Glosse
Wie Gummi in die Shrimps kommt
Wissenschaftliche Studien, die echt Neues, Originäres melden und zu unverhofften, auch weitläufigen Einsichten führen, sind selten. Zudem sind solche Trouvaillen in der Informationsflut schwierig herauszufischen. Nachfolgend eine kleine, ironisch kommentierte Auswahl dieses Sommers. Einige Meldungen liegen bereits Monate zurück, aber Forschung an sich ist stets pseudoaktuell, wurden die Resultate doch schon Jahre oder zumindest Monate vor der Publikation ermittelt.
Nicht länger in die Höhe, aber in die Breite
Gemeinhin gilt, dass Kinder immer grösser werden als ihre Eltern. Dieser Trend ist jedoch in den reichen Ländern schon vor mehr als 30 Jahren gebrochen worden: Die Körpergrösse stagniert hier und nimmt beispielsweise in den USA sogar ab, vermutlich aus Gründen der Einwanderung aus Mittelamerika und Asien. Eine Studie der Universität Zürich hat die Stagnation der Körpergrösse jetzt auch für die Schweiz nachgewiesen, erstmals mit repräsentativen Daten der «nationalen Ernährungserhebung» (menuCH). Das Resultat: Im Durchschnitt werden heute die jungen Frauen 1,66 Meter gross, die Männer 1,78 Meter. Ab Jahrgang 1970 werden Männer und Frauen in der Schweiz nicht mehr höher als ihre Vorgänger. Die genauen Gründe liegen noch im Dunkeln, doch eine der wahrscheinlichsten Hypothesen der Forscher überrascht: Inzwischen seien Ernährung und medizinische Versorgung so gut geworden, dass die meisten Menschen ihre genetisch festgelegte Maximalgrösse erreicht hätten (NZZaS, 03/06/2018). – Anzufügen wäre, dass wir uns hierzulande eher im Überfluss ernähren und die Bevölkerung statt weiter in die Höhe jetzt heftig in die Breite wächst. Darüber macht die Zürcher Studie aber keine quantitativen Aussagen. Ob auch die Breite bzw. das Körpergewicht bald an Grenzen stösst, ist offen. Einengender Faktor ist da bloss die Kleidergrösse.
Kautschuk in Fisch und Meeresfrüchten
Plastik ist buchstäblich in aller Munde, gelangt doch ein Teil des Kunststoffabfalls übers Wasser in die Nahrungskette und endet schliesslich in unserem Körper (NZZ, 10/08/2018). Das gilt ebenso für den Abrieb von Pneus, eine bisher vernachlässigte Umweltbelastung, ökologisch quasi ein schwarzes Loch. Wer am Steuer seines Wagens bremst, beschleunigt oder eine scharfe Kurve nimmt, lässt stets mikroskopisch kleine Gummipartikel hinter sich. Durch Wind, Regen und via die Flüsse werden sie schliesslich ins Meer transportiert. Allein in den USA sollen jährlich zwei Millionen Tonnen Pneu-Partikel in der Natur landen, schätzen amerikanische Ökotoxikologen und verlangen detaillierte Studien (ONEARTH online, New York, 07/2018). Der Pneu-Abrieb enthält Kohlenwasserstoffe sowie Schwermetalle wie Zink und ist somit giftig. Über Fische und Meeresfrüchte gelangen die Substanzen auch in humane Mägen. Kleinste Teilchen davon, also Nanopartikel, können sogar die Verdauungsorgane verlassen und sich im Gewebe von Tier und Mensch einnisten. – Endlich kapiert! Schon öfter habe ich mich nämlich gefragt, warum denn die Shrimps auf dem Teller so gummig sind. Verantwortlich dafür ist der weltweit rasant wachsende Strassenverkehr, guten Appetit!
