Einwegspritzen

Das britische Impfkomitee kannte die Schätzungen zur «number needed to vaccinate» schon letzten Herbst. Die Öffentlichkeit erfuhr sie erst drei Monate später. © alekromodin / Depositphotos

800 bis 210’000 Covid-Booster verhinderten eine Hospitalisation

Martina Frei /  Eine britische Berechnung zeigt über 260-fache Unterschiede in verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

Die «UK Health Security Agency» (UKHSA) hat anhand der Daten im britischen Impfregister berechnet, wie viele Menschen sich erneut gegen Covid boostern (also ein viertes Mal impfen) lassen mussten, um unter den Geimpften eine schwere Covid-Erkrankung zu verhindern. Intern präsentierte die UKHSA ihre Schätzung der «number needed to vaccinate» bereits Ende Oktober 2022. Veröffentlicht wurde sie Ende Januar 2023.

Die Berechnungen der UKHSA zeigen: Selbst wenn Risikofaktoren bestanden, drohte den allermeisten Personen keine Hospitalisation mehr wegen Covid, sogar wenn sie sich im Herbst 2022 nicht boostern liessen. Markant sind die grossen Unterschiede zwischen vulnerablen Personen und jüngeren ohne Risikofaktoren. Die Impfung war demnach für die Risikogruppen sehr viel nützlicher als für die Nicht-Risikogruppen.

Ein Beispiel: Gemäss der Schätzung verhinderte die Covid-Auffrischimpfung im Herbst 2022 bei einer von 6000 Personen mit Risikofaktoren im Alter von 40 bis 49 Jahren eine Covid-Hospitalisation. Die anderen 5999 Personen wären rechnerisch auch ohne diese vierte Impfdosis nicht wegen Covid ins Spital gekommen.

Bei den 40- bis 49-Jährigen ohne Risikofaktoren brauchte es sogar 92’500 Booster-Impfungen, um einer dieser geboosterten Personen die Hospitalisierung wegen Covid zu ersparen. Die anderen 92’499 geboosterten Personen wären auch ohne diese vierte Impfung nicht wegen Covid ins Spital gekommen – aber sie riskierten Nebenwirkungen, wenn sie sich impfen liessen. Der Nutzen des Boosters war in dieser und in den jüngeren Altersgruppen also fraglich. 

NNV UK Hospitalisation
Wie viele Personen mit und ohne Risikofaktoren müssen gegen Covid geimpft werden, um für die Dauer eines Jahres eine Hospitalisation zu verhindern? Angegeben wird die «number needed to vaccinate» (NNV) ab Juli 2022 für die Erstimpfung (primary, zwei Impfdosen), die erste Auffrischimpfung, die zweite Auffrischimpfung sowie für einen eventuellen weiteren Booster im Frühling 2023. Lesebeispiel: In der Altersgruppe der ab 70-Jährigen, die sich ab Juli 2022 erstmals gegen Covid impfen liessen (erste und zweite Dosis), verhinderte die Impfung statistisch bei etwa einer von 300 Personen eine Hospitalisation. Bei der dritten Impfdosis (dem ersten Booster) lag die NNV für diese Altersgruppe bei etwa 500, bei der vierten Dosis (zweiter Booster) bei 800.

Bei den über 70-Jährigen war die NNV am niedrigsten

Die «number needed to vaccinate» (NNV) gibt an, wie viele Personen geimpft werden müssen, um einer davon – je nach Berechnung – eine Erkrankung, eine Hospitalisation oder einen vorzeitigen Tod zu ersparen. Sie liefert einen Anhaltspunkt, wie wichtig eine Impfung aus Sicht von Public Health im Vergleich zu anderen Impfungen oder Massnahmen ist. Die Wirksamkeit der Impfung, die Inzidenz und die in der Bevölkerung vorhandene Immunität gegen den Erreger beeinflussen die NNV.

Am niedrigsten war die NNV in der britischen Schätzung für Menschen ab 70 Jahren: Die Auffrischimpfung im Herbst 2022 verhinderte durchschnittlich bei einer von 800 geboosterten Personen in dieser Altersgruppe eine Hospitalisation und bei einer von 7500 eine Intensivbehandlung. 

