Daillon

Trostloses Daillon mit seiner noch trostloseren Dorfbeiz. © srf

Was der Amoklauf mit dem Wallis zu tun hat

Kurt Marti /  Amokläufer sind überall möglich. Aber es gibt Umstände, welche solche Bluttaten begünstigen. Zum Beispiel im Kanton Wallis.

Die SRF-Korrespondentin Ruth Seeholzer bezeichnet das Dorf Daillon im Unterwallis, wo ein Amokläufer drei Menschen getötet und zwei verletzt hat, als «kleines Paradies». Doch der Weg der Fernsehkamera durchs Dorf zeigt wenig Paradiesisches: Risse in den Häuserfassaden; vor dem Eingang zur Dorfbeiz ein improvisierter Metallunterstand mit einer Plastikplane notdürftig abgedeckt (siehe Foto oben); grosse Rostflecken zieren das Wirtshausschild des «Café de la Channe d’Or» und neben der Leucht-Reklame für Walliser Bier steht ein Steinkreuz ohne den gekreuzigten Christus.

Unzimperlicher Umgang mit Mensch und Natur

Paradiesisch ist in dieser Gegend vor allem, was von Natur aus da ist: Die Berge und die Sonne. Was von Menschenhand entstand, ist weit weniger erfreulich. Das Unterwallis ist bekannt für seinen ruchlosen Umgang mit der Natur. Hier regieren die Immobilien-spekulanten und die Baulobbyisten – stets süchtig nach neuem Bauland. Und auch die Weinbauern pressen den letzten Saft aus ihren Rebbergen, um diesen hektoliterweise einzukellern, abgesichert durch Millionen-Bürgschaften des Kantons. Als sich Greenpeace-Aktivisten im Jahr 1986 an Bäume ketteten, um gegen die Waldrodung für die WM-Skipiste in Crans Montana zu demonstrieren, forderte ein Flugblatt: «Hängt die Umweltschützer auf, solange es noch Bäume hat!» Und der Unterwalliser WWF-Sekretär Pascal Ruedin wurde in seinem Haus überfallen und brutal zusammengeschlagen; angestachelt von der Propaganda des «Nouvelliste», wie der Walliser Schriftsteller Maurice Chappaz an einer Solidaritätskundgebung anprangerte.

Der unzimperliche Umgang mit der Natur färbt auch auf den Umgang der Menschen ab. Das gilt nicht nur für den Präsidenten des FC Sion. Besonders die Aussagen der Stiefmutter des Amokläufers geben das soziale Klima eindrücklich wieder. Im «Blick» stellte sie ihren Stiefsohn als arbeitsscheuen Sozial-Schmarotzer dar, der «kerngesund» gewesen sei und problemlos hätte arbeiten können. Die Schuld für sein Versagen schob sie kurzerhand dem Staat zu, der dem Versager noch Geld «nachgeschmissen» habe. Die SVP-Parolen fallen hier auf fruchtbaren Boden. Wer in dieser Gegend IV- oder Sozialgelder bezieht, braucht eine dicke Haut und eine robuste Psyche. Zur sozialen Misere kommt nämlich die gesellschaftliche Ächtung hinzu. Fast ein Wunder, dass nicht mehr zur Waffe greifen.

Man liebt den Alkohol, nicht die Alkoholiker

Der Amokläufer teilte die Werte der konservativ-bürgerlichen Gesellschaft in diesem Landstrich: Sicherheit, Armee, Waffen und Alkohol. Umso schmerzhafter war für ihn der Ausschluss aus diesem Kreis. Mit der Scheidung seiner Eltern verlor er einen weiteren Anker in dieser geschlossenen, katholisch geprägten Gesellschaft. Keine guten Voraussetzungen in einem Kanton, wo Familienbeziehungen und Vetternwirtschaft, Parteifilz und Vereinsmeierei von grosser Wichtigkeit sind. Die Flucht in den Alkohol ist zwar ein weitherum akzeptiertes Mittel zur Konfliktbewältigung, doch man liebt bloss den Alkohol, nicht die Alkoholiker. Ganz zu schweigen vom Konsum von Marihuana, der das Aussenseitertum noch zementiert. Denn nirgendwo in der Schweiz werden die Kiffer von der Polizei mit grösserem Eifer gejagt wie hier.

