Psychotherapieverbaende_uebergeben_Protestbriefe

16. November 1918: Psychotherapieverbände übergeben in Bern Protestbriefe © ASP

Psychotherapie entstigmatisieren

Walter Aeschimann /  Die Psychotherapie ist vielen Verdächtigungen ausgesetzt. Dabei ist sie ein normaler Berufszweig im Gesundheitswesen.

Das Psychologieberufegesetz (PsyG), das im April 2013 in Kraft getreten ist, hat neue Voraussetzungen geschaffen. Nur wer ein Psychologiestudium abgeschlossen hat, darf eine mehrjährige Ausbildung zum Psychotherapeuten beginnen. Und nur wer in einem vom Bund akkreditierten Weiterbildungsinstitut einen Abschluss vorweisen kann, darf den eidgenössischen Weiterbildungstitel führen. Das bedeutet letztlich auch: die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Fachverband ist weitgehend obsolet geworden. Die Selbstdefinition der Verbände und Institute – Was ist Psychotherapie? Wer darf psychotherapieren? – gilt nicht mehr.

So ist nicht erstaunlich, dass sich einst zerstrittene Fachverbände seit einigen Jahren strategisch zusammentun. Sie kämpfen gemeinsam für ihre Interessen. Aktuell wird diskutiert, das Delegations- durch das Anordnungsmodell zu ersetzen. Im heutigen Delegationsmodell werden Leistungen der psychologischen Psychotherapeuten von der obligatorischen Krankenkassen-Versicherung nur beglichen, wenn sie unter Aufsicht und in den Räumlichkeiten eines Arztes vorgenommen werden. Das System bevorzugt die Ärzte und macht Psychotherapeuten zu deren Angestellten mit einem minimalen Lohn. Im Anordnungsmodell sollen psychologische Psychotherapeuten nicht mehr unter Aufsicht eines Arztes arbeiten müssen. Der Arzt ordnet lediglich die Behandlung an. Danach arbeiten die Psychotherapeuten selbständig und rechnen auch über die Krankenkasse ab. Ein ähnliches Modell kennen die Physiotherapeuten.

Der Bundesrat hat eine entsprechende Vorlage am 26. Juni 2019 verabschiedet und in die Vernehmlassung geschickt. Um eine «ungerechtfertigte Mengenausweitung zu vermeiden und die Koordination zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu fördern» schlägt der Bundesrat pro ärztliche Anordnung maximal 15 Sitzungen vor. Die Anzahl kann auf 30 Sitzungen verlängert werden. Danach muss mit dem Versicherer Rücksprache genommen werden.

Gemeinsame Strategie

Auf diesen Systemwechsel warten die Psychotherapeuten seit Jahrzenten. Versprochen wurde er immer wieder, passiert ist nichts. In den 1990er-Jahren scheiterte er unter anderem, weil sich die Fachverbände nicht auf ein gemeinsames Berufsbild einigen konnten. Sie verscherzten sich damit den Goodwill, den sie damals in Bundesbern bei wichtigen Akteuren genossen hatten. Seit der Jahrtausendwende dominieren vorab ökonomische und politische Argumente: Eine Änderung der Verordnung sei in der gegenwärtigen politischen Situation nicht opportun. Der Kostendruck auf die Grundversicherung sei zu hoch. 2011 versprach Innenminister Didier Burkhalter, auf der Grundlage des kommenden PsyG eine Diskussion über das Anordnungsmodell zu lancieren. Arbeiten wurden aufgenommen. Im März 2018 verkündete Bundesrat Alain Berset, die Arbeit am Anordnungsmodell werde vorübergehend eingestellt.

Diese erneute Verzögerung löste bei den Fachverbänden Unverständnis aus. Es veranlasste die Assoziation Schweizer Psychotherapeuten (ASP), die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) und den Schweizerischen Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) gemeinsam aktiv zu werden. Im November 2018 wurden dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) 3658 Protestbriefe übergeben. Die Verbände doppelten nach und lancierten eine Petition. Sie sammelten innerhalb von drei Monaten 94′422 Unterschriften.

Psychische Störungen zählen zu den häufigsten und am meisten einschränkenden Krankheiten. Dies stellt das Bundesamt für Gesundheit auf ihrer Homepage fest. Erhebungen und Schätzungen würden belegen, dass im Laufe eines Jahres jeder dritte Schweizer eine psychische Krankheit erleide. In den meisten Fällen sollte sie behandelt werden. Am häufigsten seien Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen.

Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen und deren Dringlichkeit zur Behandlung sind anerkannt. Doch das Verhältnis von psychischer Krankheit, Psychiatrie, Psychotherapie und Öffentlichkeit ist nach wie vor «ambivalent» und «paradox». Die Psychiatrie und Psychotherapie wird von der Gesellschaft beauftragt, sich um geistig oder seelisch kranke Menschen zu kümmern. Die Öffentlichkeit erteilt ihr quasi einen Auftrag zur Therapie. Auf der anderen Seite sieht sich die Psychiatrie und Psychotherapie immer wieder mit öffentlichem Argwohn konfrontiert. Es wird darüber spekuliert, was sich in den Institutionen oder in den Settings der Psychotherapie wohl abspielen könnte. Die Psychiatrie und Psychotherapie ist nach wie vor stigmatisiert. «Eines der wichtigsten Anliegen für die kommenden Jahre ist, die Psychotherapie zu entstigmatisieren. Psychotherapeutin ist ein normaler Beruf im Gesundheitswesen», sagt die derzeitige ASP-Präsidentin Gabriela Rüttimann.

«Psycho-Stereotypen»

«Psycho-Stereotypen» würden sich klar von jenen der organmedizinischen Ärzte unterscheiden, zeigen Forschungsüberblicke (1). Das Äussere des «Psycho-Stereotyps» sei männlich und psychoanalytisch geprägt (Aussehen: Sigmund Freud; Setting: Couch). In Bezug auf die Persönlichkeit von «Psychos» existierten sowohl Idealbilder (warmherzige, intelligente, verständnisvolle Elternfiguren) als auch sehr negative Stereotypen (zerzauster, inkompetenter Neurotiker, gefährlicher, manipulativer Missbraucher).

Das ambivalente Verhältnis von psychischer Krankheit und Öffentlichkeit zeigen auch neuste Studien. Die Forschungsstelle sotomo hat im Auftrag der Stiftung Pro Mente Sana im September 2018 über 5500 Menschen in der Schweiz online befragt – über das psychische Wohlbefinden und die Art, wie Menschen darüber sprechen (2). Gemäss der Studie befinden sich 20 Prozent der Befragten «gegenwärtig in einem längerdauernden emotionalen Tief». Als Faktoren, die sich negativ auf die psychische Grundstimmung auswirken, werden am häufigsten Stress und Überlastung – meist bei der Arbeit – genannt. Diese Menschen befürchteten unterschwellig Ängste, in der Leistungsgesellschaft nicht anerkannt zu werden. So gaben 60 Prozent der Befragten an, dass sie kaum über psychische Probleme sprechen würden. Nur das Einkommen wird hierzulande noch diskreter behandelt. Psychische Krankheiten sollten enttabuisiert und das Wissen darüber vergrössert werden, fordern die Befragten.

«Der Leistungsdruck führt nicht nur zur psychischen Belastung, sondern er behindert zugleich das offene Sprechen darüber, weil sich viele davor fürchten, als nicht leistungsfähig zu gelten», steht in der Studie. Der Einfluss der Arbeit auf das «psychische Stimmungsbild der Schweiz» zeigt sich in der Studie auch andernorts. Fast drei Viertel der Schweizer fühlen sich in den Ferien «eher besser». Und die Pensionierten erweisen sich als die zufriedensten. Gefordert seien nun die Arbeitgeber. Die Hälfte der Befragten verlangte, dass Arbeitgeber die Bedingungen verbessern sollen, damit leichter über psychische Probleme gesprochen werden könne.

Weltweite «Mental health crisis»

Ein Rat von 28 internationalen Experten kommt im medizinischen Wochenblatt «The Lancet» zum Schluss, dass psychische Krankheiten weiter verbreitet sind als angenommen (3). Jedes Land der Welt sei mit einer «Mental health crisis» konfrontiert. Und jedes Land reagiere nachlässig auf diese Krise. Die Experten konkretisieren ihre Warnung mit dem Hinweis, es gebe eine Epidemie von Depressionen, Angstzuständen und anderen Leiden, die von Gewalt und Traumata verursacht worden seien: Krieg, Folter, sexuelle Missbräuche und andere Formen von Brutalität. Diese Art von psychischen Versehrungen töte mehr junge Menschen als jede andere Ursache. Dies sagt Vikram Patel von der Universität Harvard, einer der Verfasser der Studie. Die Zahl sei deshalb höher als angenommen, weil die Todesursache häufig auf schwere Verletzungen oder Überdosen an Drogen und Medikamenten reduziert werde. Dabei sei oft mangelhafte oder fehlende Betreuung der Grund.

