Ärzte sollen jetzt Alzheimer ohne Demenz diagnostizieren können
Der Text verspricht Hoffnung angesichts furchteinflössender Zahlen: 1,6 Millionen Menschen in Deutschland seien aktuell an Demenz erkrankt, teilten die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) kürzlich mit. Doch neuerdings könnten Mediziner die Krankheit früher diagnostizieren und den Betroffenen damit «deutlich früher Behandlungsangebote machen».
Die Anleitung dazu liefert ihnen die neue «S3-Leitlinie Demenzen», die jetzt in aktualisierter Fassung erschienen ist. Das Schriftwerk dient als Richtschnur für alle Ärzte, die Demenz-Kranke behandeln, und gilt als Kompendium des besten verfügbaren Wissens zum Thema. Die Überarbeitung, an der mehr als 30 Delegierte verschiedener Fachrichtungen beteiligt waren, erfolgte unter Federführung der DGPPN und DGN – und hat bei einigen Medizinern für Unmut gesorgt.
«Diagnose» auch ohne zuverlässigen Nachweis der Krankheit
Anlass für Kritik ist vor allem das, was der Psychiater Frank Jessen in der Pressemitteilung die wichtigste Neuerung der Leitlinie nennt: die Möglichkeit, die Diagnose Alzheimer viel früher zu «vergeben» als bisher. Jessen ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Uniklinik Köln und hat als Leitlinien-Koordinator der DGPPN den Inhalt der Empfehlungen massgeblich mitbestimmt. Geht es nach ihm und seinen Kollegen von der DGN, sollen künftig zahllose Menschen das Etikett «Alzheimer» erhalten, die gar nicht demenzkrank sind.
Dafür reicht laut Leitlinie neuerdings zweierlei: die Feststellung einer «leichten kognitiven Störung» und ein «eindeutiger Hinweis» auf das Vorliegen sogenannter Biomarker. Dabei steht fest, dass beide Kriterien nicht nur schwammig, sondern auch kein zuverlässiger Nachweis für das Vorliegen der Alzheimer-Krankheit sind.
Das allerdings erfährt nur, wer ausser der Pressemitteilung auch die 311 Seiten umfassende Leitlinie liest. Dort steht schwarz auf weiss, dass die Diagnose der leichten kognitiven Störung «weit gefasst» sei und sich auf geistige Beeinträchtigungen bei «verschiedenen, auch vorübergehenden körperlichen Erkrankungen» bezieht.
Tatsächlich kann eine leichte kognitive Störung, im Fachjargon MCI (englisch «minimal cognitive impairment») genannt, eine Vielzahl von Ursachen haben. Die möglichen Auslöser reichen von Medikamentennebenwirkungen über Durchblutungsstörungen und Schilddrüsenunterfunktion bis hin zu Elektrolytmangel oder seelischem Stress. Um keine falsche Diagnose zu stellen, müssen Ärzte die Betroffenen daher gründlich auf solche Faktoren hin untersuchen.
Der angebliche Biomarker korreliert kaum mit der Leistungseinbusse
Ähnlich fragwürdig wie das Kriterium «leichte kognitive Beeinträchtigung» ist die Relevanz der Biomarker. Zwar behauptet der Neurologe Richard Dodel, Koordinator der Leitlinie für die DGN, in der Pressemitteilung, dass sich Alzheimer unter anderem durch eine Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit, eine sogenannte Liquordiagnostik «nachweisen» lässt. Mit diesem Verfahren, so der Mediziner von der Universität Duisburg-Essen, könnten zwei Arten von krankhaften Protein-Veränderungen bestimmt werden, die für die Alzheimer-Krankheit «ursächlich» seien: Veränderungen im Bereich der sogenannten Amyloide und der Tau-Proteine.
Doch von einer klaren Ursache und einem klaren Nachweis der Alzheimer-Krankheit anhand dieser Proteine kann keine Rede sein. «Wir wissen seit Langem, dass die Menge der Amyloid-Plaques im Gehirn kaum mit dem Krankheitsbild oder der geistigen Leistung korreliert», so Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universität Mainz. So findet man einerseits bei manchen Demenzkranken mit schwersten Symptomen ziemlich gesund aussehende Gehirne. Andererseits gibt es viele Menschen, die bis zu ihrem Tod im hohen Alter geistig fit waren, deren Hirne aber voller Amyloid-Plaques sind.
Auch stimmen Dodels Aussagen über die Auslöser der Alzheimer-Krankheit nicht mit anderen Inhalten der Leitlinie überein. Dort steht, dass Alzheimer eine «primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie», also mit unbekannter Ursache, ist.