NNV UK Intensivbehandlung
Diese Tabelle gibt an, wie viele Personen geimpft beziehungsweise geboostert werden mussten, um eine Intensivbehandlung zu verhindern.

Keine Differenzierung bei den Seniorinnen und Senioren

Die Berechnungen der UKHSA beruhen auf dem Stand von Juli 2022. Damals kam es zu einer kleinen Omikronwelle in Grossbritannien. Die UKHSA nahm bei ihren Berechnungen an, dass die Wirksamkeit der Impfung gegenüber den kommenden Virusvarianten gleich bleiben wird wie gegenüber der Omikron-Variante, dass die Impfung alle Altersgruppen gleich gut schützt und dass ihre Wirksamkeit (Schutz vor Hospitalisation) je nach zeitlichem Abstand zur letzten Impfdosis zwischen 90 und 50 Prozent beträgt.

In der Altersgruppe der ab 70-Jährigen, die sich ab Juli 2022 erstmals gegen Covid impfen liessen (erste und zweite Dosis), verhinderte die Impfung laut der UKHSA statistisch bei etwa einer von 300 Personen eine Hospitalisation. Bei der dritten Impfdosis (dem ersten Booster) lag die NNV für diese Altersgruppe bei etwa 500, bei der vierten Dosis (zweiter Booster) bei 800. 

Da Schätzungen zur NNV immer mit Unsicherheit behaftet sind, wäre es interessant zu wissen, wie gross diese Unsicherheit ist, und auch, wie die Resultate bei den verschiedenen Impfstoffen ausfielen. Doch dazu macht die UKHSA auf Nachfrage keine Angaben. Sie geht bei den über 70-Jährigen auch nicht näher ins Detail, indem sie zum Beispiel unterscheidet zwischen hochbetagten Heimbewohnerinnen und -bewohnern und vergleichsweise gesunden, selbständig lebenden Senioren.

In den Hersteller-gesponserten Studien war die durchschnittliche NNV tiefer

Eine Gruppe um den US-Wissenschaftler Andrew Larkin berechnete anhand der Informationen in den grossen, Hersteller-gesponserten Impfstudien die NNV. Sie betrug – über alle Altersgruppen hinweg – nach den ersten beiden Pfizer/Biontech-Impfdosen 2714, um eine Hospitalisation zu verhindern. In einer israelischen Studie lag sie bei 4004 und in der Moderna-Impfstudie bei 502. Diese Zahlen sind allerdings nicht direkt vergleichbar mit denen der UKHSA, weil sie sich auf andere und viel kürzere Zeiträume beziehen.

Dass die NNV jetzt so viel höher ist, hat mehrere Gründe: Erstens war der in den Studien anfangs postulierte, sehr hohe Impfschutz in der Realität «nie reproduzierbar». Das sagte der österreichische Experte Franz Allerberger kürzlich im Interview gegenüber Infosperber. Zweitens waren bis zum Herbst 2022 bereits sehr viele Menschen mit dem Coronavirus in Kontakt gekommen und hatten eine Immunität aufgebaut. In der Schweiz sollen es im August 2022 über 97 Prozent der Bevölkerung gewesen sein, berichtete der «Blick». Die NNV steigt, wenn viele Menschen in der Bevölkerung immun gegen die Krankheit sind und wenn die Inzidenz tief ist. Drittens wird immer wieder berichtet, dass die Omikron-Variante weniger gefährlich sei als frühere Virusvarianten.

Laut Bundesrat Alain Berset betrug die NNV, um eine Hospitalisation zu verhindern, Anfang November 2021 (über alle Altersgruppen hinweg) angeblich nur 50. «Im Schnitt kann pro 50 Impfungen eine Hospitalisierung und pro 150 Impfungen eine Belegung auf der Intensivstation vermieden werden», behauptete das Bundesamt für Gesundheit damals kurz vor der Abstimmung zum Covid-19-Gesetz (Infosperber berichtete).

Grossbritannien hat Boosterimpfungen vorläufig weitgehend gestoppt

Grossbritannien hat nun die Covid-Boosterimpfungen für die Bevölkerung am 12. Februar 2023 eingestellt. Nur noch ausgewählte Personen mit hohem Risiko würde später im Jahr eine weitere Boosterdosis angeboten, teilt der britische «National Health Service» auf seiner Website mit.

