Kommentar
Virenfreie Frischluft
Der Lockdown gleitet bereits in die siebte Woche, die Decke fällt und fällt, noch ist der Kopf in Sicherheit. Als offiziell deklarierte Risikoperson hält man sich zuhause ruhig. Estrich und Keller sind aufgeräumt, Bücher und Fotos neu sortiert, Patience und Klavierspiel kein Kontrastprogramm. Auch Skype bietet definitiv keinen Ersatz für Geselligkeit. Wer, wie der Autor, weder über Balkon noch Garten verfügt, muss unweigerlich einmal täglich raus an die frische Luft, um kräftig durchzuatmen. Der körperlichen und geistigen Gesundheit zuliebe.
Das Aufschnaufen in freier Natur wirkt befreiend, vor allem im Wald, wo der Sperber seine Beute sucht. Weitab vom Coronavirus, das die Welt derzeit in ihren Grundfesten erschüttert. Selbst die privilegierte und vermögende Schweiz ist verdattert, die sozialen Unterschiede legen dabei einen Zacken zu, die Chancengleichheit bei Bildung (Homeschooling) und Arbeit (Stellenabbau) schwindet, zwar weit weniger dramatisch als im globalen Süden.
Der höhere Sauerstoffgehalt in der frischen Luft wirkt belebend und presst Fragen aus dem Hirn. Die teilweise widersprüchlichen Themen betreffen unser Selbstbild und Selbstverständnis. Zum Teil geht es um die Wissenschaft, die anscheinend eine stürmische Hochzeit feiert. Täglich erreichen uns aus der Forschung neue «Erkenntnisse» über Corona & Co. Für Wissenschaftsjournalisten eigentlich ein reicher Fundus, um die chaotische Meldeflut besser einzuordnen. Doch die traditionellen Medien fahren einen rigiden Sparkurs und streichen pikanterweise sogar Wissensressorts (wie bei TA/SoZ, siehe persoenlich.com, 26.03.2020).
Corona-Auguren: nicht sehr selbstlos
Die Wissenschaftler sind sich uneinig, wie die Verbreitung des Corona-Virus sich genau verfolgen lässt. (Karikatur: Beat Gerber)
Die Medienschaffenden aus den Polit- und Wirtschaftsressorts, meist ohne naturwissenschaftlichen Hintergrund, geben den Virengurus eine völlig kritiklose Plattform, stellen den akademischen Corona-Erklärern (vornehmlich männlichen Geschlechts) wie Marcel Salathé (EPFL), Adriano Aguzzi (Uni ZH), Christian Althaus (Uni BE) und Martin Bachmann (Inselspital) meist rhetorische oder gar keine Fragen. Zudem bleiben die professionellen Beweggründe der Forschenden im Dunkeln.
Bekanntlich verfolgt jede Professorin, jeder Wissenschaftler ihre respektive seine besonderen Interessen, sei es zugunsten der persönlichen Karriere oder für die dahinterstehende Hochschule oder Institution. Mit solchen Profilierungen verbunden sind meist beträchtliche Forschungsgelder, beispielsweise zum Erstellen einer Tracking-App oder zur Entwicklung eines Impfstoffs. Auch sind lukrative Patente von Privatfirmen im Spiel, wie beim Inselspital-Impfstoffforscher Bachmann (SRF 10vor10, 20.04.). Diesbezüglich wäre unbedingt mehr Transparenz notwendig, um die Verlautbarungen der geschickt dozierenden Gelehrten verlässlicher einschätzen zu können.
Doch der Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz ist am Verschwinden, viele Überlebende haben das sinkende Schiff verlassen und arbeiten jetzt für Hochschulen und Forschungsinstitutionen oder als Mittelschullehrer. Es gibt noch kleine Online-Inseln mit unabhängigem Wissenschaftsangebot wie higgs.ch oder in der Romandie heidi.news, doch die Entwicklung ist fatal. Damit geht ein wesentlicher Teil unserer Zivilisation verloren, nämlich die Vermittlung der Wissenschaft als Kulturgut. Forschung und Innovation sind primär die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, betrieben mit 99 Prozent Transpiration (Anstrengung) und belohnt mit einem Prozent Inspiration (Erfolg). Der Weg ist gepflastert mit zahllosen möglichen Irrtümern, die als aktueller Stand des Wissens gelten. In der Medizin beispielsweise verdoppelt sich das Wissen heute alle zweieinhalb Monate, die Spezialisierung ist enorm (SRF Trend, 18.04.).
