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Das Kind erlebt in der Kita schreckliche Dinge und erzählt nicht davon - eine Vorstellung, die grosse Ängste weckt. Und viele Leute dazu verleitete, unüberlegt zu klicken. © Depositphotos

Verleumdung gegen Kita: «Ich kenne den Fall persönlich»

Daniela Gschweng /  In England führten Online-Lügen zu Gewalt. Auch anderswo können Posts und Videos eskalieren – wie zuletzt im deutschen Freiburg.

Am Anfang stand eine Message im Internet – am Ende gewaltvolle Demonstrationen im ganzen Land. Die englischen Behörden hatten tagelang zu tun, die Proteste einzudämmen, die als Folge eines Anschlags auf einen Kindergarten ausbrachen. Der Täter sei ein Asylsuchender gewesen, behaupteten anonyme Quellen. Die Folgen beschäftigten das ganze Land.

Auch anderswo können Posts und Videos eskalieren – beispielsweise im deutschen Freiburg. In einem Fall, von dem die «Badische Zeitung» berichtete, eskalierte ein Video einer angeblichen «Kinderschützerin».

In ihrem Video, das auf Instagram und Tiktok kursiert, berichtet sie anscheinend über einen Fall von schwerem Kindesmissbrauch. In einer deutschen Kindertagesstätte würden demnach mehrere Kinder zum sexuellen Missbrauch weitergegeben, organisiert von der Kita-Leitung. Behörden würden alles vertuschen, die Eltern zum Schweigen gezwungen. Wo sich die Ereignisse zugetragen haben, sagt die Nutzerin nicht, nur das Bundesland nennt sie: Baden-Württemberg.

Am Ende eine Morddrohung

In Privatnachrichten deutet jemand an, das Video stamme von einer Einrichtung im badischen Freiburg. Keine 24 Stunden später kursiert ein Foto der Einrichtungsleitung im Netz. Das Video ist bis dahin über eine halbe Million Mal angesehen worden. Der Mitarbeiter einer anderen Kita in Freiburg wird auf der Strasse bespuckt. Es gibt eine Morddrohung. Die Stadtverwaltung ist fassungslos, schaltet die Staatsanwaltschaft ein und stellt einen Sicherheitsdienst.

An den Vorwürfen sei nichts dran, bestätigt die Polizei. Es ist bereits der zweite Fall, in dem einer Freiburger Kita Kindesmissbrauch vorgeworfen wird. Im ersten Fall ganz in der Nähe stellten zwei Elternteile Strafanzeige, die umfangreichen Ermittlungen ergaben keinerlei Anhaltspunkt für die Vorwürfe.

Die Aufmerksamkeitswährung in Geld verwandeln

Das folgenschwere Video bringt der Urheberin nicht nur Reichweite, sondern auch Geld. Das jedenfalls vermutet der Freiburger Medienanwalt Clemens Pustejovsky. Er kenne dieses Muster aus ähnlichen Fällen, sagt er gegenüber der «Badischen Zeitung». In den Kanälen der Frau findet sich viel Werbung. Unter anderem für Produkte und Kurse, die sie online verkauft.

Angst erzeugen und dann von der Empörung profitieren, bestenfalls, indem man eine käufliche Lösung anbietet. Das ist keine unkonventionelle Werbestrategie, auch kein freundliches Veräppeln und auch kein unaufmerksames Klicken. Fake News können lebensgefährlich sein.

«Ich kenne den Fall persönlich»

Aber wie kann es überhaupt sein, dass ein so diffuser Vorwurf zur viralen Bedrohung wird? Dass alle Kontrollen versagen und der gesunde Menschenverstand schweigt? Das Video, das weiterhin online ist, ist eines der erfolgreichsten der Urheberin, deren Identität und Wohnort sich nicht festmachen lassen.

«Ich kenne den Fall persönlich», steht auf dem Video-Banner. «Beschützt eure Kinder!» warnt sie. Diese völlig unspezifische Information reichte aus, um die Kaskade anzustossen.

Sie habe das Video geteilt, weil die betreffende Kita ganz bei ihr in der Nähe sei, sagt eine von der «Badischen Zeitung» befragte Nutzerin. Kindesmissbrauch, dazu womöglich noch ganz um die Ecke, das ist empörend. Es macht wütend. Es drängt einen, etwas zu tun. Irgendwas. Jetzt.

Was dann meist heisst: Liken, Teilen, Kommentieren.

