Brustimplantate: Eine Geschichte vom Versagen der Behörden
Red. – Carl Heneghan ist Professor für evidenzbasierte Medizin an der englischen Universität Oxford und leitet dort das Zentrum für EBM. Tom Jefferson ist ein britischer Epidemiologe, der ebenfalls an der Universität Oxford lehrt und durch seine kritischen Analysen zum Grippemittel Tamiflu und zur Wirksamkeit von Grippeimpfungen sehr bekannt wurde. Beide wollen demnächst ein Buch veröffentlichen, das Gesundheitsschäden thematisiert, die von Medizinprodukten verursacht werden. Vorab publizierten sie in ihrem Blog «Trust the Evidence» auf «Substack» einen Auszug. Infosperber fasst das Wichtigste chronologisch zusammen.
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«Die Geschichte der Brustimplantate ist lang und traurig. Sie handelt von mangelnder Evidenz, kriminellen Machenschaften, nachlässigen Behörden und der Unfähigkeit, die Lehren daraus zu ziehen», stellen Heneghan und Jefferson fest und rekapitulieren diese Geschichte:
«In den 1890er Jahren wurde Paraffin injiziert, um die Brüste zu vergrössern. Aber das Paraffin lief aus, und das Verfahren wurde aufgegeben. In den 1920er und 1930er Jahren versuchten Chirurgen, Fett zu übertragen – ebenfalls keine gute Idee. In den 1950er Jahren wurden Knorpel, Holz und sogar Glaskugeln verwendet – die Nebenwirkungen waren katastrophal. 1962 liess sich Timmie Jean Lindsey, in Houston, Texas, als erste Frau weltweit die Brüste mit Silikonimplantaten vergrössern. Silikon ist eine Mischung aus verschiedenen Komponenten. Seine Eigenschaften variieren, je nach Belastung ist es mal mehr, mal weniger zäh oder starr. […] In den 1980er Jahren kamen Bedenken auf, dass Brustimplantate aus Silikon das Risiko für Krebs, Bindegewebserkrankungen und verschiedene Autoimmunerkrankungen erhöhen könnten. […] Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehr als zwei Millionen US-Amerikanerinnen diese Implantate erhalten.»
1988 erhöhte die US-Arzneimittelbehörde (FDA) die Anforderungen an Silikonimplantate. Sie galten nun als Medizinprodukte der höchsten Risikoklasse. Das führte dazu, dass die Hersteller Studien vorlegen mussten, die bewiesen, dass ihre Brustimplantate sicher sind. Doch es gab ein Schlupfloch: «Im Widerspruch dazu blieben die Implantate weiterhin über das weniger strenge 510(k)-Verfahren zugelassen. Dieses Verfahren erlaubt kurz gesagt eine Äquivalenz: Wenn ein Produkt einem bereits auf dem Markt befindlichen sicheren Produkt ähnelt, darf es ebenfalls als sicher gelten. Damit sind klinische Studien nicht mehr nötig. Der Fokus liegt auf biologischen Labortests der Implantate.»
«Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen»
Die Hersteller hätten bis 1991 die erforderlichen Nachweise erbringen müssen. Obwohl die Nachweise fehlten, «empfahl die FDA nach erneuter Beratung einstimmig, die Implantate bis zum Vorliegen weiterer Ergebnisse auf dem Markt zu lassen.» Heneghan und Jefferson zitieren den früheren FDA-Leiter David Kessler:
«‹Dreissig Jahre nach der Zulassung gibt es noch immer viele unbeantwortete Fragen zur Sicherheit von Silikonbrustimplantaten›», sagte Kessler. Es mangele an Daten zur Haltbarkeit der Implantate, zur Häufigkeit von Rissen und zu den Chemikalien, die in den Körper gelangen. Damit gab die FDA indirekt zu, zum Zeitpunkt der Zulassung wenig bis nichts über Brustimplantate gewusst zu haben.»
Im Dezember 1991 gewann eine Frau mit einer Bindegewebserkrankung in Kalifornien einen Gerichtsprozess gegen den Implantat-Hersteller Dow Corning. «Wie aus den Unterlagen hervorging, hatte der Hersteller Dow Corning gewusst, dass seine Implantate undicht waren, aber nichts unternommen, um die Sicherheit zu gewährleisten», berichten Heneghan und Jefferson. In Frankreich, Grossbritannien und den USA hätten die Behörden das Risiko, das von Silikonimplantaten ausging, unterschiedlich eingestuft, das Spektrum reichte von Verboten wie in den USA bis zu Genehmigungen.
