Kommentar
kontertext: «Lust auf mich!», stand auf einer WG-Tür
Erinnerst du dich, wie du mit sechzehn die Lebensläufe deiner Eltern sahst: als abgekartetes Gelände, durchzogen von Demarkationslinien der Moral? Und wie nochmals beengter die Verhältnisse auf dich wirkten, wenn die vorige Generation ins Bild kam? Beengt von Dogmen muteten diese Lebensläufe an, umfangen vom Normenkanon der Konvention und eingezwängt in die soziale Kontrolle der Dörfer. Sonntagsschule, Konfirmation, Lehre, Militär, Töchterschule waren ihre Wegmarken, das Welschlandjahr, gefolgt von Familiengründung, Hauskauf, Vereinsmitgliedschaft, später dem Altenteil.
Wie modellierbar dagegen schien die Substanz deines Lebens vor dir zu liegen. Anstelle eines Ankommens in welcher Verabredung auch immer, wäre nur der stete Aufbruch dir gut genug. Dein Leben sollte ein fortlaufender Versuch sein.
Die gelebte Postmoderne
Man schrieb das symbolträchtige Jahr 1984. Die Mauern schienen unverrückbar, auch wenn die Machtblöcke Risse zeigten – der Warschaupakt mehr nach aussen, die westlichen Industriegesellschaften nach innen. In der Schweiz wirkten die Regularien des bürgerlichen Lebens mit jedem Tag noch etwas maroder. Sie luden ein zum Sturm auf die Bastille des Anstands. Eine ganze Serie von Angriffen hatte sie mürbe gemacht, der Club of Rome, die 1968-er und die RAF, der Siegeszug der Popkultur, der Feminismus, urbane Subkulturen, die Unabhängigkeitsbewegungen in den einstigen Kolonien.
Und du? Noch vor dem Ende deiner schulischen Kerkerhaft stellte sich die Frage: War es unter diesen historischen Umständen nicht ein Experiment mit offenem Ausgang, beim Führen des Lebens dieses Verbum wörtlich zu nehmen und zu sagen: Alle Macht der Fantasie!?
Ohne eigenes Zutun warst du in eine Epoche der Wahlfreiheit geboren. Arbeit an der Chancengleichheit hatte sie eröffnet. Ihr Schlüsselwort: Lebensentwurf. Dieser Begriff schien fast absurd, angewendet auf die Biografien der Vorfahren. Das eigene Leben als Experimentierfeld zu sehen, wäre nur wenigen von ihnen eingefallen. Du aber konntest studieren oder bummeln, die Strebsamkeit pflegen oder das Laisser faire, du konntest die Blasphemie zur Wurzel deiner Kunst erklären oder die Frömmigkeit: Ein weithin durchstrahltes Gelände zwischen Avantgarde und Tradition stand offen: Fashion- und Denkstile, Wohnformen, Spielarten des Begehrens und Liebens – die gelebte Postmoderne. «Lust auf mich!», stand auf einer WG-Tür; die Bewohnerin längst weitergezogen, Silence Nixdorf ihr Pseudonym.
Der Preis für all diese Räusche war die Abkehr vom Konsumerismus. Und wie lustvoll die war! Ihr Less is more war verlockender als die Herdentriebe eines Marktes, der aus allen Nähten platzte, während immer mehr Wegwerfware aus Niedriglohnländern die Regale verstopfte.
Der Konsumverzicht ging einher mit Improvisationsgeist und Bricolage, der geteilten Nutzung brachliegender Räume, Selbstverwaltung, Patchwork und Recycling: ein lustvoll parasitäres Leben auf Stadtbrachen und verlassenen Bauernhöfen, an den fransenden Rändern des Wohlstands, in Regionen der Schweiz, die als ‹strukturschwach› galten: der französische Jura, die Surselva, das Entlebuch. Die Altbaumieten waren so günstig wie die Krankenkassenprämien, und die Schweizer Post suchte dringend Aushilfen für die Nacht. Weshalb also weiter Besitz aufhäufen, wenn von allem zuviel da war, in Zureich zumal?
Aus diesem Gefühl des Surplus hast du dich für alles eingesetzt, was dir entsprach: für Artenschutz und gegen den Goldhandel mit Südafrika, für Radwege und gegen Homophobie, für Mieterrechte und gegen die Abholzung des Regenwalds. Dabei hielt sich die Angst vor staatlicher Repression in Grenzen. Der Schweizer Geheimdienst war von der Drohkulisse zur Lachnummer geworden, seit Kommunistenjäger à la Cincera und die Logenbrüder der P26 sich in Slapstick übten: Staatsschutz als Selbstparodie.
Was sollte man dir schon wegnehmen, wenn du nichts hattest als ein paar Bücher? So hat dich die Wehrdienstverweigerung nicht mehr als jene Lehrerstelle gekostet, die du um keinen Preis haben wolltest. Du hast nach Lust und Laune polemisiert, protestiert, boykottiert und ironisiert. Ziel deines Spotts: das Interieur der Kirchgemeindehäuser, der sonntägliche Hornkonzertterror aus dem väterlichen Studierzimmer, die Nachttopffrisur des Oberstleutnants und Nachrichtensprechers. No future! hiess eigentlich: Not your future – alles, nur nicht das, was ihr für mich vorgesehen habt.
Ein Freiheitsbegriff
Das frei wovon war also recht klar. Offener blieb die Frage frei wofür? – wie deine Gegen-Zukunft aussehen sollte. Nur eines stand fest: Sie sollte ein neues Verhältnis zwischen Pflicht und Kür zeigen. Und schön wär es auch, wenn darin das Spontane und die Lockerheit überwögen.
