Kommentar
Was heisst Normalität nach Coronavirus?
Noch ist es kaum möglich, Familienangehörige und Freunde zu Hause willkommen zu heissen, noch können wir nicht ins Theater oder ins Konzert oder gar ins Meer baden gehen. Es ist diese Normalität, die uns fehlt! Doch andere Dinge, die uns als normal erschienen oder die wir resigniert geduldet haben, die wollen wir nicht länger als normal gelten lassen.
Ist es normal, dass Putzfrauen gemäss Kollektivvertrag sich mit einem Stundenlohn von 16.75 Franken begnügen müssen und dass Beschäftigte der Bekleidungsindustrie im Tessin am Anfang nur knapp 3000 Franken verdienen?
Ist es normal, dass die höchsten Chefs von Roche, UBS und Credit Suisse im Jahr 2018 deutlich mehr als 12 Millionen Franken verdienten? Wenn wir diesen Wirtschaftsführern einen Jahresverdienst von zwei bis gut drei Millionen überlassen, würden die «eingesparten» 30 Millionen eingesetzt, um fünftausend Kleinverdienern den Monatslohn von 3‘500 Franken auf rund 4‘000 Franken zu erhöhen? Meines Wissens sind erst in den Kantonen Neuenburg und Tessin von den Parlamenten Mindestlöhne beschlossen worden; im Tessin wird der Mindestlohn ab 2024 bloss 3’645 Franken betragen. Sofern die bestehenden Kollektivverträge nicht geändert werden, würde der Mindestlohn auf jene Hungerlöhne nicht angepasst.
Ist es normal, dass man für einen Flug von der Schweiz nach London oder Madrid nur zwei, drei Dutzend Franken bezahlt? Jetzt sind die meisten Flugzeuge am Boden stillgelegt und die Fluggesellschaften verlangen von den Staaten Unterstützung in Milliardenhöhe. Die Dividenden der guten Jahre sind den Aktionären ausbezahlt worden, aber für die Verluste sollen die Staaten aufkommen. Während vieler Jahre haben die Fluggesellschaften ihren Kunden Billigflüge angeboten und die Schäden für Gesundheit und Umwelt in keiner Weise gedeckt. Die Bevölkerung, sie besteht aus Steuerzahlern, wird nun doppelt geschädigt werden.
Ist es normal, dass Impfstoffe und jener grosse Teil der Medikamente, die nicht mehr von Patenten geschützt sind, vor allem in Südostasien, namentlich in China und Indien hergestellt werden? Und dies obschon in der Schweiz eine der weltweit bedeutendsten Pharmaindustrien beheimatet ist? Sobald die Transportwege unterbrochen sind, werden gewisse Medikamente knapp oder sind gar nicht mehr verfügbar. Die hiesigen Pharmaunternehmen sind jedoch nicht daran interessiert, unserem Land die Lieferung der notwenigen Medikamente zu garantieren, denn diese Produkte versprechen keine beträchtlichen Gewinne. Aber von den günstigen Steuern profitieren sie gerne.
Ist es normal, dass in der Schweiz zehn Polohemden, alle in verschiedenen Farben, 93 Franken kosten, jedes Hemd also 9 Franken 30, oder ein Leibchen für fünf Franken gekauft werden kann? Angesichts derart tiefer Preise ist es unmöglich, dass die Frauen in fernen Ländern fürs Nähen solcher Kleidungsstücke einen Lohn verdienen, der fürs Leben reicht. Es ist unverständlich, dass Geschäfte oder Online-Shops Ware zu solch unrealistischen Preisen überhaupt anbieten.
Ist es normal, dass Frauen und Männer, die in der Schweiz oft während Jahren zu Kleinstlöhnen gearbeitet haben, schwarz, ohne Vertrag, ohne Aufenthaltsbewilligung, jetzt ohne Arbeit und ohne Geld anstehen müssen, um eine warme Mahlzeit zu erhalten? Es handelt sich um sogenannte Sans-Papiers, die als Haushalthilfen oder als Pflegerinnen alter Menschen wichtige Arbeiten fast rund um die Uhr ausführten. Andere, vor allem Männer sind in der Landwirtschaft oder auf dem Bau tätig; teilweise sind es auch abgewiesene Asylsuchende. Was diese sonst praktisch unsichtbaren Menschen fürchten: von der Polizei angehalten und aus der Schweiz ausgewiesen zu werden. Und das nach vielen Jahren Arbeit.
Nein, eine solche Normalität wollen wir nicht mehr!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Man kann alles beschreiben und alles richten, ohne die subjektive Kategorie ‹Normalität› zu benutzen. Denn die Wirklichkeit kennt ’normal› nicht.
Viele der von Beat Allenbach angeprangerten Abnormalitäten sind dem überdrehten Internationalismus zu verdanken «Personenfreizügigkeit» et al, und da war ja Beat Allenbach immer voll dafür!
Wir brauchen Steuergerechtigkeit und ein garantiertes Grundeinkommen und Wohnen.
Keine Steuergeschenke mehr an die Wirtschaft und Hochfinanz – die Gewinne fliessen nur an Einzelne – die die Staaten zum sparen zwingen. Keine «Rettung» der Wirtschaft mehr durch den Staat (wir) ohne Auflagen und Regulierung.
