Nicht die Zuwanderung ist das Problem
«Einmischung in die Inneren Angelegenheiten» verbittet sich China entschieden. Dass sich ein Ausland-Korrespondent in China in die Inneren Angelegenheiten der helvetischen Alpenrepublik einmischt, ist politisch möglicherweise inkorrekt. Dennoch der Versuch eines Zwischenrufs.
Für einmal nicht als Experte, Spezialist oder Kenner, sondern als simpler Schweizer Bürger aus der Ferne zu kommentieren, bedarf eines dringenden Grundes. Es war ein Wort, «Masseneinwanderung» nämlich. «80‘000 Zuwanderer netto pro Jahr», lese ich digital in den helvetischen Gazetten. So viel! Bald hat die Schweiz, wird gejammert und geklagt, acht Millionen Einwohner. So viel!!
Seit Jahren in einer chinesischen Grossstadt lebend, fällt mir beim Wort «Masseneinwanderung» weniger die Schweiz, sondern vielmehr China ein. Gewiss, China ist kein Einwanderungsland wie etwa die USA, Australien oder Kanada. Weit davon entfernt. Ende 2013 lebten gerade einmal knapp 600‘000 Ausländer im Reich der Mitte. Und das bei mittlerweile fast 1,4 Milliarden Einwohnern. Kein Wunder, dass chinesische Freunde und Bekannte ungläubig staunen, wenn ich ihnen erzähle, der Ausländeranteil in der Schweiz betrage weit über 20 Prozent. Doch Masseneinwanderung? Dies trifft wohl eher auf Chinas Grossstädte, insbesondere auf Peking, zu.
Jedes Jahr strömen 600’000 Zuwanderer nach Peking
Im Verwaltungsbezirk Peking – flächenmässig ein Drittel so gross wie die Schweiz und genauso viele Berge – leben mittlerweile fast 22 Millionen Menschen. Vor zehn Jahren waren es noch 15 Millionen. Oder: Seit dem Jahr 2000 strömen jährlich und netto 600‘000 Chinesinnen und Chinesen in die Megalopolis. Es sind vornehmlich ländliche Migranten aus dem Heer der über 250 Millionen Wanderarbeiter. Das ist Masseneinwanderung. Buchstäblich. Nicht nur in Peking. Auch in Shanghai, Kanton, Shenzhen, Chengdu, Chongqing und vielen andern Städten.
Viele Zuwanderer haben kein Hukou, keine Niederlassung oder halten sich illegal im Dschungel der Grossstadt auf. Ohne Hukou gibt es aber keine Sozialleistungen, keine staatlichen Schulen für die Migranten-Kinder. Eine der vielen aktuellen von der Partei geplanten Reformen ist die Öffnung des Hukou-System – mehr Personenfreizügigkeit also.
Die Masseneinwanderung vom Lande strapaziert die städtische Infrastruktur aufs äusserste. Die Untergrundbahn von Peking zum Beispiel ist nicht nur zur Rushhour so gerappelt voll, dass einem eine Schweizer S-Bahn schon behaglich und komfortabel vorkommt. Dennoch bleiben die Menschen in Peking gelassen und höflich. Älteren Leuten wird fast immer ein Sitzplatz angeboten.
Ganz andere Erfahrungen neulich während der Ferien in der Schweiz. Im ÖV in den Grossregionen Zürich, Bern, Yverdon-Payerne und Genf ist die Stimmung ziemlich angespannt. Die höfliche, fast schüchtern vorgetragene Bitte, ob jemand vielleicht den Sitzplatz für eine offensichtlich sehr alte Frau freimachen könnte, wurde von einer jungen Mittelschülerin erwidert mit einem knappen «tais-toi, vieux con!». Ein anderer Schüler – ein Schwarzer notabene – der mit dem Rücken zur beschriebenen Szene sass, erhob sich und führte die alte Dame galant an seinen Platz. Seither halte ich die Klappe, zumal schon in früheren Jahren bei ähnlichen Situationen Ausdrücke wie Grufti gefallen sind.