Erster Fall von Lymphdrüsenkrebs
1997 berichtete ein US-Arzt erstmals von einer Patientin mit einer bestimmten Form von Lymphdrüsenkrebs, dem sogenannten «anaplastischen T-Zell-Lymphom», in unmittelbarer Nähe ihres Brustimplantats.
2006 wurden Implantate mit Silikongel in den USA wieder zugelassen: «Damit war das 14-jährige Zulassungsverbot beendet. Die Folge war ein dramatischer Anstieg der Brustvergrösserungen, die sich 2006 zur häufigsten Schönheitsoperation entwickelten. Der Anteil der Silikonimplantate an allen Implantaten stieg von 35 Prozent im Jahr 2007 auf mehr als 75 Prozent 2014. Für die Zulassung verlangte die FDA nun Daten aus mindestens drei Jahren für Silikonimplantate […] Frauen, die ein Implantat erhalten hatten, sollten zehn Jahre lang im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie begleitet werden.»
Alle paar Jahre, so riet die FDA, sollten die Frauen untersucht werden. Doch weil die Krankenversicherungen das nicht bezahlten, hätten diese Untersuchungen nicht stattgefunden.
Dann kam es zum Skandal mit dem «PIP-Implantat». «PIP» ist die Abkürzung für das Unternehmen «Poly Implant Prothese», das 1991 von einem ehemaligen Metzger und einem plastischen Chirurgen gegründet wurde. Über zwei Millionen Silikonimplantate habe PIP in den Jahren danach produziert. Im Mai 2000 inspizierte die FDA die Produktionsanlage in La Seyne Sur Mer in Frankreich, stellte viele Mängel fest und warnte vor dem Produkt. Der Verlust der Einnahmen aus den USA habe dazu geführt, dass das Unternehmen auf ein nicht zugelassenes, fast 90 Prozent preiswerteres Industriesilikon auswich und so enorm Kosten sparte. Auch bei der Aussenhülle der Implantate sei gespart worden. Die Folge: Die «PIP»-Implantate platzten «mehr als doppelt so oft wie im Branchendurchschnitt», berichten Heneghan und Jefferson. Die französische Behörde legte 30’000 Frauen in Frankreich nahe, ihre Implantate entfernen zu lassen. «PIP» wurde dicht gemacht, der Firmenchef zu vier Jahren Haft und einer Geldbusse von 75’000 Euro verurteilt.
Heneghan und Jefferson zufolge hatte «PIP» über 300’000 Silikonimplantate in 65 Länder verkauft. «Wie viele Personen sie eingesetzt bekamen, wird man wohl nie erfahren.»
Unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit von Rissen
In Frankreich habe es geheissen, die Rissquote betrage fünf Prozent. In Grossbritannien sprach die Aufsichtsbehörde von nur einem Prozent – und Medien berichteten von bis zu acht Prozent Rissen, so Heneghan und Jefferson.
Es gehe aber nicht nur um Risse, sondern auch um sogenannte «Gel-Blutungen», bei denen Silikon-Mikroteilchen durch die Implantathülle hindurch in den Körper gelangen: «Bei Autopsien fand man Silikon in Blutgefässen, verschiedenen Geweben und Gehirnproben.» Erst 2010 seien die «PIP»-Implantate vom Markt genommen worden. In der Schweiz bekamen rund 280 Frauen ein «PIP»-Implantat, Swissmedic berichtete 2011 von einer Nebenwirkungsrate von «unter ein Prozent».
Wichtige Tests fehlten
Noch im gleichen Jahr 2011 warnten die Aufsichtsbehördem Grossbritanniens und der USA, nachdem mehrere Fälle von anaplastischen Lymphomen (ALCL) im Zusammenhang mit Brustimplantaten bekannt geworden waren – jener Krebserkrankung, von der ein US-Arzt schon 1997 berichtet hatte.
