Chronische Führungsdefizite in der Gesundheitsbranche
Infosperber: Seit gut drei Jahrzehnten beraten Sie Menschen, die in Arbeitskonflikte geraten sind, besonders auch in der Gesundheitsbranche. Schildern Sie bitte exemplarische Fälle von Führungsversagen in diesem Bereich.
Eric Lippmann: Spontan kommen mir zwei Beispiele in den Sinn. Das erste ist gleichzeitig exemplarisch wie extrem. Exemplarisch, weil der Konflikt zwischen Ärzteschaft und Pflege und zudem zwischen Mann und Frau spielt, und extrem, weil kein Lerneffekt daraus resultierte.
Ich hatte eine Pflegedienstleiterin mit relativ starker Position in einem grösseren Spital im Coaching. Ihr Problem war, dass einer der Chefärzte sie nicht ertrug. Er versuchte über längere Zeit, sie rauszuekeln. Irgendwann ertrug sie es nicht mehr und ging, trat eine andere Stelle an. Doch dieser Chefarzt fand heraus, wo sie neu arbeitete und stalkte sie weiterhin. Ich habe die entsprechenden E-Mails gesehen. Der konnte also nicht mal loslassen, als sie schon weg war. Ein Vierteljahr später berichtete sie mir, dass es den Chefarzt jetzt auch «verblasen» habe. Er hatte an einem Betriebsfest zu viel Alkohol getrunken und war sexuell übergriffig geworden gegenüber Mitarbeiterinnen. Ich meine, das allein würde normalerweise schon reichen, um jemanden zu entlassen. Er war dann betrunken mit dem Velo schwer verunfallt und ins Spital eingeliefert worden – dummerweise in dasjenige, in dem er selber arbeitete. Dort hiess es, der diensthabende Arzt stehe nicht zur Verfügung. Er selber hätte Dienst gehabt. Das hat dann schliesslich den Ausschlag gegeben, dass man ihm fristlos kündigte. Diese Geschichte ist schon krass genug, aber jetzt kommt noch etwas Typisches für das Gesundheitswesen dazu: Nach einem Monat fand er bereits wieder eine neue Stelle, wieder in leitender Position. Das muss man sich mal vorstellen, mit so einem Lebenswandel! Später habe ich herausgefunden, dass viele Leute im Ärztekreis die Geschichte dieses Mannes kannten. Ich war ziemlich schockiert, dass so ein Arzt trotz besseren Wissens wieder mit einer Führungsposition betraut wurde.
Warum fand dieser Arzt wieder eine leitende Stelle?
Das ist halt das Problem: Viele Spitäler brauchen im Medizinbereich eine Spitzenkraft, jemand, der fachlich top ist und vielleicht auch noch habilitiert hat. Die findet man nicht wie Sand am Meer. Mangelnde Führungsqualität fällt in der Anstellungspraxis dann leider nicht ins Gewicht.
Ist das nicht ein Einzelfall, wie er auch in anderen Branchen überall vorkommen könnte?
Das mag jetzt ein sehr extremes Beispiel sein, aber es ist kein Ausnahmefall. Aus meiner Berufspraxis weiss ich, dass Führungsmängel im ärztlichen Bereich sehr verbreitet sind. Beim zweiten Beispiel ging es um einen eskalierten Streit im Operationssaal. Es ist ja klar, welche Art «Waffen» da zur Verfügung stehen. Die Ärzte sind mit dem Skalpell aufeinander losgegangen! Stellen Sie sich vor, der Patient bekommt das mit, wenn auch vielleicht nur unbewusst. So etwas darf nicht vorkommen, und doch ist auch das kein Einzelfall. Im Gesundheitswesen herrschen rauere Sitten als in anderen Branchen, weil es da um Leben und Tod gehen kann, und das unter hohem Zeitdruck. Das ist schon was anderes, als wenn in einer Hotelküche mal die Töpfe fliegen. Umso wichtiger ist eine souveräne Führung, denn wenn im Spital Fehler passieren, geht es wirklich «ans Lebendige».
Erhalten Leitungspersonen im Spital denn keine Führungsausbildung?
Meistens sind Ärzte und Ärztinnen betroffen. Die sind – mehr noch als in der Pflege – fast ausschliesslich fachspezifisch ausgebildet. Es ist typisch, dass Führungspositionen im Spitalbereich meist aufgrund rein fachlicher Kompetenzen besetzt werden. Man kann als Arzt oder als Ärztin in eine Spitzenposition der Führung nur gelangen, wenn man fachlich top ist. Das ist ja irgendwie verständlich, weil man sonst vielleicht von den Mitarbeitenden nicht akzeptiert wird. Aber das heisst meist, dass diese Leute auf Führungsaufgaben nicht vorbereitet sind. In der Ausbildung haben sie das jedenfalls nicht gelernt, es gehört ja nicht zum Lehrplan des Medizinstudiums. Und wenn sie dann in Führungspositionen befördert werden, haben sie davon in der Regel keine Ahnung. Dann sind sie häufig überfordert, wollen es sich und anderen aber aus Imagegründen nicht eingestehen.