«Ausweitung des Krankheitsbegriffs»
Derlei Ungereimtheiten haben auch zwei Fachleute irritiert, die als Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) an der Überarbeitung der Leitlinie beteiligt waren. Deshalb taten sie etwas, das unter Medizinern ausgesprochen ungewöhnlich ist: Horst Christian Vollmar, Professor für Allgemeinmedizin an der Ruhr-Universität Bochum, und sein Kollege Thomas Lichte, Emeritus an der Universität Magdeburg, stimmten gegen eine Alzheimer-Diagnose bei leichten kognitiven Störungen. Das Sondervotum ist auf Seite 67 der Leitlinie abgedruckt. Die Begründung der beiden DEGAM-Vertreter: Die neue Definition entspreche nicht den international gültigen Kriterien. Wenn diese nicht erfüllt seien, liege auch keine Alzheimer-Krankheit vor.
Vollmar und Lichte gingen noch weiter. In ihrem Sondervotum schreiben sie auch: «Das jetzige Wording bedeutet eine Ausweitung des Krankheitsbegriffs und stellt somit u. E. ein ‚Disease Mongering‘ dar». Darunter versteht man ein Phänomen, das von Pharmafirmen ausgeht, aber nur mit tatkräftiger Unterstützung einflussreicher Mediziner möglich ist: Mit gezielten Kampagnen wird dabei versucht, die Grenzen dessen, was in der Öffentlichkeit als behandlungsbedürftige oder behandelbare Krankheit wahrgenommen wird, zu erweitern. Die Absicht ist klar: Es geht darum, den Markt zu vergrössern und den Verkauf der jeweiligen Medikamente anzukurbeln.
Natürlich wäre ich heilfroh, wenn wir ein wirksames und sicheres Medikament gegen Demenz hätten», sagt Vollmar. Aber das sei nun einmal bis heute nicht der Fall. Er halte eine Alzheimer-Diagnose nach den von DGN und DGPPN Kriterien daher aus ethischen Gründen für «problematisch». Nicht zuletzt deshalb, weil eine solche frühe Diagnose negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben könne und im schlimmsten Falle sogar zu einer erhöhten Rate von Suizidversuchen führen könne.
Möglicher Grund: den Weg für teure Medikamente ebnen
Über die Gründe, warum Mediziner wie Jessen und Dodel eine Ausweitung der Alzheimer-Diagnose propagieren, könne man nur spekulieren, so Vollmar. Vermutlich ziele ihre Empfehlung auf eine Gruppe von neuen Medikamenten ab, die schon bald auf den europäischen Markt kommen könnten. Eines davon, das Präparat Leqembi, ist in den USA bereits erhältlich. Eine Zulassung für Europa wird Anfang 2024 erwartet (Infosperber berichtete).
Fest steht nur: Frei von Interessenkonflikten sind die Leitlinien-Koordinatoren Frank Jessen und Richard Dodel nicht. Das geht aus dem fast 900 Seiten umfassenden Leitlinien-Report hervor. Beide Mediziner stehen demnach auch in den Diensten von Arzneimittelfirmen. Bei Jessen sind dies neben den Leqembi-Herstellern Biogen und Eisai auch Lilly, Roche, MSD, Novo Nordisk. Dodel wiederum hält selbst verschiedene Patente zur Immuntherapie bei Demenzen und arbeitet unter anderem für Firmen wie Biogen, Boehringer Ingelheim, Axon Neuroscience, GE Healthcare und Roche.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Cornelia Stolze ist Autorin zweier Bücher zum Thema Demenz: «Vergiss Alzheimer! Die Wahrheit über eine Krankheit, die keine ist» (2011 erschienen) und «Verdacht Demenz» (2021). Weitere Informationen dazu siehe unten.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Derlei Vorhaben kommen mir höchst bedenklich vor, öffnen sie doch Wege um (vom Mainstream) abweichende Meinungen zu pathologisieren. Und aktuell wird bereits der Kampf um die Meinungen mit sehr harten Bandagen geführt. Abweichendes wird größtenteils nicht geduldet, die Betreffenden werden ausgegrenzt und hart bestraft. Die Strafe wird zwar in evolutionärer Weiterentwicklung der Methoden nicht mehr in Form von Enthauptung oder Erschießung exekutiert, aber die Vernichtung der sozialen Existenz durch Einkommensverlust darf es dann doch schon sein. Unzählige Beispiele hat Corona geliefert, Ukraine und Gaza geben uns den Rest. Hoch lebe die Dichotomie! Sie hält uns gesund! Oder?
Ein guter Fachartikel für Fachleute, dessen Bedeutung mir nach dem Lesen von ungefähr der Hälfte mir nicht einleutete, weil ich schon wieder alles vergessen hatte. Muss ich jetzt zum Arzt? Oder ist Vergessen können auch eine gesunde Fähigkeit?