Wissenschaft ist ein dauerndes Ringen um die neusten Erkenntnisse und mit vielen Unwägbarkeiten verbunden, gerade in der Medizin in dieser aktuell hochdynamischen Phase. Die Bevölkerung hingegen will Gewissheit, besonders in der Corona-Krise. Degradiert man aber die Forschung zur vorwiegend nutzbaren Serviceleistung, wie das mit dem neu gebündelten Ressort «Leben» bei Tamedia geschehen soll, wird das Kulturgut «Wissenschaft» weitgehend entwertet. Verloren geht dabei auch das vernetzte, fachübergreifende Denken. So verfolgt die Wissenschaft die These, dass die Virusepidemie mit dem vernachlässigten Umwelt- und Artenschutz (Biodiversität) zusammenhängen könnte.
Innovationen: Mythos Erfinderland Schweiz
Die Schweiz muss hunderte Millionen Masken auf dem Weltmarkt einkaufen. (Karikatur: Beat Gerber)
Die Schweiz gilt seit Jahren als unumstrittene Weltmeisterin im Bereich Innovation (NZZ, 24.07.2019). Den Spitzenplatz bestätigen alljährlich gleich mehrere internationale Ranglisten. An der frischen Luft kommen jedoch Zweifel an der innovativsten Volkswirtschaft hienieden auf. Die Lockerung des Lockdowns wird nicht ohne Maskenpflicht für bestimmte Aktivitäten (Einkauf, Haarschnitt etc.) erfolgen, das schleckt selbst die gefrässigste Geiss nicht weg. Doch für die kommende Massenanwendung fehlt es bitterlich an diesen Schutzprodukten.
Wer hat versagt? Regierung, Parlament, Behörden? Es ist müssig, die Schuldigen für die gescheiterte Planung zu suchen. Was aber in die Nase sticht, selbst mit Maske, ist die hiesige sich anti-innovativ gebärdende Industrie. In Frankreich und Deutschland haben mehrere Firmen innert weniger Wochen ihre Produktionsanlagen zur Herstellung von Schutzmasken und sogar Beatmungsgeräten (Autoindustrie) umgerüstet, in unserer sogenannt erfinderischen Musternation geschah sehr lange nichts.
Nun haben einige wenige Unternehmen wie Flawa (Flawil SG), Wernli (Rothrist AG) und Lanz-Anliker (Rohrbach BE) die Maskenproduktion aufgenommen oder zumindest in Aussicht gestellt (SoZ, 19.04.). Der einheimische Ausstoss reicht allerdings bei weitem nicht aus, um den boomenden Bedarf zu decken. Den fehlenden Riesenrest muss die Schweiz auf dem Weltmarkt zu erhöhten Preisen einkaufen, vor allem in China.
Warum liefert der Innovationsweltmeister in der Krise ein derart blamables Bild? Bisher war das kein Medienthema, andere Sorgen plagten. Doch man staunt gleichwohl, sind doch die Maschinen keineswegs kompliziert zu bauen, der Herstellungsprozess für einfache Masken nicht so anspruchsvoll und die benötigten Rohstoffe wie Baumwolle, Zellulosefasern oder Polyester bestimmt greifbarer als seltene Erden. Wo harzt es? Ist der erwartete Profit zu tief? Herrscht Rohstoffknappheit? Gibt es hohe bürokratische Hürden bei der Zulassung neuer Maschinen? Zu wenig staatliche Gelder? Man weiss es schlichtweg nicht, für junge journalistische Talente öffnet sich ein weites Recherchefeld. Die Hintergründe zum latent lädierten Image des Erfinderlandes Schweiz ergäben sicher eine spannende Geschichte.
Nach dem Virus die Psyche und Gewalt
Fachleute erwarten einen starken Anstieg von psychischen Krankheiten und Gewaltbereitschaft. (Karikatur: Beat Gerber)
Der Spaziergang im Stadtquartier veranschaulicht die vorherrschende bauliche Verdichtung, ein bisher unumstössliches Credo der nachhaltigen Siedlungsentwicklung. Angesichts der Corona-Pandemie wird die Forderung nach weiterer Konzentration der Wohnquartiere ohne Gegenmassnahmen jedoch problematisch. Regionen mit niedrigerer Siedlungsdichte weisen deutlich weniger Virusinfizierte auf als Städte.
Der bekannte US-amerikanische Soziologe Richard Sennett appelliert an die Städtebauer, künftig die ökologischen und ökonomischen Vorteile von Verdichtungsgebieten zu erhalten, gleichzeitig aber gesunde Städte zu planen, die weniger anfällig sind für Pandemien (TA, 03.04.). Aber wie denn konkret, bitte?
