Und immer wieder Erdoğan …
Red. Walter Aeschimann ist Historiker und lebt als freier Publizist in Zürich. Während fünf Wochen fuhr er mit dem Velo von Alexandroupoli in Griechenland nach Iğdir quer durch die Türkei. Rund 2200 Kilometer über Pass-, Haupt- und Nebenstrassen, durch abgelegene Dörfer und kleine Städte. Auf Infosperber berichtete Walter Aeschimann in unregelmässigen Abständen von seiner Reise. Seit Anfang Oktober ist der Autor wieder zurück in der Schweiz und blickt zurück auf die zahlreichen Begegnungen und Eindrücke.
Die Türkei ist ein komplexes Land und daher so faszinierend. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Aber nach fünf Wochen intensiver Reise durch Anatolien kann sie mit grösserer Gewissheit und tieferem Hintergrund als zuvor geäussert werden. Ich werde mich nun aber hüten, die Türkei oder gar die türkische Seele zu erklären. Auch kann ich mit wenig Gewissheit sagen, in welche Richtung sich die politische Stimmung bewegen wird. Die zahlreichen Begegnungen waren offen und auch herzlich, aber zu flüchtig und zu kurz, um tieferes Vertrauen aufzubauen, um sich intensiver über das Leben und die politische Situation auszutauschen. Ein paar Eindrücke lassen sich trotzdem zusammenfassen.
Punktuelle Einblicke in die politische Stimmungslage
Viele Menschen glauben, dass Recep Tayyip Erdoğan, Präsident der Republik Türkei, die nächsten Wahlen politisch nicht überleben werde. Das würde nicht ohne Blutvergiessen gehen, aber Erdoğan sei danach weg. Ebenso zahlreich waren jene, die meinten, die Berichterstattung im Westen sei übertrieben und zu negativ. Andere wirkten politikverdrossen und winkten beim Thema ab. Murat, der junge Jus-Student, witzelte über Erdoğan. Ihm erscheine er wie ein KGB-Agent aus der Sowjetunion. Der Spott über die politische Realität kann durchaus exemplarisch für eine junge, urbane Generation angesehen werden. In Kappadokien erklärte mir ein gebildeter Muslim, von dem ich es nicht erwartet hätte, Erdoğan sei sicherlich nicht perfekt. Aber er habe auch viel Gutes für das Volk getan. Solche Argumente, in der Türkei sicher weit verbreitet, erzeugen bei mir stets eine tiefe Beklemmung, weil sie für viele Diktatoren dieser Welt Verständnis schaffen wollen.
Weithin sichtbar: Der 60 Meter hohe Burgfelsen von Uchisar bei Göreme
Kurz vor dem Abheben: Eine Fahrt mit dem Heissluftballon zählt zu den touristischen Highlights in Kappadokien
In Doğubeyazit, an der Grenze zum Iran, sagte mir ein Mann, es sei eine «schlechte Stadt», es gebe so viele Kurden hier. Zwei Kurden in derselben Stadt lehnten sowohl Erdoğan als auch Masud Barzani, den Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, ab. Etliche bedauerten, etwa der Biologieprofessor an einer Universität im Osten der Türkei, dass in westeuropäischen Staaten das Bild der Türkei so negativ belastet sei. Mit Frauen ins Gespräch zu kommen war sehr schwierig. Die Ansichten mögen nicht repräsentativ stehen für das «Volk», können aber durchaus punktuelle Einblicke in die politische und gesellschaftliche Stimmung geben.