Daten aus anderen Ländern seien zwar nicht 1:1 auf die Schweiz übertragbar, dennoch könne man davon ausgehen, dass die Situation in der Schweiz zumindest ähnlich sein dürfte. Die Zahlen aus Grossbritannien würden die Schweizer Impfempfehlung letzten Herbst stützen, teilt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf Anfrage mit. Damals empfahl das BAG den Booster Personen ab 65 Jahren, Personen ab 16 Jahren mit chronischen Erkrankungen oder mit Trisomie 21 sowie Schwangeren und allen, «die ihr Risiko für eine Infektion aus beruflichen und/oder privaten Gründen etwas vermindern möchten».

Der Einkaufspreis für eine Boosterdosis wird geheim gehalten. Der Kanton Bern nannte im Juni 2022 einen Richtpreis für Selbstzahler von 60 Franken pro Covid-Impfdosis. Legt man diesen Betrag zugrunde, dann hätten die Boosterdosen im Herbst 2022 bei den über 70-jährigen Menschen rund 48’000 Franken gekostet, um eine Hospitalisation zu verhindern. Bei den 40- bis 49-Jährigen wären dafür über 1,2 Millionen Franken nötig gewesen.

Um eine Intensivbehandlung einer geboosterten Person zu verhindern, beliefen sich die Impfkosten bei den ab 70-Jährigen bei dieser Annahme auf 450’000 Franken, bei den 40- bis 49-Jährigen durchschnittlich auf rund 10,6 Millionen Franken und bei den 40- bis 49-Jährigen mit Risikofaktoren auf fast drei Millionen Franken.

Die «Number needed to vaccinate» (NNV) bei anderen Impfungen

Der Nutzen einer Impfung wird daran bemessen, wie wirksam sie ist und wie häufig sie unerwünschte Wirkungen hervorruft. Aus Public Health Sicht ist ein Vergleich mit anderen Impfungen sinnvoll. Hier einige Beispiele aus Studien, die jedoch mit Vorsicht zu interpretieren sind. Denn bei den Berechnungen kommt es auch darauf an, welche grosszügigen oder konservativen Annahmen die Studienautoren getroffen haben. Bei der Grippeimpfung etwa ist die Beweislage insgesamt schwach.

ImpfungAltersgruppewie viele Personen muss man impfen, um eine Hospitalisation zu verhindern (NNV)StudienortQuellenangabeBemerkungPreis pro Dosis in der Schweiz
Grippealle Risikogruppen, für welche die Grippeimpfung empfohlen wird3360 pro WintersaisonPortugal«BMC Public Health»19,20 CHF
GrippePersonen ab 65 Jahre741 pro WintersaisonPortugal«BMC Public Health»Ob die Grippeimpfung überhaupt Hospitalisationen verhindert, ist umstritten. Die Beweislage dafür ist dürftig. Eine sehr grosse britische Studie fand keinen Effekt bezüglich verhinderter Hospitalisationen bei Senioren.19,20 CHF (Grundversicherung)

41,15 CHF
(neuer Impfstoff für Senioren, wird derzeit nicht von der Grundversicherung bezahlt)
GrippeKinder im Alter von 6 bis 23 Monaten1031 bis 3050 pro WintersaisonUSA«Pediatrics», «Vaccine»Annahme: Impfwirksamkeit beträgt 50%19,20 CHF
GrippeKinder im Alter von zwei bis fünf Jahren4255 bis 6897 pro WintersaisonUSA«Pediatrics», «Vaccine»Annahme: Impfwirksamkeit beträgt 50%19,20 CHF
Pneumokokken (können Lungenentzündung hervorrufen) ab 65 Jahre576 bis 1620 in vier bis fünf Jahren BeobachtungszeitNiederlande«New England Journal of Medicine»,
«arznei-telegramm», CDC, «Vaccine»
grosse Bandbreite der Ergebnisse. Eine Hersteller-finanzierte Berechnung nennt eine NNV, die viel niedriger ist als diejenige, welche die US-Behörde CDC und andere errechneten83 CHF
KeuchhustenBabys unter 12 Monatemindestens 5000 bis 18’500 ElternItalien«Vaccine», «Vaccine»Impfung der Familien, um so indirekt die Babys zu schützen36,25 CHF
KeuchhustenBabys unter 12 Monate4800 bis über 47’000 ElternKanada«Clinical Infectious Diseases», «Vaccine»Impfung der Familien, um so indirekt die Babys zu schützen36,25 CHF
Die NNV verändert sich mit der Wirksamkeit einer Impfung, mit dem gewählten Zeitraum, mit der Häufigkeit von Neuerkrankungen und damit, ob die Krankheit in einer bereits weitgehend immunen Bevölkerung zirkuliert oder nicht. Sekundäre Effekte werden mit der NNV nicht erfasst, also zum Beispiel, ob eine Impfung nebst dem Schutz vor der Krankheit auch ihre Weiterverbreitung eindämmt.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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4 Meinungen