Westen wird nachweislich dümmer
Nachdem 1905 der erste brauchbare Intelligenztest entwickelt wurde, haben sich dessen Ergebnisse in der westlichen Welt ständig verbessert. «Flynn-Effekt» heisst dieser positive Trend in Fachkreisen. Nun konnten norwegische Forscher in einer breit angelegten Studie zeigen, dass bei der Generation ab Jahrgang 1975 der IQ deutlich sinkt (um jährlich ca. 0,3 Punkte). Die im renommierten US-Journal PNAS veröffentlichten Ergebnisse bestätigen gleiche Anzeichen in andern Ländern (Midi Libre, Nîmes, 13/06/2018). Verglichen haben die Wissenschaftler die IQ-Werte von Brüdern, also von Personen, die aus dem gleichen sozialen Milieu stammen und sehr nahe verwandt sind. Der Rückgang der Intelligenz im skandinavischen Land habe folglich nichts mit den Genen und der gesellschaftlichen Herkunft zu tun, betonen die Forscher. Diese Einflüsse seien im Vergleich zu andern vernachlässigbar. Als hauptsächlichen Grund nennen sie die kulturelle Umgebung, die sich verschlechtert habe. Das manifestiere sich beispielsweise im Verfall erzieherischer Werte, speziell in der Familie, sowie beim Angebot von Fernsehen und andern Medien. Der Einfluss von Immigranten aus Ländern mit schlechteren Schulsystemen wurde dabei explizit ausgeklammert. Solche Personen wurden nicht in die Untersuchung einbezogen. – Tja, die Resultate aus dem reichen Norwegen machen stutzig. Die Schweiz wird sich wohl hüten, eine derart brisante Studie zu starten. Ein negativer «Flynn-Effekt» könnte unseren einzigen profitablen Rohstoff, die «grauen Zellen», abqualifizieren und das Land in eine tiefe Depression stürzen. Ein Trost bliebe dennoch: Auch die Konkurrenz in anderen westlichen Nationen wird vermutlich immer dümmer. Aus China sind (noch) keine Resultate verfügbar.
Sollen die Pandas verschwinden?
Die putzigen, schwarz-weissen Bären verschlingen täglich bis zu 40 Kilo Bambus. Dabei ist ihr Verdauungssystem gar nicht geeignet, die extrem faserhaltige Pflanze wirksam zu verwerten, daher die notwenigen Riesenportionen. Überhaupt wurden Pandas von der Evolution hinsichtlich Effizienz nicht gerade verwöhnt. Ihre Brunstzeit kann mehrere Wochen dauern, das Weibchen dagegen ist nur einige Tage im Jahr fruchtbar. Zudem haben die Männchen den im Vergleich zur Grösse kleinsten Penis der Tierwelt, was das Weibchen bei der Befruchtung zu akrobatischen Stellungen zwingt. Normalerweise wirft das Panda-Weibchen nur einen einzigen, fragilen Bambino, der bei der Geburt weniger als 500 Gramm wiegt und nicht selten stirbt. Angesichts solcher Umstände und der hohen Haltungskosten (bis zu mehreren Millionen Dollar pro Tier) stellt man in Fachkreisen die Frage, ob das Überleben der Pandas überhaupt gesichert werden soll (Quartz online, New York, 29/06/2018). Die Kontroverse ist emotionell aufgeladen, denn der Mensch hat die natürlichen Lebensräume der Bambusbären weitgehend zerstört, durch lange Strassen aufgetrennt, vielerorts gerodet und dem Klimawandel unterworfen. Die «Panda-Gegner» machen geltend, dass viele andere, vor dem Aussterben bedrohte Tierarten fürs Ökosystem wichtiger seien als die kostspieligen Pandas (in Tiergärten und Reservaten), beispielweise der Meeresfischotter. Die «Panda-Befürworter» dagegen verteidigen die beträchtlichen Haltungskosten. Die herzigen Tiere würden in den Zoos das Publikum anziehen und so die Bereitschaft für Spenden zugunsten des Tierschutzes erheblich erhöhen. – Ungeachtet des zoologischen Meinungsstreits sind die asiatischen Bären schon lange zu diplomatischen Instrumenten zwischen China und Ländern mit Pandas (in Gefangenschaft) geworden. Diese sogenannte «Panda-Diplomatie» betreiben etwa die USA, Deutschland und Frankreich. Vielleicht sollte sich auch die finanzkräftige Schweiz überlegen, in derartige «Zeichen der politischen Freundschaft» zu investieren. Im Berner Bärengraben gäbe es bestimmt noch Platz für ein paar drollige Pelzknäuel, und bei anhaltender Klimaerwärmung gedeiht dort auch der erforderliche Bambuswald immer besser.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis Februar 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich. Er publiziert heute auf seiner satirischen Webseite «dot on the i».