Serielle Monogamie – warum nicht gleich polygam?*
(*Red. Das nachfolgende Essay hat der Autor im August 2001 geschrieben. Elf Jahre später, so findet die Redaktion, ist das Thema gleichermassen aktuell. Darum stellt sie diesen Text zur Diskussion.)
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Hugo ist mit Renate gepaart und pflegt nebenbei eine Freundschaft mit Erika. Mit Erika, bespreche er Dinge, über die er mit seiner eigenen Frau nicht reden könne, zum Beispiel über Probleme in seiner Ehe, auch über Sex. Aber ins Bett würde er mit Erika nie gehen, betont Hugo im Gespräch mit seinem Freund. Denn er wolle seine Frau Renate «auf keinen Fall betrügen».
So ist es: Wenn einer innerhalb seiner festen Beziehung über die intimsten Dinge, die beide angehen, nicht reden kann und es heimlich auswärts tut, dann ist das kein Betrug. Wenn hingegen eine Person «fremd geht», also lustvoll eine oder mehrere Nächte mit einer unbekannten oder neu erkannten Person verbringt, dann gilt das als Untreue. Oder gar als Betrug, selbst wenn die fremd gehende Person seiner festen Partnerin oder ihrem ständigen Partner freimütig erzählt, sie habe die Sexualität mit einem oder einer andern genossen.
Diskrete Realität
Polygamie oder Polyamorie, also die Pflege von mehreren sexuellen Beziehungen nebeneinander, ist verpönt, aber Realität: 54 Prozent der verheirateten Männer und 43 Prozent der verheirateten Frauen «gehen fremd», fand der Sexualforscher Kinsey schon in den 50er-Jahren heraus. Heute dürften die Anteile noch grösser sein, denn das Bedürfnis nach Sexualität ausserhalb der Partnerschaft ist gross. Das belegen unter anderem die vielen Kontakt-Inserate mit dem Kürzel «n.g.f.» (nicht ganz frei) oder der Erfolg von Kontaktbörsen im Internet. Nur reden soll man nicht darüber. Deshalb ist «Diskretion Ehrensache».
Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass die diskrete neue Beziehung besser ist als die eingestandene bestehende, oder wenn das Verheimlichte bekannt wird, kommt es zur Aussprache. Und sehr oft endet die Aussprache in der Trennung. Denn erst die Trennung von der bestehenden wäscht die «fremde» Beziehung rein oder schafft auch ohne vorangegangenes «Fremdgehen» Platz für eine neue salonfähige Ein-Bett-Partnerschaft. Mittlerweile gibt es dafür auch einen Namen – «Serielle Monogamie» – und das Buch dazu: Unter dem Titel «Die Liebe kommt, die Liebe geht» beschreibt die Journalistin Regine Schneider, «warum lebenslange Zweisamkeit uns nicht glücklich macht».
Blosse Anpassung
Serielle Monogamie bedeutet, monogam zu leben, aber den Partner oder die Partnerin je nach Lebensabschnitt alle 10, 15 oder 2O Jahre zu wechseln. Was hier als Befreiung aus der lebenslänglichen Partnerschaft propagiert wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Anpassung an die äusseren Verhältnisse. Das verrät Regine Schneider schon mit ihrer Sprache. Sie legitimiert die Monogamie in Serie als «zwangsläufige Folge des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels» oder erkennt darin ein Mittel, um die «Pflicht zur Selbstverwirklichung» zu erfüllen.
Der Anspruch auf Eigentum am Partner oder an der Partnerin hingegen, den die Monogamie fatalerweise stellt, wird nicht angetastet. Die serielle Monogamie schlägt dieses Eigentum bloss schneller um, wie das in der modernen Wirtschaft auch geschieht.
Das alte Elend
In Tat und Wahrheit verleiht die serielle Monogamie einer bestehenden Praxis lediglich eine neue Etikette. Denn längst gibt es viele Leute, die Zweit- Dritt- oder Viert-Ehen mit oder ohne Trauschein eingehen, wobei dies nicht «zwangsläufig» geschehen muss, sondern durchaus dem freien Willen entspringen kann.
Doch die «typische Verbindung der Zukunft» (Schneider) schreibt ein altes Elend fort. Zwischendrin liegt immer eine Trennung, die oft beiden, mindestens aber einem der Gepaarten sehr weh tut. Denn es ist ja nicht so, dass beide Monogamisten gleichzeitig das Bedürfnis zum Wechseln haben. Und es ist noch unwahrscheinlicher, dass beide einszweidrei den Partner oder die Partnerin finden, die zur angeblich «neuen Lebenssituation» passt. Man frage einmal die früheren Ehefrauen von Bundeskanzler Gerhard Schröder oder die Ex-Ehemänner von Liz Taylor, ob sie die Lebensabschnitt-Monogamie ebenso toll finden.
Monogamie überfordert
Umgekehrt vermag die Monogamie ein zentrales Problem auch dann nicht zu lösen, wenn sie seriell wird: Die grosse Eruption, die prickelnde Erregung einer neuen Verliebtheit währt weder 15 noch 20 Jahre, sondern oft nur einige Monate oder wenige Jahre. Nachher geht es darum, das von selbst Prickelnde zu ersetzen mit Prickeln aus eigener Kraft. Es gilt, neue Spielarten von Begegnung, Erotik und Sex zu kreieren und eine Gesprächskultur zu entwickeln, die sich aus der Gegenwart nährt (denn der Vorrat an Geschichten, die zwei neu Verliebte sich aus ihrem früheren Leben erzählen können, ist bald einmal erschöpft). Doch selbst wenn das gelingt, stösst eine Beziehung, die in Zweisamkeit verharren muss, an ihre Grenzen.