Wir wünschen eine Wirtschaft, die sozial und umweltverträglich ist und für das Gemeinwohl produziert, und wo die bisher schlecht oder gar nicht bezahlte Care-Arbeit, grösstenteils von Frauen geleistet, in der Oekonomie verankert ist.
Eine Wirtschaft, wo der Umweltschutz, der Schutz der Menschenrechte, die Armutbekämpfung, Solidarität usw. in der Agenda steht und nicht die Gewinnmaximierung für Einzelne.
Wir brauchen eine Mikrosteuer auf elektronische Finanztransaktionen zwischen Banken und anderen Finanzhäusern sowie auf Transaktionen im spekulativen Finanzhandel und schliesslich auf Hedge-Fonds anstatt einer Mehrwertsteuer.
Wir brauchen keine Konzerne und Hochfinanz (Blackrock/Vanguard/Statestreet u.a. beherrschen die Welt), die Klimaverantwortung und Menschenrechte nicht wahrnimmt und verantwortlich ist für Klimaschädigung, Grundwasserverschmutzung, Kinderarbeit, Armut, Ausbeutung, Elend und Flüchtlinge in der Welt.
Als Filmemacher war mir lange vor Corona bewusst, dass wir uns in Realität im falschen Film befinden. Man sollte viele Menschen dafür bezahlen, dass sie nichts tun, um alles das nicht zu produzieren, was uns schadet. Man sollte sie belohnen fürs Nichtstun. Das klingt vielleicht etwas provokativ. Aber zweifellos wird es soweit kommen müssen, nur wird bis dahin noch viel Unschönes geschehen, weil das Geld und die Mächtigen dies zu verhindern suchen, wenn möglich mit Gewalt. In den Dreissigerjahren ist genau das passiert. Noch ist nicht klar, ob die Geschichte sich wiederholt. Aber die Kreise, die das möchten, rüsten auf. Dass sogar ein Seehofer ernsthaft davor warnt, müsste eigentlich zu denken geben.
Lieber Herr Allenbach
bin ganz Ihrer Meinung. man könnte noch die Nahrungsmittelimporte hinzufügen. Auch wenn
die Schweiz noch nie in der Lage war, sich 100% selbst zu versorgen, so ist es nicht notwendig, Nahrungsmittel, die auch hier produziert werden können, aussersaisonal um die ganze Welt zu
transportieren, bloss weil sie in anderen Länder billiger produziert werden können. Die Arbeisbedingungen, unter denen sie dort produziert werden, sind oft haarsträubend. Die Klimaschädlichkeit muss nicht extra erwähnt werden. Dass solche billige Nahrungsmittel hier
dann zu einen Drittel verschwendet werden, beweist, dass die Selbstversorgung viel höher sein
kann, als sie heute dargestellt wird.
Nun, was ist normal? Ich definiere es so: Normalität ist das, was sie Mehrheit der Bevölkerung macht. Ob sie es aus Gedankenlosigkeit, Zeitmangel oder Geldmangel so macht, ist zweitrangig.
Tatsache ist: es ist einfacher und schneller, nach einem langen Arbeitstag und oft noch eine Zugreise, im Grossverteiler noch etwas einzukaufen, als den Bioladen oder den Fairtrade-Laden
aufzusuchen. Der Bauernmarkt ist um diese Zeit sowieso schon geschlossen. Diese unglückliche
Verkettung zwischen Arbeitsbedingungen und Verteilung ist eine der wichtigsten Ursachen für dieses Elend. Zudem sind die Grossverteiler vordergründig immer günstiger, was den Leuten
das Bewusstsein trübt über ihre zu tiefen Löhne.
Das Hamsterrad muss gestoppt werden!
Beat Allenbach meint, es sei nicht «normal», dass Sans-Papiers, illegale Arbeitskräfte und abgewiesene sog. Asylsuchende nun ohne Arbeit sind und auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Es war allerdings durchaus «normal», dass sie während «vielen Jahren Arbeit» (wie Allenbach schreibt), weder die gesetzlichen Sozialbeiträge noch Steuern entrichtet haben. Entsprechend haben Schwarzarbeit Entrichtende nun auch keinen legalen Anspruch auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitsentschädigung. Wäre es anders, müssten sich die legal tätigen und ihre Steuern zahlenden Arbeiterinnen und Arbeiter düpiert vorkommen, die jeden Monat durchschnittlich 25-30% ihres Lohnes (Sozialbeiträge und Einkommenssteuern, aber ohne Beitrag an die 2. Säule) für ihre Sicherheit im Alter und in wirtschaftlich schwierigen Situationen abliefern müssen.
@BeatAllenbach: Sie sprechen mir aus dem Herzen! Danke für diesen scharfsinnigen Artikel. Ich verzichte ebenfalls auf die alte Normalität der Abzocke und des puren Egoismus. Nur lehrt uns die Geschichte, dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernt… Ich habe über 10
Jahre in sog. Schwellenländern gelebt und habe dort die hilfsbereitendsten und fröhlichsten Menschen getroffen. Nicht so in unserem Land, wo quasi nur noch der Götze Mammon anhebetet wird. ( Keine Regel ohne Ausnahme).