Wirkt hier immer noch das Klischee der «Halbgötter in Weiss»?
Typisch für die Gesundheitsbranche ist halt das Thema der Machthierarchie. In Spitälern ist das immer noch sehr, sehr verbreitet, im Gegensatz zu anderen Branchen, die in Richtung flachere Hierarchien bis hin zu selbstorganisierten Systemen tendieren. Wie ich das zum Beispiel im IT-Bereich sehe.
Wie wirkt sich solches Führungsversagen aus auf Personal und Betrieb?
Ärzte und Ärztinnen, die solches immer wieder erleben, beginnen zu denken, dass das normal sei. Diese Erfahrung habe ich öfter gemacht. Und wenn sie dann selbst an der Macht sind, dann verhalten sie sich ähnlich. Solche Verhaltensmuster kriegt man nur schwer aus dem System, weil sie immer wieder nachgeahmt werden.
Auf der anderen Seite führen systematische Einschüchterungen zu einer Angstkultur, und das ist bekanntlich die schlechteste Voraussetzung für Lernerfolge und gute Leistungen. Das Thema psychologische Sicherheit wurde in den letzten Jahren ziemlich rumgetragen, nicht zuletzt von Forschern, die bei Google arbeiten. In Spitälern ist psychologische Sicherheit noch wichtiger, Angstkultur in einer solchen Organisation ist verheerend, gerade wenn Spitzenleistungen erbracht werden sollen.
Solches Führungsversagen erhöht wahrscheinlich auch die Fluktuation?
Natürlich. Und das wiederum erhöht den Druck auf jene, die bleiben, die müssen dann immer wieder neue Leute einarbeiten. Das gibt zusätzlichen Stress im Team, man kann sich weniger aufeinander verlassen. Ja, das ist ein Teufelskreis, aus dem man kaum mehr rauskommt.
Können diese Spezialisten nicht in Führungsaufgaben hineinwachsen, per «learning on the job» sozusagen?
Lernen setzt Kommunikation voraus, aber oft mangelt es diesen Chefs an Feedback, nicht nur in Spitälern. Je weiter oben die Menschen stehen, desto eher leiden sie unter Mangel an Feedback. Viele Mitarbeitende getrauen sich nicht, den oberen Führungskräften ehrliches Feedback zu geben. Das ist dann wieder ein Teufelskreis. Sie sagen lieber nichts und machen die Faust im Sack, denn Kritik könnte ihnen ja schaden. So stehen die Chefs oben immer isolierter da.
Wenn solche Führungskräfte sich bei mir im Coaching darüber beklagen, sage ich immer, das habt ihr ja selber in der Hand, ihr könnt Feedback ja auch fördern und einfordern. Und wenn ihr halt kritisches Feedback erhaltet, dann solltet ihr euch bedanken anstatt die Mitarbeitenden indirekt zu bestrafen. Denn das spricht sich schnell herum und macht alles nur noch schlimmer.
Welche Folgen hat die kompetitive Kultur innerhalb der Ärzteschaft? Das Gerangel um Operationszahlen und Genesungserfolge?
Dieser Wettbewerb bestimmt über die Hierarchie und über das Honorar. Wer wird Chef oder Chefin, wer kassiert den Spitzenlohn? Nur ein Beispiel: Da wurde nach einem Desaster im Team plötzlich die einzige Frau Chefin. Was die Männer aber überhaupt nicht ertragen haben. Weil das ja auch Unterordnung verlangt. Es kam zu Intrigen, bis in die Politik hinein. Das ist dann überhaupt nicht fruchtbar, denn gefragt wäre ja gute Zusammenarbeit, nicht Rivalität und Revierkämpfe.
Ich hatte auch den Fall eines leitenden Arztes, der eine Beziehung mit einer Pflegerin einging. Er entlockte seiner Freundin alle Informationen aus dem Pflegeteam und verwendete dieses Wissen für seine Machtspiele. Das entwickelte sich zu einem Riesendebakel. Ich muss schon sagen, Sex and Crime, all diese wilden Geschichten, die man aus Arztromanen und Spitalserien kennt, die gibt’s wirklich.
Im Klinikbetrieb müssen ja drei Bereiche kooperieren, ärztliche Behandlung, Pflege und Betriebsverwaltung. Vermutlich bestehen da besonders viele Reibungsflächen, an denen sich Konflikte entzünden können.
Absolut. Da kommt mir konkret ein Spital in den Sinn. Dort spielt ein grosser Konflikt zwischen dem Verwaltungsleiter, einem Betriebswirtschafter, und den Ärzten. Die sagen natürlich, wir machen das Hauptgeschäft, davon versteht der CEO nichts. Sie fühlen sich bis zu einem gewissen Grad gekränkt, weil ihnen ein Fachfremder vorangestellt ist. Das provoziert Widerstand und Intrigen, dem Mann wird am Stuhl gesägt, um zu demonstrieren, wer wirklich «die Macht hat». Dieses Dreibeinmodell – Pflege, Ärzteschaft und Betriebsleitung – liefert viel Stoff für klassische Konflikte. Es stellt höchste Ansprüche an jedes Führungsteam.