Die Jahre vergingen im Rausch. Eines Tages – viele Weggefährten waren bereits Eltern – hast du erstmals auf eine Wegstrecke eigenen Lebens zurückgeschaut. Da wurden Muster erkennbar: Wo immer Fremdbestimmung drohte, hattest du Reissaus genommen. Damit wurde mancher Konflikt erst gar nicht ausgetragen, weil du schon über alle Berge warst. Freiräume für antikapitalistische Picknicks gab’s ja genug.
Doch zur Gänze aus dir selbst waren diese Sponti-Ideen nicht gekommen. Der Blick zurück enthüllte die Bedingungen ihrer Möglichkeit. So sehr wie deinem Denken verdankten sie sich dem Kontext: einer aufgeheizten Prosperität, dem Kalten Krieg, dem Neoliberalismus als Ausbeutungskonzept der Stunde.
Vieles wirkte auf deinen Freiheitsbegriff ein. Die geplante Pershing-Stationierung hatte die Friedensbewegung gestärkt, die Herrenreitermentalität des Wirtschaftsfreisinns hatte den Feminismus aus der Reserve gelockt. Nach Tschernobyl flogen der Anti-Atomkraft-Bewegung viele Sympathien zu. Die Marionettenregimes und Stellvertreterkriege der USA hatten Protest- und Solidaritätswellen durch den Kleinstaat geschickt. Der Schweizer Beitrag zur Plünderung des Planeten und der einstigen Kolonien wurde sichtbar. Darob war ein Milieu der Dauerentrüstung herangewachsen. Wirklich frei wählbar waren Lektüren und Tanzstile unter diesen Umständen nicht. Wer zum Inner Circle gehören wollte, kam ohne popkulturellen Situationismus nicht weit.
Spielräume
En passant war so ein vom Bewusstsein für Ökologie und Gleichberechtigung geprägter Lebensstil entstanden. Doch bei aller Lust, Gegenräume zu zimmern, geriet die alte Frage etwas aus dem Blick: Wie frei war nun dein Weg wirklich, verglichen mit dem des Schreiners, der um 1900 das väterliche Geschäft übernahm? Oder seiner Frau, die unter die Haube und damit in eine festgeschriebene Mutterrolle kam?
Bedenkst du den feierlichen Ernst, mit dem diese Menschen in die Linse des Fotografen sahen, zur Konfirmation oder zur bestandenen Gesellenprüfung, fragst du dich: Was wäre deine persönliche Freiheit wert auf dem Plan ihrer Geschichte? Und sieht ihre Gesellschaft nur aus der Ferne so geschlossen aus? Liegt es also an dir, dass die Spielräume verborgen bleiben, in denen ihre Individualität zum Ausdruck kommt?
Versuchst du die Disruptionen zu ermessen, denen sie sich allein in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg gegenübersahen – Elektrifizierung und Mobilität, Massenmedien, Psychoanalyse, Serienfertigung –, dann wirken viele Umwälzungen ‹deiner› 1980er-Jahre klein, obwohl sie dir grundstürzend vorkamen. Noch fragwürdiger mutet die Selbstermächtigung deiner Generation an, wenn du die sozialrevolutionären Bewegungen der Jahrhundertwende mitbedenkst, die vielen Sozialismen und Syndikalismen, die Reformbewegung um Steiner, die Begeisterung der Avantgarde für ‹das Primitive›, die Kolonien auf dem Monte Verità – und die Amazonasreisenden aus dem aargauischen Freiamt, die Appenzeller Pastorensöhne, die als Leiter einer Kolchose endeten oder als Klein-Gauguins in der Südsee den Nabel der Welt belauschten.
Für diese Abenteuer mag es in deiner Familie keine Aktivbeispiele geben, doch als dein Grossvater in der Schuhfabrik seine ‹Lebensstelle› antrat, fanden sie statt. Verglichen damit mutet der Fluxus deiner wilden Jahre bonsaihaft an. Und doch bestimmt die damals geprägte Haltung viele deiner heutigen Entscheidungen: Improvisationsgeist als Tugend, Biografie als Experiment, Zusammenleben als Bühne, die Paarung von Geschlechtern und Identitäten als Trial and Error mit offenem Ausgang.
Was davon hat sich als lebbar erwiesen? Und wie weltanschaulich offen war es wirklich?
Aufschlussreich ist es allemal, die Traktate der Zeit wiederzulesen.[1] Da trennt sich wie Spreu vom Weizen der Jargon von einer Sprache, die gültig den Wunsch beschreibt, ein eigenes Leben zu führen – in Werte eingebettet, doch frei in der Wahl der Mittel, und fragend in seiner Haltung zu Wahrheit und Zukunft, selbstbestimmt, doch solidarisch. Leben als Versuch.
[1] Erich Fromm: Haben oder Sein / Jürg Jegge: Dummheit ist lernbar / Judith Butler: Gender Trouble / Franz Hohler: Die Rückeroberung / Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen / Max Frisch: Schweiz ohne Armee?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Lieber Michel Mettler, wie wohltuend das alles zu lesen: dass es nicht ganz umsonst war, wofür man ein Leben lang gekämpft und sich eingesetzt hat. Nun nach der Pensionierung schaut man zurück, schaut genauer hin, realisiert die Stolpersteine, die kleinen Feigheiten und überlegt sich, was man in der verbleibenden Zeit noch anstellen und denken könnte. Ich habe mich für ein Schreiben entschieden, das zwar die Biografie als Quelle hat, aber nicht biografisch sein soll. Frei nach Rimbaud: Ich ist ein Anderer. Ein Aufdecken, Entlarven, auf die Schliche-Kommen, Erforschen, Nachforschen…
Herzlichen Dank für die warmherzigen, ehrlichen Sätze.