Die Kosten für diese Unterlassung würden bis zum Jahr 2030 auf 16 Billionen Dollar anwachsen, schätzt der Rat. Die Zahl leitet er aus einem Bericht der Weltbank ab, die berechnet hat, wie viele Arbeitsstunden wegen psychischer Probleme ausfallen würden. Selbst wenn man diesen Schätzungen mit Skepsis begegnen darf, vermitteln sie eine Vorstellung, von welcher Grösse die Fachleute ausgehen. Psychische Erkrankungen und ihre falsche oder fehlende Behandlung kosten unfassbar viel Geld. Und weltweit mehr als 13 Millionen Leben jedes Jahr.

Noch gravierender als solche Berechnungen seien die Reaktionen auf psychische Krankheiten, die «The Lancet» beschreibt. In vielen sogenannt unterentwickelten Ländern werden psychisch Kranke in Gefängnissen weggesperrt, zu Hause angekettet oder schleppen sich als Obdachlose durch die Strassen. Untersuchungen in China oder Indien, zusammen ein Drittel der Weltbevölkerung, gehen davon aus, dass 80 Prozent der psychisch Kranken sich nicht behandeln lassen oder nur eine schlechte Behandlung erhalten. Auch in westlichen Ländern werden seelische Leiden heute oft verdrängt. Den meisten Menschen, die sich einem operativen, medizinischen Eingriff unterziehen müssen, begegne man mit Sympathie. Süchtige und psychisch Kranke aber wollen, dass ihre Versehrung verborgen bleibe. «Der Kranke schämt sich, und die anderen gehen auf Distanz. Die einzige Krankheit, die weitherum akzeptiert wird, ist das Burn-out-Syndrom, diese verdächtig weit verbreitete Erkrankung, die manche ihrer Ereilten tragen wie eine Medaille: Erschöpfung als Folge übermässiger Arbeit.» (4)

(1) In: K. von Sydow: Das Image von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern in der Öffentlichkeit. Ein systematischer Forschungsüberblick. Köln, 2008.
(2) Wie geht’s? Forschungsstelle sotomo. Zürich, 2018. Die Studie hat die Forschungsstelle im Auftrag von Pro Mente Sana verfasst. Sie basiert auf einer im September 2018 erfolgten Online-Befragung von 5539 Personen aus der Deutschschweiz und der Romandie.
(3) Die in The Lancet publizierte Studie wird hier geschildert nach: Die Unberührbaren. Tages-Anzeiger. 15.10.2018.
(4) Ebenda.

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Serie zur Entwicklung der Psychotherapie

In mehreren Folgen hat Infosperber in den vergangen Wochen die Geschichte der Psychotherapie beleuchtet. Dies ist die 9. und letzte Folge. Alle Beiträge finden Sie im

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Themenbezogene Interessen: Walter Aeschimann ist Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) zu deren 40jährigem Jubiläum eine historische Schrift zur Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz verfasst. Walter Aeschimann. Psychotherapie in der Schweiz. Vom Ringen um die Anerkennung eines Berufsstandes. Jubiläumsschrift 40 Jahre ASP. Zürich 2019.

Zum Infosperber-Dossier:

PraxisPsychotherapie

Streit um die Psychotherapie

Der Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen ist fast so alt wie die Psychotherapie selbst.

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2 Meinungen

  • am 24.07.2019 um 11:40 Uhr
    Permalink

    ‹Psychische Störungen zählen zu den häufigsten und am meisten einschränkenden Krankheiten.›

    Psychische Störungen sind keine Krankheiten, deshalb dürfe diese auch Nicht- Ärzte behandeln. So wie alle anderen Gesundheitsstörungen ohne Krankheitscharakter (Unfälle, Verletzungen, Folgen von Altern, Schwangerschaft, usw.).

    Krankheiten hingegen dürfen exklusiv nur Ärzte behandeln, weil sie per Definitionen immer generalisiert und nicht lokal auftreten.

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