Von der nichtärztlichen zur psychologischen Psychotherapie
Vorstösse für ein allgemeines Obligatorium in der Krankenversicherung scheiterten im 20. Jahrhundert wiederholt. Zu stark waren die föderalistischen und finanzpolitischen Vorbehalte gegenüber einem Ausbau zentralstaatlicher Gesetze. 1974 lehnte das Stimmvolk ein Krankenversicherungsobligatorium ab, ebenso einen besseren Schutz bei Krankheit, etwa bei längeren Spitalaufenthalten oder Erwerbsausfällen. Die Zahl der krankenversicherten Personen hatte nach dem Ersten Weltkrieg zwar stets zugenommen. Im Jahr 1940 war die Hälfte, 1980 fast die ganze Bevölkerung gegen Krankheit und Unfall versichert. Aber nur die Hälfte der Erwerbstätigen war gegen einen krankheitsbedingten Erwerbsausfall geschützt. Nachdem1987 eine Teilrevision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes gescheitert war, entschied sich der Bundesrat für eine grundlegende Reform.
Die Neugestaltung schien akut. Die Kosten im Gesundheitswesen und der Krankenkassenprämien stiegen unverhältnismässig an. Allein zwischen 1985 und 1990 erhöhten sich die laufenden Gesundheitskosten pro Kopf um 42 Prozent. Die Prämien hatten sich zwischen 1965 und 1990 im Schnitt verzehnfacht und waren damit deutlich stärker als die Haushaltseinkommen gewachsen. Aber der Revisionsprozess verkomplizierte sich, weil sich verschiedene Akteure positionierten und am riesigen Marktvolumen partizipieren wollen. Zudem waren Volksinitiativen pendent. Das Krankenkassenkonkordat forderte die Erhöhung der Kassensubventionen. Die Sozialdemokratische Partei warb für einkommensabhängige Prämien. Beide Initiativen wurden 1992 und 1994 abgelehnt.
Psychotherapeuten begehren auf
Auch die nichtärztlichen Psychotherapeuten meldeten in den beginnenden Debatten nachdrücklich ihr Begehren an. Sie wollten als eigenständige Leistungserbringer ins neue KVG aufgenommen zu werden. Die Chancen standen damals gut. Verschiedene Politiker aus der vorberatenden Kommission und selbst Bundesrätin Ruth Dreifuss hatten diesbezügliche Versprechen abgegeben. Ein zentraler Satz der damaligen Innenministerin wurde im Dezember 1993 geäussert: «Wir beabsichtigen, soweit die Ausbildung des Psychotherapeuten eine ausreichende Garantie gibt, auch den Psychotherapeuten die Möglichkeit zu geben, auf Kosten der Krankenversicherung zu praktizieren und sie nicht nur den Psychotherapeuten zu gewähren, die von einem Arzt direkt delegiert sind.» In einem ersten Entwurf zum KVG waren nichtärztliche Psychotherapeuten tatsächlich als Leistungserbringer aufgeführt.
Am 18. März 1994 verabschiedete das Bundesparlament nach langwierigen Debatten und hunderten von Kommissionssitzungen das neue Bundesgesetz über die Krankenversicherung. Das Volk stimmte dem neuen KVG am 4. Dezember 1994 mit 51,8 Prozent Ja-Stimmen zu. Der Bundesrat setzte es auf den 1. Januar 1996 in Kraft. Die Präzisierung des Gesetzes und die Umsetzung regelte er in den Verordnungen. In der letzten Verordnung waren die nichtärztlichen Psychotherapeuten nicht mehr als Leistungserbringer aufgeführt. Was war geschehen? Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hatte die verschiedenen Interessenvertreter, vorab FMH, die FSP und den SPV, wiederholt eingeladen, einen gemeinsamen Vorschlag für die Verordnung zur Psychotherapie einzureichen. Die Einigung kam nicht zustande. Die historisch gewachsenen Gegensätze waren gross, die Kompromissbereitschaft klein. So schwand die Unterstützung jener Politiker, die 1993 eine Aufnahme der nichtärztlichen Psychotherapie ins KVG befürwortet hatten. Auch Ruth Dreifuss hatte ihren anfänglichen Support sistiert: «Ich denke, es ist eine gute Schweizer Tradition, dass sich ein Berufsstand auf grösstmögliche Weise selber definiert, welches die minimal notwendigen Anforderungen sind. Wir verfolgen diese Entwicklung mit grossem Interesse und sind natürlich bereit, sobald sich der Beruf selber definiert hat, ihm eine öffentliche Anerkennung zu gewähren. Aber ich betone es noch einmal, die Arbeit muss zuerst innerhalb des Berufs gemacht werden».