Bewegte türkische Geschichte
Ohne historisches Bewusstsein, ohne Kenntnisse der Geschichte des Osmanischen Reiches, ohne spezifisches Wissen über die fast schockartigen Veränderungen in den 1920er Jahren, als Mustafa Kemal Atatürk die Republik gründete und eine «Modernisierung» nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten einleitete, wird man das Land von heute eh kaum verstehen. Vielleicht wird man es nie begreifen, wenn selbst ein so kluger Intellektueller, wie der bekannte türkische Schriftsteller Aziz Nesin 1993 in Sivas hilflos und wütend zeterte, das türkische Volk sei «zu dumm und zu feige» für die Demokratie. Diese Provokation führte letztlich zum pogromartigen Massaker von Sivas und forderte 37 Tote. Den bürgerlichen Intellektuellen, von denen er mehr verlangte als vom «Volk», warf er zugleich mangelnde Zivilcourage im Kampf für eine demokratische Gesellschaft vor. Nesin starb im Jahr 1995 und würde das in der gegenwärtigen politischen Situation, in der viele regimekritische Menschen inhaftiert worden sind, kaum mehr so formulieren können.
Teilhaben am türkischen Alltag
Der politische Kampf um Demokratie und Menschenrechte ist aber nur eine Seite der türkischen Realität. Es gibt für den Reisenden aus der Schweiz auch türkische Alltäglichkeiten. Mit Minenarbeitern morgens um halb sechs schweigend beim Frühstück sitzen. Mit Besiktas-Fans in Erzurum in einem Teehaus ein Fussballspiel am TV schauen. Mit einem Bauern, der auf dem Esel seine Kühe zusammentreibt, mimisch reden. Dem Gebet am Opferfest in einer Moschee teilhaben und am Vorabend sich in einer Metzgerei das Ritual des Tieropfers beim Opferfest erklären lassen. In die Farben und Düfte der zahlreichen Basare eintauchen. Spontan beschenkt und eingeladen werden. Sich differenziert und ausgiebig durch die türkische Küche essen. In ehemaligen Karawansereien, nun zu Teehäusern und Einkaufszentren umgenutzt, teetrinkend das alltägliche Leben beobachten. Oder am TV-Apparat erstaunt die bis zur Unkenntlichkeit verpixelten Bilder betrachten. Es darf kein Blut, kein Alkohol trinkender, Liebe machender oder Zigarette rauchender Mensch gezeigt werden. Auf den Strassen und in den Teehäusern sieht man aber fast nur intensiv rauchende Männer.
Beliebter Treffpunkt: Die Karawanserei in Sivas ist heute ein Basar mit Teehaus
Geschärfter Blick für Fremdes und Vertrautes
Vor Ort überwog meist die Freude darüber, dass jemand aus dem Westen trotz aktueller politischer Situation mit dem Fahrrad das Land bereist. Zumal aus der Schweiz. Denn die Schweiz wird aus türkischer Sicht von den meisten Menschen als sehr reiches und sicheres Land betrachtet. Das beste Beispiel für diese Zustände lieferte ich selber. Ich konnte es mir leisten, wochenlang allein mit dem Velo durch die Türkei zu radeln, um danach getrost ins reiche Land zurückzukehren. Darauf wurde ich auch sanft hingewiesen, wenn ich versuchte, das Paradies Schweiz mit aktuellen Beispielen etwas zu relativieren.
Die «Zurechtweisungen» verfeinern nicht nur das Gespür für die andere Kultur. Sie schärfen auch den Blick auf zu Hause. Man wird sich über die oft selbstgerechten und überheblichen Kommentare aus den Stammredaktionen westlicher Medien noch mehr wundern und sie noch genauer lesen. Dies wiederum mit einem Zitat von Nesin im Hintergrund. Die Türkei sei nicht perfekt und vieles laufe falsch, sagte er 1993. Aber es sei wenigstens offensichtlich. Das berechtige den Westen aber nicht, mit Arroganz und Herablassung auf die Türkei zu schauen. Denn im Westen laufe auch vieles schief. Nur sei es weniger offensichtlich, weil Unterdrückung und Ausgrenzung bis zur Unkenntlichkeit verfeinert worden sei. Die Türkei zu kritisieren sei für westliche Journalisten halt einfacher als die Zustände im eigenen Land. Dieses Zitat gilt heute immer noch.
