Sperma getöteter israelischer Soldaten einfrieren
Seit dem Beginn des israelischen Angriffes auf die Hamas im Gazastreifen vor über einem Jahr bietet Israels Armee den Angehörigen getöteter Soldaten die Möglichkeit, deren Sperma posthum entnehmen, einfrieren und für eine spätere Verwendung aufbewahren zu lassen. Bis heute haben diesen Dienst über 200 Personen in Anspruch genommen, nicht zuletzt auch, um über den unermesslichen Schmerz ob des Verlustes einer nahestehenden Person hinwegzukommen.
«Kann sich die Familie vorstellen…?»
In einem Beitrag vom 20. November berichtet die Journalistin Emma Goldberg in der «New York Times» von einem Phänomen, das bis vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem bis heute andauernden Krieg Israels gegen die Terrororganisation im Gazastreifen kaum Beachtung fand.
Militäroffiziere überbringen den Angehörigen die Nachricht vom Tod ihres geliebten Sohnes, Freundes, Ehemannes oder Bruders und stellen dann die eher unerwartete Frage: Kann sich die Familie vorstellen, das Sperma des Verstorbenen einfrieren und konservieren zu lassen?
Was zunächst fast pietätslos erscheint, stellt sich für viele von der Trauer überwältigte Familienangehörige als Trost heraus. Die Vorstellung, dass die im Krieg umgekommene geliebte Person in Nachkommen weiterleben könnte, scheint für manche der sprichwörtliche Strohhalm zu sein, an dem sie sich festhalten können. Neben den über 45’000 Palästinenserinnen und Palästinensern und den 1200 israelischen Zivilpersonen sind in diesem fürchterlichen Krieg auch über 400 Armeeangehörige, meistens junge Soldaten, umgekommen.
In mindestens 200 Fällen sollen die Angehörigen der Armee die Erlaubnis erteilt haben, das Sperma ihres Sohnes oder Partners posthum entnehmen, einfrieren und für eine zukünftige Befruchtung konservieren zu lassen. Dabei muss eine Entscheidung sehr schnell erfolgen, ist doch das Sperma eines toten Mannes nur zwischen 24 und 48 Stunden überlebensfähig. Deshalb hat die israelische Armeeführung das entsprechende Protokoll für die Überbringung der Todesbotschaft inzwischen standardisiert.
In Frankreich, Italien, Deutschland oder Schweden verboten
Die Technik zur Entnahme von Sperma eines bereits verstorbenen Mannes scheint inzwischen problemlos zu sein und geht auf das Jahr 1980 zurück. Damals soll ein Arzt in Kalifornien das Sperma eines jungen Mannes, der aufgrund eines Verkehrsunfalles als hirntot erklärt worden war, entnommen und eingefroren haben. Während dies in vielen Ländern wie Frankreich, Italien, Deutschland oder Schweden illegal ist, weil das Einverständnis des Toten nicht vorliegt, fehlen in den USA entsprechende Gesetze, sodass die Spitäler und das medizinische Personal nach eigenem Gutdünken verfahren können.
In Belgien, Spanien und Grossbritannien darf Sperma für künstliche Befruchtungen posthum entnommen werden, wenn der Verstorbene zu Lebenszeiten zustimmte. Auch in der Schweiz ist es laut Zivilgesetzbuch möglich, das Sperma eines Verstorbenen zu entnehmen, wenn dieser zu Lebzeiten seine Zustimmung gegeben hat.
Die Entnahme des Spermas bei einer gerade verstorbenen Person erfolgt durch eine Biopsie am Hoden. Das entnommene Sperma wird in Flüssigstickstoff eingefroren und für eine mögliche spätere Empfängnis auf unbestimmte Zeit konserviert. In Israel wurde das Verfahren zum ersten Mal 2002 angewandt. Die Eltern eines 20-jährigen Soldaten, der von einem Scharfschützen getötet worden war, ersuchten den Obersten Gerichtshof um Erlaubnis, dessen Sperma einfrieren zu lassen. Fünf Jahre später urteilte ein Zivilgericht, dass sie das konservierte Sperma zur Zeugung eines Enkelkindes mit einer Leihmutter verwenden dürften.
Juristische Grauzonen
Bis vor einem Jahr mussten die Angehörigen ein Gericht anrufen, um eine Spermaentnahme bei einem verstorbenen Familienangehörigen – es gibt auch Fälle von Zivilisten – möglich zu machen. Wegen des kurzen Zeitfensters für eine Entnahme und angesichts des «unermesslichen Schmerzes» ob des Verlusts der geliebten Person hat das israelische Gesundheitsministerium diese Anordnung inzwischen fallengelassen.