Schon lange wird vermutet, dass das Herpes-Virus (Auslöser von Windpocken und Gürtelrose) bei seinem Aufenthalt im Nervengewebe durch noch unbekannte Einflüsse an der Entwicklung der Alzheimer-Demenz (mit-)verantwortlich ist. Der Zusammenhang konnte bisher aber nicht nachgewiesen werden.
Kürzlich erschien ein sehr interessanter Artikel, der den Zusammenhang von Herpesviren und Alzheimer-Demenz behandelt. Jedenfalls vermindert die Impfung gegen Gürtelrose offensichtlich die Entwicklung der Alzheimer-Demenz.
Der Effekt ist bei der geimpften Personengruppe im Vergleich zur ungeimpften zwar eindeutig, aber begrenzt, da nur Senioren untersucht wurden. Es kann aber vermutet werden, dass eine Impfung in jüngeren Jahren viel deutlichere Effekte haben könnte.
Warum wird dieser Hinweis auf eine mögliche Prophylaxe durch Impfung nicht aufgegriffen? Ist es der dauerhafte Verkauf von fragwürdig wirksamen Medikamenten mit höherem Profit, den eine zweimalige Impfung nie einbringen kann?
@ Hrn. Stigge: Sie meinen vermutlich die Studien von Markus Eyting und Pascal Geldsetzer, die bisher nur als «Pre-Print» vorliegen, also noch nicht begutachtet wurden. In einer dieser Studien ging eine Gürtelrose-Impfung mit durchschnittlich 0,38 Prozent weniger tödlichen Demenzerkrankungen einher. Ob die Impfung der Grund dafür war, kann die Studie m.E. nicht beweisen. Bei Männern zeigte diese Impfung keinen Zusammenhang mit Demenz-Todesfällen im Beobachtungszeitraum von neun Jahren.
Die andere Studie wurde im Mai 2023 als «Pre-Print» publiziert, aber noch immer nicht als begutachtete Studie veröffentlicht. Dort betrug der Rückgang der Demenz-Diagnosen schätzungsweise 3,5 Prozent, bei einem Beobachtungszeitraum von 7 Jahren. Auch hier ging die Impfung bei den Männern mit keiner diesbzgl. Veränderung einher und auch hier wäre es m.E. denkbar, dass andere Faktoren – zum Beispiel eine Veränderung bei der Diagnostik – das Ganze beeinflusst haben. Frauen mit Alzheimer-Demenz können den beginnenden geistigen Abbau meist länger kaschieren als Männer. Deshalb ist es m.E. verwunderlich, dass man bei den Männern keine Korrelation fand, es wäre doch zu erwarten gewesen, dass die Demenz bei ihnen eher auftritt als bei den Frauen. Warten wir ab, was die Gutachter zu diesen Studien sagen.
Früher diagnostizieren eröffnet vor allem die Möglichkeit früher und mehr daran zu verdienen. Juhui. Nützen tuts dem Patienten zwar nichts, aber was solls. 🤑
Die «Ausweitung des Krankheitsbegriffs» ist eine beliebte Methode der gierigen Ärzte und der Pharma, am liebsten hätten diese , dass alle krank sind und täglich Medikamente schlucken müssen, das Beste daran ist, dass sie dann auch nochmals bei den Nebenwirkungen absahnen können
Leider ist auch beim Diagnose-Sammelsurium Demenz zu befürchten, dass die markante Ausweitung des Krankheitsbegriffs zu einer viel häufigeren Diagnosestellung und teuren Big Pharma Therapien führen wird – ein allgemeines Prinzip von Big Pharma.
Sehr problematisch sind dabei die «Biomarker». Tönt wissenschaftlich, ist es aber etwa so wie das geplante «Pandemie-Frühwarn-System für die Schweiz» durch Corona-Sequenzierung und Monitoring im Abwasser eines jeden Ortes, welches dann zum lokalen Lockdown führen kann, ohne je einen Kranken gesehen zu haben.
Die Medizin muss höllisch aufpassen, dass sie sich nicht komplett vom Menschen entfremdet und eine rein technische Disziplin wird, bei der nur noch Big Data relevant ist und sogar kollektiv über sehr viele Menschen hinweg Entscheidungen gefällt werden und wahrscheinlich oft zu deren Nachteil.
Medizin quo vadis / wohin driftest du?
Wie geht doch das Bonmot: Es gibt keine Gesunde. Es gibt höchstens Leute, die noch nicht genügend genau ärztlich untersucht worden sind 😉
Eine unzuverlässige Früherkennung ist eine fragwürdige Angelegenheit.
Früherkennung einer Krankheit, gegen welche es keine wirksame Therapie gibt, ist auch eine fragwürdige Angelegenheit.
Kumuliert ist das so fragwürdig, dass mit Sicherheit kommerzielle Interessen dahinter stecken müssen.