Kommentar
Vorgetäuschte Steuerrevision
Wenn Regierungen sparen müssen, aber ihre eigene Klientel schonen wollen, greifen sie gerne zu einem alten Trick: Sie machen Vorschläge, die keine Mehrheiten finden, weil sie nicht nur das eigene Lager, sondern auch breite Bevölkerungsschichten betreffen. So lässt sich das Bestreben nach Opfersymmetrie vortäuschen, ohne tatsächlich handeln zu müssen. Auf diesen Trick setzt nun auch FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter im Rahmen des geplanten Sparpakets.
Konkret lässt die Bundesrätin prüfen, den Kapitalbezug aus der Vorsorge steuerlich weniger attraktiv zu machen. Der reduzierte Sondersatz soll abgeschafft und das Altersguthaben bei Auszahlung einkommensabhängig besteuert werden. Wer künftig Kapital aus der beruflichen Vorsorge (BVG) und der 3a-Säule beziehen will, würde demnach einer höheren Progression unterliegen und mehr Steuern zahlen. Die erwarteten Mehreinnahmen für Bund und Kantone belaufen sich auf rund 220 Millionen Franken.
Reiche werden zur Kasse gebeten
Gerechtfertigt wäre eine solche Revision allemal. Denn der vergünstigte Bezug von Alterskapital ist vor allem ein Steuergeschenk an die hohen Einkommen. Sie können damit jeweils eine beträchtliche Summe am Fiskus vorbeischleusen. Ein Beispiel: Ein Ehepaar mit einem steuerbaren Einkommen von 300’000 Franken zahlt heute bei Bezug von 650’000 Franken aus der zweiten und dritten Säule lediglich 14’000 Franken an Bundessteuern. Ohne Sondersatz müsste es dem Fiskus bedeutend mehr entrichten, nämlich 57’000 Franken – also 43’000 Franken mehr.
Die Steuerrevision würde damit vor allem einen kleinen Kreis von gutsituierten Spitzenverdienenden treffen, traditionell ein wichtiger Teil der FDP-Wählerschaft. Sie wären es, die den Hauptteil der prognostizierten 220 Millionen an zusätzlichen Steuererträgen beisteuern müssten.
Demgegenüber würde die Mittelschicht weniger stark zur Kasse gebeten. Da sie weniger Einkommen und Alterskapital aufweist als die Oberschicht, wirkt sich die Progression bei ihr moderater aus. Ein Ehepaar mit einem Einkommen von 145’000 Franken und einem Kapitalbezug von 270’000 Franken würde beispielsweise neu 7’100 Franken Bundessteuern zahlen – das sind 2’900 Franken mehr als heute. Dies dürfte in diesem Einkommenssegment spürbar, aber verkraftbar sein.
Untere Lohnsegmente kaum betroffen
Nicht ganz verschont würden vom Wegfall des Steuerprivilegs auch Kleinsparer in den unteren Einkommensklassen. Für ein Ehepaar mit 65’000 Franken steuerbarem Einkommen und einem Kapitalbezug von 150’000 Franken würde sich die Steuer um 400 Franken erhöhen – von 700 Franken auf neu 1’100 Franken. Das ist auf den ersten Blick nicht viel, aber für dieses Lohnsegment auch nicht wenig.
Allerdings ist bei diesem Beispiel zu bedenken: Man muss überaus sparsam leben, um bei einem derart bescheidenen Auskommen überhaupt regelmässig in die dritte Säule einzahlen zu können. Der weitaus grössere Teil der Menschen mit Monatslöhnen von rund 5’000 bis 6’500 Franken ist kaum in der Lage, privates Alterskapital anzusparen. Letztlich dürfte die höhere Besteuerung des Kapitalbezugs daher nur sehr wenige Personen in den unteren Lohnklassen tangieren.
Ungleichbehandlung beseitigen
Gerechtfertigt wäre die Revision zudem, weil sich damit eine Ungleichbehandlung beseitigen liesse. Mit dem Ziel, das Alterssparen zu fördern, sind heute alle Gelder steuerbefreit, die während des Berufslebens in die Vorsorge fliessen. Das gilt sowohl für die AHV- und BVG-Lohnbeiträge als auch für die freiwilligen Einzahlungen in die Altersvorsorge. Mit der Pensionierung endet diese Gleichbehandlung jedoch: Während AHV- und BVG-Renten vollumfänglich der progressiv ausgestalteten Einkommenssteuer unterliegen, wird der Kapitalbezug aus der zweiten und dritten Säule mit einem vergünstigten Sondersatz besteuert.
Diese Ungleichbehandlung ist umso stossender, als ausgerechnet jene davon profitieren, die es am wenigsten benötigen: Personen, die dank hohem Einkommen viel Alterskapital angespart haben, wie das obige Beispiel zeigt. Für sie ist ein Kapitalbezug eine risikolose Steuerumgehung, zumal sie deswegen nicht auf eine sichere Rente bis an ihr Lebensende verzichten müssen.