Dummdreiste Propaganda statt Dialog
In der Schweiz haben wir ein Problem. Sicher. Aber die Gründe sind diffus. Wie alle wissen, selten aber zugeben, gibt es kein Allheilmittel. Die Diskussion im Abstimmungskampf jedoch, so erlebte ich es zumindest in meinen Schweizer Ferien, ist kein Dialog, sondern flache, zum Teil dummdreiste Propaganda. Hier und dort. Ein Dialog der Taubstummen.
Die «SVP-Masseneinwanderungsinitiative» versus die «SVP-Abschottungsinitiative» etwa. Die «SVP-Mogelpackung» fördere den Untergang der Schweizer Wirtschaft, zerstöre den bilateralen Weg und sei eine gesamtwirtschaftliche Wachstumsbremse. Weiter polemisieren die Wirtschaftsverbände mit «Planwirtschaft», manchmal gar mit dem Beiwort «sowjetisch» – was für eine Dummheit, welche Sottisen! Andrerseits – malt die SVP den Teufel an die Wand – sei die Eigenständigkeit, die Schweizer Souveränität wegen Überfremdung in höchster Gefahr. Der moralische Zeigefinger wird auf beiden Seiten des Abstimmungsgrabens lehrerhaft erhoben, und die Mulitkulti-Keule wird für die Promotion der Personenfreizügigkeit ausgepackt. Wir haben ein Riesenproblem, sagen die einen. Nein, meinen die andern, das Problem haben wir erst nach Annahme der Initiative. Ein Dialog ist das jedenfalls nicht.
Summa summarum ist es gewiss so, dass nicht alles, was die SVP sagt, falsch ist, und nicht alles, was die Wirtschaft und die Multikulti-Linke sagt, richtig ist. Und umgekehrt. Dass ein Dialog durchaus möglich wäre, hat das halbstündige Interview im ersten Programm von Radio Suisse Romande gezeigt, wo ein höflicher aber knallharter Moderator den SVP-Nationalrat Luzi Stamm in die Zange nahm. Und wie. Es war ein Debattier-Genuss erster Ordnung. Stamm drosch aber nicht mit der blocherschen SVP-Keule sondern – hört, hört! – er focht mit dem feinen Florett. Der Moderator und Stamm hörten einander zu, entwickelten Argumente, fielen sich nicht gegenseitig ins Wort und liessen den andern ausreden. Und siehe da, Luzi Stamm legte in gepflegtem Französisch den SVP-Standpunkt dar. Differenziert, mit Nuancen. Das wären gute Voraussetzungen für einen Dialog.
Fondue-Kompromiss für die Geschichtsbücher
Es muss ja nicht gerade die Kappeler-Milchsuppe für den Frieden sein. Ein Fondue auf dem Bundesplatz täte es schon. Angerührt müsste es werden – um echte Dialogbereitschaft zu fördern – nach dem Freiburger Rezept Moitié-Moitié. Von Bundesrat Berset natürlich. Die Weine kredenzen könnte Bundespräsident Burkhalter. Einen schönen Weissen von den Nordgestaden des Neuenburgersees. Dazu, versteht sich, Mauler für die überparteiliche Prosecco- und Cüpli-Fraktion der Vereinigten Bundesversammlung. Rede und Gegenrede, vor allem aber zuhören und nach für beide Seiten akzeptablen Lösungen suchen – das wäre das Ziel. Wer weiss, vielleicht könnte so ein Fondue-Kompromiss gefunden werden, der gewiss in die Geschichte eingehen würde.