Die Lösung bietet hier weder die serielle noch die einmalige Monogamie. Denn Monogamie überfordert die meisten Menschen. Kaum jemand ist fähig, alle alltäglichen, persönlichen, geselligen und erotischen Bedürfnisse eines andern allein abzudecken. Diese Anforderung steht auch im Kontrast zu unserem übrigen gesellschaftlichen Zusammenleben. Denn als Teil der Gesellschaft haben wir Freunde und Kolleginnen. Mit den einen führen wir Fachgespräche, mit andern spielen wir Tennis, mit wieder andern musizieren wir oder besteigen den Piz Palü.
Aber das weite Feld der Erotik sollen wir immer mit der gleichen Person durchstreifen, jedenfalls mit nur einer pro Lebensabschnitt. Die Mehrheit duldet es nicht, wenn die Partnerin oder der Partner es hier – wie beim Tischtennis – einmal mit einem andern versucht, obwohl die Mehrheit dies in Wirklichkeit tut. Diese Situation ist ebenso absurd wie Schneiders Buch, das sich über 200 Seiten der seriellen Monogamie widmet, aber das Wort Polygamie nicht ein einziges Mal erwähnt. Die gesellschaftliche Ächtung der Polygamie als Spielart innerhalb von partnerschaftlichen Beziehungen widerspricht den Erfahrungen, die wir im übrigen Leben machen.
Polygamie befreit
Hugo, heute 20 Jahre älter, ist später doch mit Erika ins Bett gestiegen, und auch Renate hatte ihre Affären. Trotzdem sind Hugo und Renate immer noch miteinander verheiratet. Denn mittlerweile haben die beiden gelernt, über die Probleme in ihrer Ehe zu reden, auch über Sex. Ihr Anspruch auf Monogamie ist gescheitert, ihre Beziehung nicht.
»Serielle» Monogamie ist Liebe auf Zeit, Liebe mit Verfalldatum. Polygamie erlaubt Liebe, Sex, Erotik zur Zeit, in der sie sich ergibt. Wer Polygamie annimmt und auslebt, kann der Liebe und Partnerschaft das Verfalldatum nehmen – und damit auch den Schmerz einer unnötigen Trennung vermeiden.
Und die Eifersucht? Ach, die Eifersucht! Gegen Eifersucht wachsen keine Kräuter, aber kluge Einsichten. Eifersucht ist «Angst vor dem Vergleich», schrieb Max Frisch 1949 in sein Tagebuch und fuhr fort: «In der Eifersucht vergessen wir zuweilen, dass Liebe nicht zu fordern ist, dass auch unsere eigene Liebe, oder was wir so nennen, aufhört, ernsthaft zu sein, sobald wir daraus einen Anspruch ableiten.»
Eine Gesellschaft, die Polygamie akzeptiert, befreit die Liebe vom Anspruch auf Eigennutz und Eigentum. Im Unterschied zur seriellen Monogamie widersetzt sich die Polygamie damit den Zwängen einer Wirtschaftordnung, die auf privatem Eigentum basiert und Eigentumsförderung betreibt. Deshalb muss die Polygamie unter dem Deckel respektive unter der Decke bleiben. Denn Diskretion, hier wie dort, ist Ehrensache.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Trotz oder eher wegen meiner eigenen «seriell monogamen» Biografie drängt es mich, meinem alten Kollegen HPG zu widersprechen.
Da 4000 Zeichen nicht ganz reichen hierfür, hab ich meine Replik hier gepostet:
http://www.facebook.com/notes/billo-heinzpeter-studer-algader/über-monogamie-nicht-gegen-die-sondern-aus-der-erfahrung/10151192067863489
Danke HPG und Billo für die Einsichten – mit HPG bin ich einverstanden, wo es um den Mangel an Ehrlichkeit in der Gesellschaft geht (welch ein Anspruch, bravo!), mit Billo besonders dort, wo er die Zweierbeziehung charakterisiert und die Aussichtslosigkeit des permanenten Wählens zeigt.
Was erwarten wir von der Liebe? Sexualität; gemeinsames Leben und Entscheiden; erkannt zu werden, in unserem innersten Kern. Die Lust der Sexualität gehört oft dem Moment, spontan, lange erträumt oder kennerhaft bekannt kann ich sie mit unterschiedlichsten Menschen geniessen, je nach persönlicher Freiheit auch ausleben. Der Entschluss, einen grossen Teil des Lebens gemeinsam zu verbringen, wird mit zunehmendem Alter vielleicht drängender. Was will ich erleben, und mit wem? In welcher Tiefe und Intimität? Welche Kompromisse will ich dafür eingehen (evtl. auch gesellschaftliche)? Das gegenseitige Erkennen braucht Zeit und Raum und Freiheit. Es gehört zum Befriedigsten, das wir erleben können, es macht freie Menschen zum Paar, nicht im herkömmlichen Sinn, sondern dadurch, dass es nur gegenseitig geschehen kann.
HPG schreibt richtigerweise, dass unsere Wirtschaftsordnung uns dazu drängt, mindestens organisatorisch eine Bindung mit nur einem Partner einzugehen – so wie Hugo und Renate. Man kann sich wünschen, dass die Gesellschaft Polygamie akzeptiert, als offene Form von Sexualität, Eheleben oder Erkennen (oder einer Kombination davon). Dies gelingt aber nur, wenn wir uns den immer stärkeren gesellschaftlichen Drang nach Konformität widersetzen; Konformität, welche die serielle Monogamie gleichwohl wie die sexuellen Polygamie prägt- wie auch die meisten anderen Bereiche, die menschliche Solidarität, Empathie, Freiheit und Selbsterkenntnis verlangen würden.