Sperberauge
Sie brüsten sich als «Freisinnige»
«Der trübe Geist wandelt wie ein trügliches Irrlicht herum, der alle verführt, die ihm glauben und folgen.
Eine geraume Zeit lebten wir ruhig, friedlich und fröhlich im lieben Vaterlande daher. Aber nun Unruhe, Klagen, Unfriede, Geschrei, Drohungen, feindselige Taten, ungesetzliche Umtriebe aller Art.
Das Volk sammelt sich hier und da, und berät gegen seine Obrigkeit, spottet ihrer Befehle, wird immer lauter, immer ungestümer in seinen Forderungen.
Ich frage: Woher das alles so auf einmal?
Oh! Sicher nicht aus deiner Mitte, mein Volk! Nein! Diesmal warst du es nicht, du Volk in deinen glücklichen Dörfern, auf deinen schönen Höfen. Nicht du hast diesen Lärm angefangen. Das taten die Gebildeten oder die sich einbilden, Gebildete zu sein. Lange genug haben sie dich bearbeitet, mein Volk. Besonders durch Zeitungen.
Wer am ungebührlichsten auftrat, war ein Mann nach dem Herzen derer, die sich mit der Namen der Liberalen oder Freisinnigen brüsten, und doch so wenig freisinnig sind, so ganz Sklaven ihrer eigenen Meinung…»
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Dieser Text ist ein Auszug aus dem Aufruf «Mein Volk!» vom konservativen Berner Volksdichter Gottlieb Jakob Kuhn aus dem Jahr 1831 (nur mit der heutigen Rechtschreibung versehen).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Das Jahr 1831 gehört zu den besten in der Geschichte des Liberalismus. In den Kantonen Aargau, Bern, Luzern usw. gab es erstmals demokratische Verfassungen, Vizepräsident des Verfassungsrates Aargau war der eingewanderte deutsche geniale Autor Heinrich Zschokke. In Sachen Bildungspolitik lief fast nie mehr als damals, so im Kanton LU. Helvetische Gesellschaft u.a. machten sich an einen Verfassungsentwurf, vom Philosophen Troxler 1832 veröffentlicht, schon mit Zweikammersystem, ferner der Forderung nach einem eidg. Verfassungsrat, mit Volksmitbestimmung zu neuer Verfassung. Ähnliches und Vergleichbares gibt es in der EU bis heute nicht. In Münsingen BE fand gewaltige Volksversammlung statt. Es begann der Aufstieg des Politikers Ochsenbein, dessen Verdienste erst durch Rolf Holenstein ins richtige Licht gerückt wurden; nicht mit Blocher vergleichbar, der sich auf ihn beruft.
Das Gesamtniveau der damaligen Freisinnigen, die sich in Liberale, Radikale, Gemässigte usw. aufsplitteten, war in keiner Weise, auch z.B. was die Belesenheit und den philosophischen Horizont und die Eigeninitiative und den Mut betrifft, mit dem heutigen Freisinn, leider auch nicht mit P. Müller, vergleichbar. Damals wurden in einem nie gekannten Ausmass Zeitungen gegründet, etwa in LU von Jakob Robert Steiger, u. durch Wanners Ururgrossvater die AG-Zeitung. Steiger war bereit, für liberale Überzeugungen Todesurteil zu riskieren. Text von Kuhn steht für einen, der sich an Freiheit nicht gewöhnen wollte.
Historische Texte und Zitate werden gerne verwendet. Meistens sagen sie mehr über die Person aus, die sie verwendet, als über diejenige, die sie ursprünglich verfasst haben. Eine historische Einordnung und eine Begründung, was mit dem Zitat erreicht oder gezeigt werden soll, wäre in diesem Fall hilfreich gewesen. Ein Dank an Pirmin Meier für seine Ergänzungen.
Der Text wirft meines Erachtens die interessante Frage auf, ob in einer Demokratie die Politiker «aus der Mitte des Volkes», d.h. dem Durchschnitt, stammen sollen, oder ob sie nicht doch eher aus der Elite kommen sollten. Hier dürfte auch einer der Unterschiede zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert zu finden sein.