Keine gemeinsame Strategie
Parallel zur Revision des neuen KVG verliefen in den 1990er-Jahren auch die Arbeiten zum Medizinalberufe-Gesetz (MedBG). Darin sollten die Aus- und Weiterbildung sowie die Berufszulassung der Medizinalberufe geregelt werden – auch die nichtärztliche Psychotherapie. Eine Expertengruppe des BAG, der auch Vertreter der Psychotherapieverbände angehörten, arbeitete einen Vorschlag aus, der die Aus- und Weiterbildung der Psychotherapie regeln sollte. Auch in diesen Arbeiten sah der erste Vorschlag eine breit gefasste Grundlage für die Weiterbildung zum Psychotherapeuten vor: «Ein Staatsdiplom in Psychologie, aber auch alle universitären Hochschulabschlüsse mit dem zusätzlichen Nachweis eines definierten Fächerkataloges.»
Die Rückmeldungen aus der Vernehmlassung zum Entwurf des MedBG waren jedoch kontrovers und heftig. Vorab FSP und FMH kritisierten den Entwurf scharf. Ihnen war « … aber auch alle universitären Hochschulabschlüsse …» zu weit gefasst. Der Bundesrat entschied sich deshalb im August 1998, den Bereich der nichtärztlichen Psychotherapie aus dem künftigen Gesetz herauszulösen. Die Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung der nichtärztlichen Psychotherapie sollten im Rahmen eines eigenen Gesetzes geregelt werden – entsprechend den Gesetzgebungen in anderen Ländern, in denen separate Gesetze zur nichtärztlichen Psychotherapie entstanden waren. Eine gesetzliche Regelung der nichtärztlichen Psychotherapie auf nationaler Ebene schien nun weit entfernt.
Deshalb intensivierte der Kanton Zürich seine Arbeit wieder. Im Jahre 1995 hatte Verena Diener die Gesundheitsdirektion übernommen. Das Departement der Grünen Politikerin schickte für viele überraschend im Mai 1997 einen Verordnungsentwurf zur Regelung der Psychotherapie in die Vernehmlassung. Dieser sah vor, dass ein allgemeiner Hochschulabschluss als Grundlage für die Zulassung von Psychotherapeuten dienen sollte, kombiniert mit einer postgradualen Weiterbildung in Psychotherapie. Es wäre die liberalste kantonale Lösung in der ganzen Schweiz gewesen. Erwartungsgemäss bekämpften wiederum FSP und FMH den Entwurf. Die Regierung sah sich gezwungen, ein Gesetz zu entwerfen. Die Arbeit an den Entwürfen wurde in den folgenden Jahren durch heftige Debatten und intensives Lobbying verschiedener Interessenvertreter begleitet.
Die Bundesbeamten verlieren die Geduld
Im April 2000 entschied die Mehrheit der zuständigen Parlamentskommission, dem Kantonsrat folgenden Wortlaut zu beantragen: (…) «ein abgeschlossenes Psychologiestudium einschliesslich Psychopathologie an einer schweizerischen Hochschule». Zu jener Zeit bildeten die bürgerlichen Parteien die Mehrheit in der Kommission, die SP und die Grünen die Minderheit. Am 21. August 2000 folgte der Kantonsrat mit 102 zu 62 Stimmen der Kommissionsmehrheit. Als Ausbildungsgrundlage für künftige Psychotherapeuten war nur noch ein Hochschulabschluss in Psychologie mit Psychopathologie zugelassen. Der Präsident der kantonsrätlichen Kommission äusserte in seinem Schlusswort zur Debatte leicht genervt und ironisch: «Ich danke beiden Verbänden für die zahlreichen, manchmal auch übermässigen Unterlagen und Telefonate.» Ausser bei der Auseinandersetzung zwischen Ärzten und Apothekern um den Medikamentenverkauf sei im Kantonsparlament noch nie so hart lobbyiert worden.
Um die Jahrtausendwende war fast die Hälfte der Schweizer Psychotherapeuten im Kanton Zürich tätig. Auch die wichtigsten Ausbildungsinstitute befanden sich im Kanton. Das Zürcher Gesundheitsgesetz von 2000 musste deshalb Auswirkungen auf die Erarbeitung des Bundesgesetzes über die Aus-, Weiter- und Fortbildung der psychologischen Berufe (PsyG) haben.
Verhandlungspartner in den nationalen Arbeitsgruppen und Kommissionen waren der SPV, die FSP und Organisationen aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie. Einmal mehr wurde von den Beamten aus Bundesbern ein Konsens unter den Verbänden der Psychotherapie gefordert. Und einmal mehr konnten sich die Fach-Verbände nicht einigen. Die Beamten in Bundesbern beendeten irgendwann den Streit: Sie entschieden sich für einen Gesetzesentwurf, der die Psychotherapie als Spezialisierung der klinischen Psychologie definierte.
