinder operiert, 2022 seien es nur noch 20 gewesen, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». In Berlin habe sich die Anzahl halbiert, in Bayern sei sie um ein Fünftel gesunken. Der Protest sei nun das letzte Mittel, um die Verantwortlichen in Politik und bei den Krankenkassen «wachzurütteln und das schleichende Sterben der ambulanten HNO-Kinderchirurgie zu stoppen», so der DBHNO, der «die ideellen und wirtschaftlichen Interessen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte in Praxis und Klinik vertritt». Für Mandeloperationen gibt es klare Operationskriterien. Bei einer derart defizitären Vergütung in Deutschland sei davon auszugehen, dass die Operationen auch früher schon nicht unnötig erbracht worden seien, so Löhler.
«Zahl der ambulanten HNO-Kinderoperationen eingebrochen», schrieb das «Deutsche Ärzteblatt» im März 2023. «Der Verband spricht von einer ‹desaströsen Versorgungssituation›, unter deren Folgen die Patienten und ihre Familien litten.»
Im Januar betrug die durchschnittliche Wartezeit für einen Operationstermin in einem ambulanten Zentrum laut DBHNO bereits vier bis fünf Monate – «Tendenz steigend». Der Präsident des Verbands sprach Klartext: «Wir alle zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken, locker 1000 Euro für die Reparatur einer zerkratzten Stossstange bei unserem Auto. Gleichzeitig wird es offenbar gesellschaftlich akzeptiert, dass eine Operation im Rachen von kleinen Kindern, die mit vielen Risiken […] mit Blutungs- und Erstickungsgefahr sowie einer Vollnarkose verbunden ist, nur ein Bruchteil wert sein und unter den eigentlichen Betriebskosten verramscht werden soll.»
Das sehen die Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung anders. Insgesamt werde das Abrechnungsvolumen der HNO-Ärztinnen und -Ärzte für ambulante Operationen um 2,3 Prozent steigen, prognostizieren sie. Der Grund: «Bei längeren Operationen, wie beispielsweise der plastischen Korrektur der Nasenscheidewand, hat sich die Vergütung von 261 Euro auf 304 Euro erhöht», so der «GKV-Spitzenverband».
«Es ist empörend, wie schamlos einige Ärzteverbände versuchen, immer mehr Geld aus den Taschen der Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung herauszuholen und nicht einmal vor Drohungen gegen die Gesundheit von Kindern haltmachen. Die Politik ist gefordert, diesem masslosen und unethischen Handeln dieser Verbände Einhalt zu gebieten», schrieb der «GKV-Spitzenverband». Ihm zufolge lag der durchschnittliche Reinertrag pro HNO-Praxisinhaber oder -inhaberin im Jahr 2019 bei 185’000 Euro.
Der Kampf ums ärztliche Honorar solle nicht auf dem Rücken der kranken Kinder ausgetragen werden, forderte ein Sprecher des «GKV-Spitzenverbands». Doch das ist eingetreten.
Auch andere Ärzteverbände fordern höhere Honorare
Den Vorwurf, die HNO-Ärzte handelten unethisch, weist Jan Löhler zurück: «Nicht die Operateure handeln unethisch, sondern die gesetzlichen Krankenkassen, welche die wichtigen Operationen nicht ausreichend finanzieren wollen. Die Aktion richtet sich nicht gegen die Patienten, sondern ist der Versuch, den Versorgungsnotstand zu beenden.»
Dem Beispiel der HNO-Ärzte könnten weitere folgen. Löhler zufolge liesse sich «die Liste lange fortsetzen». So würden etwa die Narkoseärzte seit Jahren höhere Honorare für Ihre Leistungen fordern.
In Bremen einigte sich die «Allgemeine Ortskrankenkasse Bremen» mittlerweile mit den dortigen HNO-Ärztinnen und -Ärzten auf ein höheres Honorar, berichtete das «Deutsche Ärzteblatt». Der Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte stellte in Aussicht, dass die betroffenen Kinder nun wieder «zeitnah einen Operationstermin bekommen». Dort können Kinder wie Lukas nun – im wahrsten Sinn – aufatmen.
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*Name geändert
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
1. Wenn es den HNO-Ärzten nicht reicht, sollten sie sich an ihre KV wenden; die hat dem zugegebenermaßen niedrigen Honorar zugestimmt – vermutlich zugunsten anderer Leistungen, an denen fürstlich verdient wird (siehe Reinertrag). Die Patienten haben darauf null Einfluss. Wer als Arzt seine Patienten für so eine Aktion missbraucht, hat ganz offensichtlich seinen Beruf verfehlt und dem dürfte im Regelfall die charakterliche Eignung fehlen, einen solch verantwortungsvollen Beruf auszuüben.
2. Dem Herrn Löhler ist kognitive Dissonanz zu attestieren. Selbstverständlich liegt hier mindestens unethisches Verhalten vor. Vielleicht sollten Staatsanwaltschaften klären, ob nicht gar massenhaft unterlassene Hilfeleistung vorliegt.
3. Ungeachtet dessen ist natürlich der Hinweis auf die Autoreparatur zutreffend; eine Neujustierung erscheint angebracht – allerdings zunächst einmal innerhalb des bestehenden Systems. Ich frage mich schon lange, wo die exorbitanten Beiträge hinfließen.
Deutsche Demokratische Republik 1986: der kleine Gerd (Name geändert) muss in die Poliklinik zum HNO-Arzt, weil er immer wieder Probleme mit den Mandeln hat. Die Mandeln sollen nun raus, entscheidet der Arzt. Gerd wird noch am selben Tag in derselben Poliklinik ambulant operiert und ist am Abend wieder zu Hause. Und heute weigert sich eine wahrlich nicht am Hungertuch nagende Ärzteschaft, wegen ein paar Euro diese manchmal sehr wichtige Operation nicht durchzuführen; es ist lächerlich und natürlich unethisch. Das Wohl des Patienten steht im Vordergrund und nicht ein paar Netsch› mehr oder weniger.