Nicht nur beim Alkohol- und Drogenkonsum zeigt sich eine frappante Doppelmoral. In Sonntags- und Neujahrsreden werden die sogenannten christlich-abendländischen Werte beschworen. Doch die öffentliche Moral bröckelt. Das zeigt sich nirgends deutlicher als am Beispiel dreier Walliser Polizeichefs, welche etliche Mühe mit dem Gesetz bekundet haben: Der eine sammelte türkische Kieselsteine, der zweite vergriff sich sexuell an einer Minderjährigen und der dritte veruntreute 280’000 Franken.

Der ehemalige Hauptmann war plötzlich nackt

Als der Amokläufer im Jahr 2005 in die Psychiatrie eingeliefert wurde, musste er seine Waffen abgeben. Der ehemalige Hauptmann der Schweizer Armee stand plötzlich nackt da, ohne seine letzte männliche Sicherheit. Es war naheliegend, dass er sich nach der Entlassung aus der Psychiatrie wieder Waffen beschaffen würde. Laut Aussagen von Dorfbewohnern gegenüber 20 Minuten online haben alle im Dorf gewusst, dass er weiterhin über Waffen verfügte. Als die Schiesserei begann, sei allen sofort klar gewesen, wer der Schütze sei. Vorher aber haben im Tal des Schweigens alle weggeschaut. Die offiziellen Stellen der Gemeinde und der Vormundschaft sagten zwar, sie hätten vom Waffenbesitz nichts gewusst. Falls dies zutrifft, müssen sie sich unangenehme Fragen bezüglich ihrer Pflichten stellen lassen.

Ein Familienvater hatte grosses Glück

Erstaunlicherweise sah die Polizei keinen Grund zur periodischen Kontrolle des Amokläufers. Genau wie vor ein paar Jahren in einer Oberwalliser Gemeinde, als eine Familie sich von einem Dorfbewohner mit Waffenbesitz bedroht fühlte und dies der Polizei meldete. Laut Aussagen des Vaters der Familie «hat die Polizei nichts unternommen, um die Sicherheit der Familie zu gewährleisten». Zwar lehnte die Polizei dem Dorfbewohner das Gesuch für einen Waffenerwerbsschein ab, weil er für sich oder Dritte eine Gefahr war. Aber auf eine Hausdurchsuchung verzichtete sie. Schlussendlich musste der Familienvater den Dorfbewohner selbst entwaffnen, als dieser mit einer geladenen Pistole auf ihn zielte und eine Schussbewegung ausführte. Der Familienvater hatte grosses Glück. Der Schuss ging nicht ab. Wahrscheinlich, weil der Abzug klemmte.

Polizei verzichtete auf Hausdurchsuchung

Der Waffenschein für die Pistole der Marke «SIG Saurer P225» lautete auf den Namen der Freundin des Dorfbewohners. Dieser gab zu Protokoll, dass der Waffenhändler im Bilde war, dass die Polizei sein Gesuch für einen Waffenschein abgelehnt hatte. Trotzdem erhielt er über seine Freundin die Waffe. Selbst nach dem Schussversuch auf den Familienvater verzichtete die Polizei auf eine Hausdurchsuchung. Fünf Tage später stellte sich bei der Befragung der Freundin heraus, dass der Dorfbewohner noch im Besitz einer weiteren Waffe war, nämlich eines Revolvers der Marke «Taurus 357 Magnum». Statt nun endlich eine Hausdurchsuchung durchzuführen und die Sicherheit der Familie zu gewährleisten, wurde der Dorfbewohner eingeladen, den Revolver auf dem 35 Kilometer entfernten Polizeiposten selbst vorbeizubringen. Bei der Ablieferung war der Revolver mit sechs Schuss geladen. Doch damit nicht genug! Der Waffennarr gab weiter zu, dass er zu Hause auch noch eine Vorderladerschrotflinte der Marke Moosberg habe. Zudem habe er vorher ein Sturmgewehr 57 und einen weiteren Revolver besessen, welche er weiterverkauft habe.