  • am 3.03.2023 um 14:54 Uhr
    Permalink

    Die number needed to treat (NNT), wie sie üblicherweise heisst, ist eine wichtige Kenngrösse für die absolute Wirksamkeit von Therapien. Anhand der Zulassungsdaten für die Corminaty Pfizer Impfung konnte man schon Ende 2020 vermuten, dass man ca 10’000 Menschen (<65 jährige) impfen muss, um einen einzigen (!) schweren Verlauf resp. Hospitalisierung zu verhindern. Es wurden nicht viele ältere Menschen in die Impfstudien eingeschlossen. Diese für die "real world" entscheidende Kennzahl ist natürlich nicht so medienwirksam wie die (angebliche) 95% relative Impfwirkung, die für den Verlauf einer "Pandemie" bedeutungslos ist.

  • am 3.03.2023 um 22:17 Uhr
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    Ich finde es fragwürdig, wie der Booster immer noch ziemlich offensiv empfohlen wird. Bei so geringem Nutzen werden doch die Nebenwirkungen zum entscheidenden Faktor.
    Klar, wenn die Leute nach der Impfung wie die Fliegen weggestorben wären, dann hätte man es sicher gemerkt. So etwas ist nicht geschehen. Aber es gibt Nebenwirkungen, und zwar massive. Einen eindrücklichen Bericht eines Betroffenen kann man hier hören:
    https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/mirko-schmidt-die-corona-impfung-machte-mich-schwer-krank?id=12333559
    Ich bin auch ziemlich sicher, dass leichtere Formen von Nebenwirkungen (welche aber trotzdem die Lebensqualität ernsthaft beeinträchtigen können) nur sehr mangelhaft anerkannt und erfasst werden. Wir haben noch keinen Überblick.

  • am 4.03.2023 um 17:17 Uhr
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    Die Risikofaktoren waren hohes Alter, Übergewicht, Diabetes und Immunschwäche.

    In der deutschen Bundeswehr herrscht immer noch Impfpflicht inklusive Booster. Die Rekruten efüllen i.d.R. keine der Kriterien einer Risikogruppe. Schaut man sich die Zahl der nötigen Impfungen für Menschen unter 30 ohne Risikofaktoren an und vergleicht dies mit der Zahl der möglichen Myocarditis durch Impfung, die je nach Studie zwischen 1:3000 bis 1:8000 liegt, kann einem nur noch schlecht werden. Risiko für diverse andere Nebenwirkung, wie Thrombosen, Embolie, Bells Palsy etc. kommen noch oben drauf.

    In Deutschland siegt immer öfters Ideologie über rationales Denken.

    Nur noch unfassbar.

  • am 11.03.2023 um 12:03 Uhr
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    Ich frage mich: Wie will man die Wirksamkeit eines medizinischen, präventiven Eingriffs beurteilen können? Es gibt – aus meiner Sicht – einfach zu viele Unbekannte, sodass mich diese Zahlen an andere Computerberechnungsmodelle erinnern, die sich später als völlig irrelevant herausgestellt hatten.
    Sind diese Berechnungen bei Impfungen, bzw. Gen-Injektionen, also wirklich relevant und somit erwähnenswert?

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