Damit ist für die posthume Entnahme und Konservierung von Sperma verstorbener Angehöriger kein Gerichtsentscheid mehr nötig, wohl aber für die Verwendung, also die Zeugung neuen Lebens. In 81 Prozent der Fälle, die seit dem Beginn des Israel-Hamas-Krieges dokumentiert sind, haben die Eltern des verstorbenen Soldaten die Entnahme und Konservierung des Spermas veranlasst. Dies wohl deshalb, weil die meisten sehr jung waren und noch nicht in einer festen Beziehung standen.
Um tiefgeforenes Sperma von Verstorbenen zu verwenden, müssen die Angehörigen ein Zivilgericht anrufen und dabei in irgendeiner Art und Weise beweisen können, dass die verstorbene Person ein Kind gewollt habe. Solche Beweise in Form von Tagebucheinträgen, Posts auf Social Media oder sogar schriftlichen Verfügungen liegen allerdings in den meisten Fällen kaum vor. Für Eltern von Verstorbenen liegt die Latte noch höher als für Lebenspartnerinnen.
Ethisch problematisch
In den meisten Fällen ist es gemäss einer Studie alles andere als klar, ob die jungen Männer ihr Einverständnis für eine Spermaentnahme zu Lebzeiten gegeben hätten. Kürzlich wurden insgesamt 600 jüdische Männer zwischen 18 und 50 Jahren vom Ashkelon Academic College zu diesem Thema befragt. 47 Prozent der Befragten, deren Eltern noch leben, wollten nicht, dass diese ihr Sperma posthum entnehmen und einfrieren liessen, 38 Prozent stimmten dem Vorhaben zu. Sogar bei Männern in festen Beziehungen lehnten 37 Prozent es ab, dass ihre Lebenspartnerin, beziehungsweise ihr Lebenspartner das Sperma entnehmen und konservieren liesse.
Deshalb sind viele Bioethikerinnen und Bioethiker der Ansicht, dass das erwähnte Protokoll des israelischen Militärs die Autonomie der betroffenen Soldaten verletze, vor allem dann, wenn diese zu Lebzeiten niemals ein entsprechendes Einverständnis gegeben haben. Zudem wird befürchtet, dass auf diese Weise eine Generation vaterloser Kinder heranwachse, ganz abgesehen von der Problematik, die eine eventuelle Leihmutterschaft mit sich bringt.
Trost für die Hinterbliebenen
Auf der anderen Seite sagen viele Betroffene und ihre Anwälte unumwunden, dass in einem solchen Fall die Stimme der Angehörigen vor den unbekannten Wünschen der Verstorbenen Vorrang hätte. «Lasst uns die Stimme der Lebenden hören», sagt Tamar Katz, Dozentin für Recht und Bioethik am Israel Institute of Technology und juristische Expertin für posthume Spermaentnahme.
In Interviews äussern viele Hinterbliebene, der Wunsch von Eltern und Partnerinnen soll Vorrang vor ethischen oder juristischen Bedenken haben. Die meisten sehen die Möglichkeit der posthumen Spermaentnahme als Trost in einer schwierigen Zeit, auch wenn nur die wenigsten tatsächlich den ganzen Prozess bis zur Empfängnis mit einer eventuellen Leihmutterschaft durchmachen.
Für die Zehntausenden von Hinterbliebenen von jungen palästinensischen Männern in Gaza ist ein Vorgehen wie im Fall israelischer Soldaten unvorstellbar.
In der Ukraine geht man sogar einen Schritt weiter
Auch in der Ukraine, wo die Reproduktionsmedizin sowieso schon sehr liberal gehandhabt wird, wird den Soldaten die Möglichkeit eröffnet, im Todesfall aufgrund von Kriegshandlungen ihr Sperma konservieren und eventuell für eine Schwangerschaft verwenden zu lassen. Dabei frieren viele Soldaten ihr Sperma bereits vor ihrem Gang an die Front ein und hinterlegen eine entsprechende Verfügung. Dieses Jahr hat das ukrainische Parlament die posthume Verwendung von Sperma durch die Partnerin oder den Partner legalisiert.
In Israel ist man noch nicht so weit. Eine entsprechende Befruchtung muss noch immer vor Gericht erstritten werden. Namhafte Anwälte meinen, dass ein entsprechendes Gesetz kaum erlassen werde, bevor der Krieg beendet wird. Der Schmerz ob des Verlustes eines geliebten Menschen sei zu gross. Die Entnahme und Konservierung von Sperma gefallener Soldaten bleibt aber als Ausnahmeregelung legal.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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