Danke, T. Meier, für die Ergänzung betr. Zitieren. Die meisten Liberalen des 19.Jahrhunderts waren keine abgehobene Elite, kamen durchaus «aus der Mitte des Volkes». Jakob Robert Steiger war Sohn von armem Schneider in Büron LU, hatte ursprünglich keine Chance auf Gymnasialbildung, war mit 14 Jahren Schreibergehilfe in einem Hinterländer Dorf. Sein Lehrer I. Troxler, früh Halbweise, war Sohn eines Beromünsterer Kleinhändlers, jedoch mit 18 Jahren schon Sekretär der Helvetischen Republik. Der Schüler v. Hegel u. Schelling galt in Beromünster tatsächlich als etwas abgehoben. 1831 wurde er als Rektor der Universität Basel entlassen wegen Sympathien zu den Basellandschäftern. Ochsenbein war in seiner juristischen Ausbildung autodidakt. Die Herkunft der liberalen Pioniere war, vgl. G. Keller, unteres Kleinbürgertum, weshalb Jacob Burckhardt, der von der 1848-er Bewegung nichts hielt, als Vertreter des Basler «Daig» die ganze Sache sehr von oben herab sah, geradezu mit Verachtung des «Pöbels». Gotthelf war der Meinung, die Liberalen seien Wirtshaushocker und würden den Wert der Familie vernachlässigen.
Vom Milieu her passt der Gipser Philipp Müller, der sich 2012 für das Steiger-Jubiläum in Beromünster mit engagieren liess, durchaus zu einem guten Teil der früheren Liberalen. Er interessierte sich aber im Gegensatz zu den Pionieren kaum für politische Philosophie u. Geschichte, orientiert sich eher nach «Blick» als nach NZZ, was strategisch hier nicht beanstandet werden muss.
ich habe ein ganz grosses Misstrauen gegenüber den meist selbst ernannten «Eliten». Nach meinen Beobachtungen neigen vor allem Intellektuelle dazu sich als Elite zu verstehen und zu handeln. Roland Baader hat darüber das Buch geschrieben «totgedacht, warum Intellektuell unsere Welt zerstören».
Ich kannte Baader; seine Meinung über Intellektuelle bleibt einseitig, weil es ohne sie schlicht nicht geht, weder im Guten noch im Schlechten; denken Sie an die Französische Revolution usw. Wahr ist, dass «der Intellektuelle», wie eine Anekdote um Platon zeigt, oft Probleme mit dem praktischen Leben hat, politisch mit der Handhabung der Macht. Am wenigsten intellektuell in der Geschichte des Freisinns in den letzten 200 Jahren ist Philipp Müller, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Pelli, der mir seine Aufsätze über Liberalismus schickte. PM macht es praktisch nicht schlecht, er kann aber eher die Freisinnige Partei vorwärts bringen als den Freisinn, der ein Auslaufmodell zu sein scheint. Der einzige jüngere liberale Intellektuelle der Schweiz ist René Scheu, Herausgeber des Schweizer Monat und designierter Feuilletonchef der NZZ. Für die praktische Politik, gar für den Bundesrat, scheint er nicht disponiert zu sein; auch Roger Köppel muss seine Brauchbarkeit als Intellektueller in der Politik erst noch beweisen; bis zum Erweis des Gegenteils hat er zB. Politikfähigkeit v. Ueli Maurer noch nicht erreicht.
Man sollte den Schaden, den Intellektuelle anrichten, nicht überschätzen. Noch interessantes Beispiel des Spannungsfeldes zwischen Politik und Intellektualität war das Fernsehspräch zwischen dem mutmasslich intelligentesten Bundesrat seiner Zeit und Autor Max Frisch. Aus Sicht der Zuschauer hat Frisch Debatte gegen Furgler verloren, es mangelte ihm an politischer Begabung.