2016 gab die niederländische Aufsichtsbehörde für das Gesundheits- und Jugendwesen eine Studie zu Silikon-Brustimplantaten in Auftrag, «die Mängel bei den von den Herstellern durchgeführten Labortests feststellte. Die Studie bewertete zehn technische Dossiers der Hersteller. Zwar waren in allen Fällen mechanische Tests durchgeführt worden. Auch in Biokompatibilitäts- und Zytotoxizitätstests waren keine Probleme festgestellt worden – eine gute Nachricht also. Aber Tests zu Reizung, Sensibilisierung und Implantationstests fehlten – alles Anforderungen für die Zulassung», schreiben die beiden Autoren.
Seit 2016 erachte die WHO Brustimplantate mit strukturierter respektive texturierter Oberfläche als möglichen Auslöser für die Lymphome vom Typ ALCL.
Ebenfalls im Jahr 2016 führte Grossbritannien ein nationales Register für Brust- und kosmetische Implantate ein – versprochen worden war es 23 Jahre vorher.
Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen
2018 zeigte eine israelische Studie «einen Zusammenhang zwischen silikonhaltigen Implantaten und Autoimmun- und rheumatischen Erkrankungen. 24’651 Frauen mit und 98’604 Frauen ohne Brustimplantate waren verglichen worden. Unter Berücksichtigung von Alter, sozioökonomischem Status, Rauchen und Brustkrebsvorgeschichte hatten die Frauen mit Implantaten ein um 45 Prozent höheres Risiko, an mindestens einer Autoimmun- oder rheumatischen Erkrankung zu erkranken […] Zudem fand sich in einer systematischen Analyse von 32 Studien ein möglicher Zusammenhang von Silikonimplantaten zu rheumatoider Arthritis und dem Sjögren-Syndrom, einer Autoimmunerkrankung, die besonders Tränen- und Speicheldrüsen angreift.», berichten Heneghan und Jefferson.
2019 riet die FDA, Brustimplantate mit einem Warnhinweis zu möglichen Risiken und Komplikationen zu versehen, zu denen Operationen und ein seltener, manchmal tödlicher Krebs gehören könnten. Im gleichen Jahr «meldete die Amerikanische Gesellschaft der plastischen Chirurgen 779 Fälle und 33 Todesfälle» durch die Lymphdrüsenkrebserkrankung ALCL.» Seit 1997 nehme diese seltene Erkrankung zu, so Heneghan und Jefferson.
Im Juli 2020 sei der Firma Allergan in Europa die Sicherheitslizenz für ihre texturierten Implantate entzogen worden. «Die französische Aufsichtsbehörde hatte eine Warnung ausgesprochen und die CE-Sicherheitskennzeichnung verweigert. Die amerikanische FDA hingegen liess einige der Implantate auf dem Markt – nicht die erste Unstimmigkeit zwischen den Behörden», wie die beiden Autoren bemerken. Betroffen vom BIA-ALCL – dem Brustimplantat-assoziierten anaplastischen grosszelligen Lymphom – sind aber nicht allein Trägerinnen eines Allergan-Implantats, sondern auch Frauen mit Implantaten von anderen Firmen.
Bis April 2023 erhielten weltweit 1363 Patientinnen in 48 Ländern die Diagnose BIA-ALCL, 59 starben daran. Diese Zahlen berichtete das «British Medical Journal» jüngst.
Die Erkrankungen traten im Durchschnitt acht bis zehn Jahre nach dem Einsetzen eines Implantats mit texturierter Oberfläche auf. Es gab aber auch Fälle, bei denen es erst 44 Jahre später zu dieser Krebserkrankung kam, oder bei denen sich das BIA-ALCL entwickelte, obwohl das Implantat schon entfernt worden war.
«Da es etwa zehn Jahre dauert, bis sich die Probleme zeigen, werden wir 2026 vielleicht die Schäden erkennen und für mehr Sicherheit sorgen. Aber grosse Hoffnungen machen wir uns da nicht», bilanzieren Heneghan und Jefferson mit Blick auf das britische Implantatregister und weisen noch auf Folgendes hin: «Bis 2030 wird der weltweite Markt für kosmetische Implantate voraussichtlich die Marke von 20 Milliarden Dollar überschreiten – der Anteil der Brustimplantate an diesem Markt wird wahrscheinlich drei Milliarden Dollar betragen.»
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Übersetzung aus dem Englischen: Antje Brunnabend, www.deepl.com
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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