Etwas bildhaftere Vorschläge liefern die Schweizer Stararchitekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron. «Wir sollten die Städte neu denken!», heisst ihre plakative Maxime. Bedeutende urbane Veränderungen seien häufig aus hygienischen Gründen geschehen, etwa im Mittelalter. Auch die heutigen Städte liessen sich attraktiver und gleichzeitig umweltverträglicher gestalten. Durch neue Parks, auch an ungewohnten Orten wie auf Dächern, ungenutzten Strassen und Gleistrassen. Ebenso seien künstliche Seen (zum Beispiel entlang von Flüssen) ein Gebot der nahen Zukunft. Wir sollten die Landschaft in die Stadt bringen und nicht umgekehrt (TA, 17.04.). Tönt einleuchtend, aber die Debatte über grosse architektonische Würfe in einem derart räumlich begrenzten Land wird schwierig. Paul Nizon mit seinem «Diskurs in der Enge» (1970) lässt grüssen, auf dem helvetischen «Holzboden» tummeln sich nur wenige Freigeister.
Näher an der Aktualität sind die psychischen Probleme, die aufgrund hochverdichteter Wohnsiedlungen mit der Corona-Krise verknüpft sind. Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, geschlossene Schulen und Kitas, ganztägiger Homeoffice-Betrieb können bei Alleinstehenden zu Isolation und Depression führen, bei Familien zu Stress, Überforderung und Aggression.
Noch ist in der Schweiz die Zahl der Gewalttaten in Haushalten nicht wesentlich gestiegen, zumindest gemäss Statistik, doch die Sorgentelefone vermelden einen massiven Zuwachs von Anrufen wegen Konflikten innerhalb der Familie (Zentralplus, 29.03.). Auch die Nachfrage nach psychologischer Beratung klettert in die Höhe. Das Psychiatriezentrum Münsingen bietet Kurztherapien auch per Mail, Telefon und Videochat an (SRF Regionaljournal, 22.04.). Der Kanton Glarus erwartet einen Anstieg von häuslicher Gewalt und meldet auf seiner Webseite, die Opferberatung der Sozialen Dienste sei vorbereitet. Es brodelt in der Verdichtung.
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PS. Wer die Autoritätsgläubigkeit und den Bierernst in den Medien hierzulande satthat, kann sich wochentäglich bei Nicolas Canteloup auf TF1 erholen («C’est Canteloup!», 20:55). Der französische Satiriker nimmt sämtliche Respektpersonen der Grande Nation von links bis rechts respektlos, geistreich und charmant auf die Schippe. Frankreich ist übrigens von der Corona-Krise deutlich stärker gebeutelt als die Schweiz.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich. Er publiziert heute auf seiner Webseite «dot on the i».
Ja, das musste mal gesagt werden. Bravo, Beat Gerber! Die Ausführungen sind aber auch Symptome. Nicht für eine Autoritätshörigkeit, sondern für eine Bequemlichkeit, die einerseits alle Entscheidungen VolksvertreterInnen im Parlament und Regierung überlassen, andererseits nicht wählen gehen, mit der Begründung „die da oben machen ja sowieso was sie wollen.“ Diese Schizophrenie wird nur noch durch die bizarre Vorstellung übertroffen, dass 253 Menschen besser als 6 Millionen denken können. Als Korrektiv empfehle ich, der Stiftung WeCollect für eine digitale und föderale direkte Demokratie beizutreten. Siehe http://www.wecollect.ch
Ein grosses Kompliment für diesen Artikel!
Ich empfehle auch sehr, sich bei https://swprs.org weitere Infos zu holen.
Man solle doch einmal bedenken, dass die Politiker, die quasi unisono diesen momentanen Blödsinn anordnen, nicht nur keine Ahnung haben, sich selbst schlecht informieren, sondern alle überdurchschnittlich komfortabel wohnen mit Gärten, die Auslauf und «vierenfreie Luft» zur Verfügung stellen, die monatlichen Bezüge laufen munter weiter, entlassen müssen sie niemanden und ihre Medienpräsenz ist grösser denn je.
Besten Dank für den Hinweis auf Canteloup. Wir glaubten schon, dass Covid-19 Canteloup in die Zwangsferien geschickt hätte. Wir haben natürlich den «Canteloup confiné» wieder neu programmiert und auch die Episoden der letzten Woche heruntregeladen.
Tout de bon. Grüsse von der etwas verunsicherten Seite des Corona-Grabens.