Soldaten im Kämpferanzug am Fronleichnamsfest

Als Waffennarr war der Amokläufer bestens in die katholisch-konservative Gesellschaft eingebettet. Denn die Waffen gehören im Wallis nicht nur zum zivilen Leben, sie sind auch bizarrer Bestandteil kirchlicher Rituale. Die Prozession zum Fronleichnamsfest wird beispielsweise in Brig-Glis von Soldaten in Militäruniform, Kämpferanzug, Helm und vorgehängtem Sturmgewehr martialisch angeführt, gefolgt vom Pfarrer unter dem Baldachin. Morgens in der Früh stehen die Männer stramm vor dem Tageskommandanten und sind bereit, dem Herrgott mit dem Sturmgewehr die männliche Ehre zu erweisen. Im Lötschental sind es die Herrgottsgrenadiere, deren Uniformen an die blutige Söldnerzeit erinnern.

Missstände im Vormundschaftwesen

Der Amokläufer von Daillon hatte seit 2005 einen Vormund. Das Walliser Vormundschaftswesen, welches jetzt reformiert wird, hat nicht den besten Ruf. Nur neun Monate ist es her, seit das Bundesgericht beispielsweise das Interkommunale Vormundschaftsamt Östlich-Raron im Oberwallis und auch das Walliser Kantonsgericht ziemlich unsanft zurückpfiff. Es ging um eine 26-jährige schwerstbehinderte Tochter geschiedener Eltern. Diese waren sich über die Vormundschaft ihrer Tochter nicht einig: Der Vater lehnte eine Vormundschaft durch die Mutter ab, weil er ihr Unregelmässigkeiten und Intransparenz bei der bisherigen Führung des Kontos der Tochter vorwarf. Seine Bedenken untermauerte der Vater – ein Gemeindekassier – mit handfesten Argumenten. Trotzdem erklärte das Vormundschaftsamt die Mutter kurzerhand zur Vormundin, ohne die Bedenken des Vaters abzuklären. Laut Aussagen des Vaters hatte sie offenbar die besseren Beziehungen. Der Vater gelangte ans Bezirksgericht Brig, welches den Fall an die Vormundschaftskammer verwies, welche die Beschwerde abwies.

Dann gelangte der Vater ans Kantonsgericht, welches seine Beschwerde ebenfalls abwies, ohne auf seine Bedenken einzugehen. Erst das Bundesgericht machte dieser fortgesetzten Ignoranz ein Ende. Die Beschwerde wurde gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts Wallis aufgehoben und die Sache zu einem neuem Entscheid an das Vormundschaftsamt des Bezirks Östlich-Raron zurückgewiesen. Laut Bundesgericht hat sich das Kantonsgericht «mit den geltend gemachten Unregelmässigkeiten nicht befasst und damit den rechtserheblichen Sachverhalt nicht richtig bzw. nicht vollständig abgeklärt». Dazu habe es aber aufgrund der Bedenken des Vaters «allen Grund» gehabt.

Mehrere ungünstige Umstände trafen aufeinander

Die Gründe für einen Amoklauf sind immer vielfältig. Wenn aber mehrere ungünstige Umstände aufeinandertreffen, besteht ein erhöhtes Risiko. Diese Umstände waren im Unterwallis erfüllt: Die brutale Kälte einer geschlossenen Gesellschaft gegenüber Aussenseitern ohne Familie und Verein, die herrschende Doppelmoral, der grosszügige Umgang mit Alkohol, die rigorose Kriminalisierung des Marihuana-Konsums, das mangelhafte Vormundschaftswesen und der saloppe Umgang mit Waffen. In diesem Sinne hat der Amoklauf etwas mit dem Wallis zu tun und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass er ausgerechnet hier passierte.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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