Im Reich der Schafe: Steppenlandschaft in Anatolien, im fernen Dunst der Berg Ararat
Türkische Empfindlichkeiten
Vieles in der türkischen Politik, vorab die zunehmende Islamisierung der Gesellschaft, scheint auch eine Reaktion auf westliche Herablassung und Ignoranz zu sein. So könnten auch Aussagen von jenen gedeutet werden, die zwischen den Kulturen pendeln, etwa türkische Pensionäre, die ein Arbeitsleben im Westen zugebracht haben. Im Westen würden sie sich fast «türkischer» verhalten, als in der Türkei, nur um in der fremden Umgebung die eigene Identität zu behaupten. In Deutschland etwa, sagte mir ein Pensionär, habe er öfters in der Moschee gebetet als in der Türkei.
Wie stark türkische Empfindlichkeiten selbst im Detail sein können, erfuhr ich schon in der ersten Unterkunft kurz nach der Grenze zu Griechenland. Ich schloss das Fahrrad auf dem videoüberwachten Auto-Parkplatz ab. Darauf reagierte der Concierge fast zornig. Hier sei es absolut sicher. Ich müsse das Fahrrad nicht abschliessen. Ich erklärte ihm, dass ich mein Fahrrad draussen immer sichern würde, auch in der Schweiz. Er nahm es dennoch sehr persönlich.
Diffuse Angst vor dem unbekannten Orient
Zurück in der Schweiz und neulich bei einer Veranstaltung. Unter den Gästen der Vertreter eines Spezial-Interest-Blattes der Reisebranche. Wegen der politischen Lage sei es derzeit ein «absolutes no-go» die Türkei als Reiseland zu propagieren, sagte er dezidiert, um mir indirekt sein Missfallen über meine Türkei-Texte mitzuteilen. Daraufhin klinkte sich erregt ein weiterer Gast ins Gespräch, der sich als Türke und zugleich Bürger eines westlichen Landes zu erkennen gab. Erdoğan sei «zweifellos ein Arschloch», sagte er, aber bei Weitem nicht so gefährlich, wie westliche Medien ihn hochstilisieren würden. Ihm würden die Entwicklungen in Polen, Ungarn, Tschechien oder gar in Österreich genauso viel Sorgen machen. Darüber werde aber nicht in derart düsteren Farben berichtet wie über die Türkei. Er könne sich das auch so erklären, dass nach wie vor eine diffuse Angst des Westens dem unbekannten Orient gegenüber bestehen würde.
Vielleicht verhilft ein Leben zwischen und mit zwei Kulturen zu einer differenzierteren Ansicht über rechtspopulistische und islamistische Bewegungen, wie sie in Westeuropa und dem Orient derzeit entstehen. Aische schliesslich, die türkische Gewährsfrau aus dem Café in Zürich, freute sich, dass mir die Reise gefallen hat.
Herzlich und unbeschwert: Jugendliche posieren auf dem Basar in Aksehir
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann unternimmt seit vielen Jahren Veloreisen in ferne Länder und hat zahlreiche (Multimedia-) Berichte in der NZZ und Velomagazinen veröffentlicht. Er arbeitete als Redaktor für das Nachrichtenmagazin «Facts», die «Sonntags-Zeitung», den «Tages-Anzeiger» und das Schweizer Fernsehen.
Vielen herzlichen Dank für diesen eindrucksvollen Schilderungen über Ihre Reise. Genau solche Informationen brauchen wir, damit die vorwiegend negative Berichterstattung einen Ausgleich erhält. Mir scheint, wir Menschen brauchen stets ein Feindbild – und wenn dieses wegfällt, wird sofort ein neues gesucht. Es liegt an uns, stets an unseren Vorurteilen zu arbeiten. Nur so können wir den Respekt jeder anderen Person gegenüber wahren.
Uebrigens fällt mir bei im Ausland lebenden Schweizern jeweils ebenfalls auf, dass diese jegliche Tradition eher mehr zelebrieren als sie es in ihrem Heimatland taten.
Ja, vielen Dank für diesen Bericht!
Ich kann mich der Aussage von Frau Leuenberger nur anschliessen.