Anders sieht es für jene Mehrheit der Menschen aus, die über die obligatorischen AHV- und BVG-Beiträge hinaus kaum oder nur wenige Mittel in die freiwillige Vorsorge einzahlen können. Sie gehen bei einem Bezug des Kapitals das Risiko ein, dieses mit Verlust zu investieren oder zu rasch aufzubrauchen, sodass am Ende die Sozialhilfe droht. Entscheiden sie sich daher vorsichtshalber für die Rente, bestraft sie der Fiskus mit dem vollen Steuertarif.
Das macht deutlich: Hier wird soziale Gerechtigkeit in abstruser Weise ins Gegenteil verkehrt.
Wer hat, dem wird gegeben
Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass die Gut- und Spitzenverdienenden nicht erst nach der Pensionierung, sondern auch schon während des Arbeitslebens am stärksten vom steuerbefreiten Vorsorgesparen profitieren. In dieser Zeit gelingt es ihnen dank der geltenden Gesetzgebung, ihre Steuern massiv zu reduzieren.
Das zeigt folgendes Beispiel: Eine Person in der Stadt Bern mit 250’000 Franken steuerbarem Einkommen, die über 25 Jahre hinweg jeweils 26’000 Franken in die 3a-Säule sowie freiwillig in die Pensionskasse einzahlt, spart sage und schreibe rund 281’000 Franken an Steuern. Selbst wenn der Bezug der 650’000 Franken bei der Pensionierung künftig nicht mehr steuerlich vergünstigt wäre und sie deswegen zusätzlich rund 40’000 Franken Bundessteuer dafür entrichten müsste, bliebe ihr unter dem Strich immer noch eine Steuerersparnis von fast einer Viertelmillion Franken.
Das steht im krassen Kontrast zu den Möglichkeiten der übrigen Einkommensschichten. Wer einen normalen Lohn verdient, ist nur bedingt in der Lage, beträchtliches Kapital in die freiwillige Vorsorge einzuzahlen. Daher bleiben auch ihre Steuerersparnisse bescheiden. Kurzum, das heutige System läuft daraus hinaus, dass dem, der schon hat, noch mehr gegeben wird.
Zu viele glauben, zu profitieren
Doch so berechtigt die Abschaffung des vergünstigten Kapitalbezugs ist: Die Revision dürfte kaum Chancen haben. Denn wer kann, zahlt heute auf jeden Fall in die Säule 3a ein, mag die Einlage noch so bescheiden und für die Altersvorsorge noch so unwesentlich sein. Dafür sorgt schon die Werbung der Finanzindustrie. Hinzu kommt, dass sich inzwischen rund 60 Prozent der Neurentner das Alterskapital teilweise oder ganz auszahlen lassen – dies oftmals in der trügerischen Annahme, mit dem privaten Anlegen des Kapitals die bescheidene Rente aufbessern zu können.
Die allermeisten von ihnen glauben, zu den Nutzniessern zu gehören, und werden daher in der Revision den Versuch des Staates sehen, ihnen ein wohlerworbenes Privileg zu entreissen. Und selbst jene, die sich bewusst sind, wie gering die Steuerersparnis für Normalverdienende ist, werden sich sagen: Lieber wenig als gar nichts. All dies macht es schwierig, Mehrheiten für die Abschaffung des Steuerschlupflochs zu finden.
Die Rechnung geht auf
Die Rechnung von Karin Keller-Sutter dürfte damit aufgehen, noch bevor die Vernehmlassung zur Revision abgeschlossen ist. So hat die politische Rechte bereits zum jetzigen Zeitpunkt derart heftig Opposition angekündigt, dass fraglich ist, ob das Vorhaben je in Angriff genommen wird.
Darauf weist übrigens auch der Anfang November vom Bundesrat gefällte Entscheid in Sachen dritte Säule hin: Ab 2026 sind rückwirkende Einzahlungen in 3a-Konten möglich. Das ist kein Abbau, sondern ein Ausbau des steuerprivilegierten Alterssparens – also das Gegenteil dessen, was die Abschaffung des Sondersatzes beim Kapitalbezug bezweckt. Und profitieren werden auch in diesem Fall wieder jene, die gut genug verdienen, um die Einzahlungen überhaupt leisten zu können.
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Alle Steuerberechnungen im Text basieren auf dem am 19. Oktober 2024 von «Tamedia» veröffentlichten Steuerrechner zur Abschaffung des Sondersatzes für den Bezug von Vorsorgekapital sowie auf dem Steuerrechner des Kantons Bern für den Steuerort Stadt Bern (angenommene Kriterien: 50-jährig, römisch-katholisch, 50’000 Franken Vermögen).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Walter Langenegger war Inlandchef des «St.Galler Tagblatts» und später Kommunikationschef der Stadt Bern. Er veröffentlicht seine Beiträge im Blog «Meinung».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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