Im Juni 2005 schickte das Bundesamt für Gesundheit den definitiven Vorentwurf zum PsyG in die Vernehmlassung. Aufgrund der Ergebnisse aus der Vernehmlassung wurden die Arbeiten am PsyG fortgeführt und in Grundzügen im Februar 2009 an einem Hearing den interessierten Kreisen vorgelegt. Es sei ein «Hybrid-Gebilde», das aus einem Psychologiebezeichnungsgesetz und einem Psychotherapiegesetz bestehe, sagte der damalige BAG-Vizedirektor Stefan Spycher. Der Bundesrat verabschiedete am 30. September 2009 den Entwurf und übermittelte ihn dem Parlament. Dieses folgte weitgehend der Vorlage des Bundesrates und fügte lediglich einen weiteren Psychologieberuf hinzu: Gesundheitspsychologe. Zuvor hatte der damalige SPV-Präsident Theodor Itten in einem NZZ-Leserbrief nochmals seinen «Finger auf einen wichtigen Schwachpunkt» des im Parlament diskutierten PsyG gelegt: «Psychotherapie ist nicht ein Psychologie-Beruf. Sie ist ein eigenständiger, unabhängiger wissenschaftlicher Beruf.»
Doch in Bundesbern waren die Meinungen gemacht. Sowohl im National- als auch im Ständerat blieben letzte Minderheitsanträge chancenlos. Der Nationalrat übernahm die Vorlage des Ständerates. In der Schlussabstimmung vom 18. März 2011 genehmigten beide Räte das neue PsyG. Das Stimmenverhältnis war derart klar, dass das Referendum nicht ergriffen wurde. Im Sommer 2012 wurde den interessierten Kreisen die Verordnung (PsyV) vorgelegt, und am 1. April 2013 traten Gesetz und Verordnung in Kraft. Auch im eidgenössischen Gesetz wird nun ein Psychologiestudium für nichtärztliche Psychotherapeuten gefordert. Eine andere Studienrichtung wird nicht mehr anerkannt. Die Bezeichnung lautet nun psychologischer Psychotherapeut, die Fachtitel «eidgenössisch anerkannte/r Psychotherapeut/in». Damit wurden jahrzehntelange Auseinandersetzungen um Inhalte und Ausgestaltung der Psychotherapie mit einem Gesetz beendet.
***********************************
Serie zur Entwicklung der Psychotherapie
In mehreren Folgen beleuchtet Infosperber die Geschichte der Psychotherapie. Alle Beiträge finden Sie im
************************************
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann ist Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) zu deren 40jährigem Jubiläum eine historische Schrift zur Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz verfasst: Walter Aeschimann. Psychotherapie in der Schweiz. Vom Ringen um die Anerkennung eines Berufsstandes. Jubiläumsschrift 40 Jahre ASP. Zürich 2019.
Beamte oder Parlamentarier sind natürlich kompetent, über medizintheoretische, medizinethische Fragen zu befinden, welche einen 2’500 – jährigen Diskussionskontext auf dem Rücken haben. Man merkt es an solchen Offenbarungssätzen:
Psychotherapie ist nicht ein Psychologie-Beruf. Sie ist ein eigenständiger, unabhängiger wissenschaftlicher Beruf.
Medizin, die Kunst des Ärztlichen Heilens ist eine Kunst und keine Wissenschaft. Wenn wir in bestimmten Fällen das Heilen auch an andere Berufe delegieren, dann ist auch dies eine kulturelle und keine wissenschaftliche Tätigkeit. Heilen auf Wissenschaft zu degradieren ist ein Angriff auf die Berufsehre aller Heilberufe.
Ansonsten ist die Situation medizinethisch klar. Krankheiten dürfen wegen den innewohnenden generalisierten Tendenzen nur Ärzte therapieren. Alles andere, in dem Fall psychische Störungen ohne Krankheitscharakter, auch nichtärztliche Therapeuten.
Es ist noch in Diskussion befindlich, ob es überhaupt psychische Krankheiten gibt, aber wenn, dann nicht mehr als 1-3. Alle anderen der 552 Diagnosen im DSM stehen auch psychologischen Therapeuten offen.
Aber darüber können nicht Beamte oder selbst ernannte Gesundheitspolitiker befinden. Das ist eine inhaltliche, keine politische Frage.
Möglicherweise wären zuerst die vielfältigen psychischen Ursachen für den steigenden Bedarf an nötigen Psychotherapien zu klären ?
Die psychischen Ursachen der ebenso steigenden Zahl an Suchtproblemen verbunden mit dem steigenden Konsum von härteren Drogen, als Alkohol.
Ein -gutes menschliches Leben-, ist mehr als materieller und bloss konsumptiver Wohlstand, gemessen am BIP.