Wir haben also ein Problem. Nur eben: Es ist nicht primär die Einwanderung – ob in Massen oder nicht, bleibe dahingestellt. Das Problem ist vielmehr der mit Propaganda-Worthülsen geführte Dialog Taubstummen-Dialog des Polit-Establishments im Kampf um politische Klientel. Soll das Demokratie sein? Sicher ist, die Realität ist bunter, als es der krude schwarz-weisse Abstimmungs-Schlagabtausch ahnen lässt. Oder anders ausgedrückt, Information und Wissen, nicht Propaganda ist gefragt. Nur eben bringt das den schrecklichen Vereinfachern aller Parteien und Lagern nicht immer die gewünschten Stimmen. Leider.
Welches Verdikt aber in dieser Situation fällen? Ich werde mich, politisch inkorrekt, der Stimme enthalten. Das fällt nicht schwer, denn die Abstimmungsunterlagen erreichen das Reich der Mitte jeweils zu spät. Ein chinesischer Kollege hat es da besser. Neulich auf die Niederlassungs-Reform (Hukou) und die Schweizer Abstimmung angesprochen, meinte er er ironisch: «Das Dritte Plenum des 18. Zentralkomitees hat für uns Chinesen bereits im November entschieden. Für die schrittweise Hukou-Reform, also für mehr Personenfreizügigkeit.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.
Danke für Hinweis auf Gespräch zwischen Luzi Stamm und dem Westschweizer Moderator. Interessant der Hinweis auf 600 000 Einwanderer ins Paradies Peking. Es wäre auszurechen, wie es bei uns aussähe, wenn alle Schweizbewohner sich mit den Wohnraumquadratmetern, dem Energieverbrauch, dem Fleischverbrauch (bei den Bernhardinern liegt noch Wachstumspotential drin), der Zahl der Motorfahrzeuge, dem Ferienbedarf auf der ganzen Welt nach Massgabe der chinesischen Bevölkerung begnügen würde. Dann könnten wohl auch in Zürich, das nach Ursula Koch «gebaut ist", fünfmal mehr Menschen leben ohne dass man speziell viel bauen müsste. Im kommunistischen Ungarn besuchte ich 1984 die Familie eines Ingenieurs, bei der drei Generationen in einer Zweizimmerwohnung lebten.
Ein Globalisierungsschritt für die CH wäre die die Einführung eines Zentralkomitees mit Hokou-Reform. In diese Richtung ging Konferenz der Kantonsregierungen zu deren Weiterbildung in Interlaken. Wie in China gab es nur eine Meinung über die Vorzüge der Personenfreizügigkeit.
Aus Diskussion in «Arena» wurde klar, dass von den Initianten im Erfolgsfall nur mit der Halbierung der gegenwärtigen Einwanderung gerechnet wird, also 40 000 Nettoüberschuss. Wir stimmen also bestenfalls über eine Verlangsamung des Weges zur Elfmillionenschweiz ab. Auf Secondos würde wegen Schweizer-Vorrang schikanöser Einbürgerungsdruck ausgeübt. Die Arbeitslosenzahlen könnten aber gemäss Minder bei Rezession locker auf eine halbe Million steigen.
Nachdem ich vom BR Schneider-Ammann via TV vernommen habe, dass den Einwanderern nicht mehr vom ersten Tag Sozialhilfe etc. bezahlt wird, bin ich mir nicht mehr sicher, was ich abstimmen soll… Von solchen Machenschaften war nie die Rede, denn ich dachte mit Schengen könnten zwar EU-Leute kommen und bleiben, wenn sie, von dem meist rechtslastigen Arbeitgebern, innert 3 Monaten eine Anstellung bekommen. Um dann neben dem Lohn auch in die Sozialwerke einzuzahlen. Kommen nun solche – den Schweizer gegenüber – unfaire Praktiken ans Tageslicht, so wäre eventuell ein SVP-Ja dennoch angebracht. Mit dem Ja allerdings könnten wir gezwungen werden, ohne EU Verträge, den Gürtel enger zu schnallen… Kann man den Teufel mir dem Beelzebub austreiben?