Im Spitalbereich scheint es stark um persönliches Image zu gehen, bis hin zur Eitelkeit.
Noch komplizierter wird es bei den Universitätsspitälern, gerade zum Beispiel in Zürich. Da muss ein Arzt oder eine Ärztin nicht nur fachlich top sein punkto Behandlungen und Operationen. Diese Personen haben zusätzlich auch einen Forschungsauftrag, weil sie an die Universität angeschlossen sind. Das heisst, man muss forschen und viel publizieren. Das allein ist ein Geschäft für sich, da muss man sich ja weltweit irgendwie nach vorne bringen. Dann kommt dazu, dass man auch in der Lehre tätig sein muss, das heisst, man muss ein guter Dozent und didaktisch versiert sein. Und da obendrauf kommen dann noch die konkreten Führungsaufgaben. Das sind vier Spezialisierungen, die man gleichzeitig hinkriegen muss. Das ist die eierlegende Wollmilchsau, wie man so schön sagt. Das bedeutet dann enormen Druck. Da geraten manche auch leicht in Suchtmechanismen, greifen zu Medikamenten, kein Wunder, denn die sind ja im Spital für Führungspersonen leicht zu besorgen. Also, das ist ein wahrer Teufelskreis.
Was müsste sich ihrer Meinung nach ändern?
Ich rate dringend zu strukturellen Änderungen.Dass die Bereiche stärker getrennt werden, damit sich nicht alle an mehreren Fronten gleichzeitig behaupten müssen. Ich denke, diese Anforderungen sind einfach zu hoch, das müsste man runterbrechen. Es müsste möglich sein, dass zum Beispiel jemand in einem Spitalbetrieb ärztliche Direktorin sein kann, aber nicht auch noch die Forschungsabteilung und noch den Lehrbetrieb anführen muss. Aus meiner Erfahrung finde ich das alles einfach zu viel für einen Menschen, das kann man nicht hinkriegen.
Müsste die Politik aktiv werden? Ähnlich wie das jetzt dank der Initiative im Pflegebereich geschieht?
Ich finde, es werden zu wenig Ärzte und Ärztinnen ausgebildet. Böse gesagt, der Schweizer Staat spart Geld bei der teuren ärztlichen Ausbildung. Man importiert das Fachpersonal lieber aus dem Ausland. Im besten Fall sprechen die etwas Deutsch, im schlechtesten Fall nicht. Diese Sprachbarrieren führen auch zu Konflikten, die ich ziemlich schlimm finde.
Im Spitalbereich ist ja die Arbeitsüberlastung auch ein chronisches Problem. Könnten Jobsharing und Teilzeitangebote Abhilfe schaffen?
Ich persönlich vertrete die Meinung, dass gute Führung auch mit einem 80-Prozent-Pensum möglich ist, das hat sich auch schon bewährt. Aber primär müssten generell mehr Ärzte und Ärztinnen ausgebildet werden. Mein Vorschlag wäre, dies auch auf Ebene von Fachhochschulen zu tun. Diese könnten Generalisten ausbilden, also vor allem Hausärzte, und die Unis könnten sich auf Spezialisten und die Forschung konzentrieren. Das könnte die Ausbildungskosten dämpfen. Mit einer vereinfachten Hausarzt-Ausbildung hätten wir schon vor zehn Jahren anfangen müssen, aber das ist ein politisches Thema.
Professor Eric Lippmann
Eric Lippmann doktorierte in Psychologie und studierte zusätzlich Soziologie. Seit 33 Jahren arbeitet er als Personal Coach, Supervisor und Führungskräfteentwickler am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) an der ZHAW. Von 2009 bis Januar 2024 war er Dozent und Leiter des IAP-Zentrums für Leadership, Coaching & Change Management. Er hat mehrfach über Führungsentwicklung, Konfliktmanagement und Coaching publiziert. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Gesundheitswesen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Gratulation! Guter Beitrag! Der Numerus Clausus sollte mindestens den wirklichen Bedarf decken! Solange der Bedarf importiert wird, ist er nicht gedeckt. Und der Ansatz Ausbildungen viel breiter (als Pflege, Gesundheit, Ernährung) bei Fachhochschulen anzubieten ist zielführend! Zudem vergrössern die grossen Lohndifferenzen und Boni die Ehrfurcht vor dem ‹weissen Gott›.
Hervorragender Artikel ! Insbesondere die daraus gezogenen Schlüsse verdienen breite Beachtung. Der Mangel an Hausärzten könnte behoben, die Zahl der Fachpersonen wesentlich erhöht und die Notfallstationen entlastet werden, denn heute gehen viele Leute mangels Hausarzt mit Bagatellen direkt auf den Notfall.