«Rage Bait», Wutköder, heisst dieser Mechanismus. Und er funktioniert erschreckend gut. Das mussten in der Vergangenheit schon viele erfahren, unter anderem die US-Politikerin Hillary Clinton oder kürzlich die Boxerin Imane Khelif. Sie sei eine trans Person und habe Spass daran, Frauen zu schlagen, hiess es in diversen Internet-Postings. Beide Frauen bekamen Morddrohungen.

Die Urheberin des Kita-Videos hat Erfahrung mit solchen Posts, das werde bei einem Blick auf ihre Social-Media-Accounts, ihren Telegram-Kanal und ihre Website deutlich, schreibt die «Badische Zeitung». Mittlerweile hat es die Angelegenheit in die überregionalen Medien geschafft.

Die Influencerin bezeichnet sich in ihren Kanälen als Fachperson für Missbrauch. Sie warnte auch schon vor Impfungen, Chemtrails und «Frühsexualisierung», womit die Aufklärung von Kindern gemeint ist. Sie teilte Videos, in denen sie davor warnte, Eliten tränken das Blut von Kindern als Verjüngungselixir – ein Klassiker unter den Verschwörungserzählungen.

Katharina Nocun, Fachfrau für Verschwörungsideologien und Autorin mehrerer Bücher zum Thema, überrascht das nicht. Menschen, die solche und ähnliche Posts verbreiteten, sähen sich oft als Helden, die kämpfen, während andere schwiegen, sagt sie auf Nachfrage der Zeitung. Damit legitimierten sie Gewalt. Die häufig geäusserte Behauptung, ein Sachverhalt werde unterdrückt oder vertuscht, untergrabe das Vertrauen in die demokratischen Institutionen.

Fake-News vermeiden

Fake-News zu vermeiden ist fast unmöglich. Selbst wer selten ins Internet geht (und diesen Artikel dann vermutlich nicht liest), begegnet Gerüchten, Mobbing und Lügengeschichten. Im Internet hat die «stille Post» aber zehntausende klickende Postboten, das macht sie so gefährlich. Wer sich nicht zum Übermittler falscher Nachrichten machen lassen will, muss lernen, Nichts zu tun. Wortwörtlich.

Es klingt banal: Wenn ein Post auf Social Media Sie sehr betroffen macht oder emotional stark anspricht, tun Sie: Nichts. Warten Sie, bis sich die Aufregung gelegt hat und bewerten Sie den Inhalt erneut. So wird das Rage-Bait-Muster unterbrochen.

Das Gehirn hat wieder Zeit, sich Fragen zu stellen wie: Woher stammt diese Information? Wer ist die Person, die sie postet? Was tut diese Person im Internet sonst? Ist es möglich, dass genau diese Person Zugang zu exklusiven Informationen hat? Wenn jemand darüber hinaus noch Inhalte klassischer Verschwörungserzählungen verbreitet, viel Werbung in seinen Kanälen hat und auf Anfragen nicht antwortet, sollten schon alle Alarmglocken klingeln.

André Wolf vom österreichischen Verein Mimikama, der sich mit Falschnachrichten in den sozialen Medien beschäftigt, gab auf einem Vortrag noch einen weiteren guten Hinweis: «Suchen Sie sich eine andere Quelle, in der derselbe Sachverhalt möglichst ausgeruht dargestellt ist». Das ist, zugegeben, bei einem Missbrauchsfall in der Kita nebenan schwer möglich. Genau diese Eigenschaft einer vermeintlich exklusiven und brisanten Information nutzen die Urheber aber.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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2 Meinungen

  • am 23.08.2024 um 15:41 Uhr
    Permalink

    In diesem Fall habe ich das ungute Gefühl, dass die Badische Zeitung nicht ganz unschuldig ist an diesem Schlamassel. Sensationshascherei über alles um die Auflage zu erhöhen?

    • alex_nov_2014_1_3_SW(1)
      am 23.08.2024 um 18:25 Uhr
      Permalink

      Guten Tag Herr Heuberger, das ist schwer möglich. Das Instagram-Video mit den Anschuldigungen wurde spätestens am Mittwoch veröffentlicht, am Donnerstag gabs dann Details und die beschriebene Morddrohung. Die Stellungnahme der Stadt Freiburg stammt vom Freitag, 9. August. Am Freitagabend wurde der Artikel der Badischen Zeitung online geschaltet, einige Stunden später auch ein Kommentar. Beste Grüsse.

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