Mit schnellen Pferden Kasse machen
Gleich nach der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 war fertig lustig. Die Rennbahnen, die ihren Betrieb in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Ägide der britischen Kolonialisten und Imperialisten aufgenommen hatten, wurden abrupt geschlossen – zumal in Shanghai. Glücksspiele und insbesondere das Wetten auf Pferderennen wurden als «amoralisches kapitalistisches Vergnügen» gebrandmarkt und galten fortan als «bourgeois», «reaktionär», «feudal», «kolonialistisch» und als «soziales Übel».
In der britischen Kronkolonie wurde jedoch munter weiter auf Pferde gewettet – bis heute. Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping kannte seine Pappenheimer. In den Verhandlungen mit den britischen Kolonialherren über die Rückgabe der Kronkolonie Hongkong ans «Mutterland» versprach er Anfang der 1980er-Jahre, die Rennbahnen von Sha Tin und Happy Valley samt dem Wettbetrieb nicht anzurühren, getreu dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme». Und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben.
Pferderennen für einen guten Zweck
Der 1884 gegründete Hong Kong Jockey Club veranstaltet rund 700 Galopprennen pro Jahr, tagsüber auf dem Racetrack in Sha Tin und abends in Happy Valley. Der illustre Club ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor der chinesischen Sonderverwaltungszone. Mit Pferde- und Fussballwetten werden jährlich umgerechnet über 15 Milliarden Franken umgesetzt. Satte 12 Prozent der Hongkonger Steuereinnahmen entrichtet der Jockey Club. Auch die öffentliche Wohlfahrt profitiert, von Spitälern über Schulen, Universitäten und kulturellen Veranstaltungen bis hin zu karitativen Einrichtungen.
Ähnliche Verhältnisse herrschen in der ehemaligen portugiesischen Kolonie und heutigen chinesischen Sonderverwaltungsregion Macao. Dort wird auf der Rennstrecke Taipa um die Wette galoppiert und in den Casinos gezockt, dass es seine Art hat. Mittlerweile sind die Casino-Umsätze in Macao fünfmal so hoch wie im legendären amerikanischen Sündenpfuhl Las Vegas. In der Hoffnung auf schnelles Geld und Reichtum besuchen Millionen von einfachen Chinesen und Chinesinnen aus der Volksrepublik, aber auch Beamte mit Steuergeldern in der Tasche, Hongkong und Macao, um dem Glücksspiel zu frönen.
Ein blühender Wirtschaftszweig
Seit 1990 erlebt der Pferdesport dank der Wirtschaftsreform von Deng Xiaoping in der «sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung» ein Comeback. In der nördlichen einstmaligen Hauptstadt Xi’an fanden 1991 erstmals seit 1949 wieder Rennen mit Preisgeld statt, selbstredend ohne Wetten – zumindest ohne legale. Zwei Jahre später stieg die südliche Grossstadt Guangzhou (Kanton) ebenfalls ins Renngeschäft ein. Ohne Wetten wiederum, aber mit Preisgeld. Daraus entwickelte sich ein blühender Wirtschaftszweig: 3000 Angestellte, 100 Jockeys, 20 Trainer, Hunderte von Pferden und investierenden Besitzern. Das Experiment wurde 1999 beendet.
Im Jahr 2002 sah sich die Pekinger Zentralregierung veranlasst, Pferdewetten erneut kategorisch zu verbieten. Wenige Rennbahnen überlebten. Illegale Wetten hatten ein riesiges Ausmass angenommen. Sicher ist jedoch: Das Wettverbot hält nicht vom Zocken ab. Spielwütige Chinesen und Chinesinnen setzen in Online-Casinos und bei Pferdewetten im Internet Milliarden und Abermilliarden Yuan um. Schätzungen gehen von umgerechnet 10 Milliarden Franken pro Jahr aus.
Den Pekinger Mandarinen ist in der Zwischenzeit nicht entgangen, welch wirtschaftliches Potential im Glücksspiel im Allgemeinen und den Pferdewetten im Besondern steckt. Die delikate Frage der Pferdewetten und deren wirtschaftliche Seite erforscht inzwischen eine offizielle «Chinesische Untersuchungs-Gruppe für Pferderennen». Der Vorsitzende der Gruppe, Qin Zuwen, meint, die Aufhebung des Wettverbotes würde «die Einkünfte des Staates steigern, Arbeitsplätze schaffen, das Publikum unterhalten und dem illegalen Glücksspiel einen Riegel schieben». Der Marktwert pro Jahr wird von chinesischen Ökonomen auf umgerechnet mindestens 100 Milliarden Franken veranschlagt. Die Wettindustrie, so die Wirtschaftswissenschaftler, könnte drei Millionen Arbeitsplätze schaffen und umgerechnet rund 15 Milliarden Franken Steuereinnahmen generieren.
Zeichen der Liberalisierung
Gerüchte, das Wettverbot werde aufgehoben, gibt es seit zwanzig Jahren. Gelockert wurde es mit der Einführung einer staatlichen Lotterie. Doch die Aufhebung des seit 1949 geltenden Verbots ist nicht so einfach. Die zentralchinesische Megalopolis Wuhan unternahm 2008 einen neuen Versuch. Wuhan galt lange als Pferdesport-Metropole Chinas. Bereits 1902 fanden dort erste Pferderennen statt. Selbstverständlich mit Wetten. Auf der vor sechs Jahren eröffneten und zum Teil mit Hongkonger Geld gebauten Dongfang-Rennbahn werden zwei Mal pro Woche je sieben Rennen ausgetragen. Ohne Wetten natürlich. Aber man kann einen kleinen Preis gewinnen, denn mit den Eintritts-Tickets wird eine Art Lotterie veranstaltet. Investieren kann man auch in Rennpferde. Ist das Pferd erfolgreich, winkt den Investoren ein Preisgeld-Anteil.
Ein sachtes Zeichen der Öffnung sehen Beobachter auch darin, dass Chinas Vize-Sportminister die Eröffnung der Wuhan-Rennbahn mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Worum es in Wuhan geht, umschreibt der stellvertretende Direktor des Wuhan-Sportbüros so: «Es ist ein Experiment für die Kommerzialisierung von Pferderennen in China». An der Universität in Wuhan kann jetzt sogar Pferdesport studiert werden. Weitere Rennbahnen wurden inzwischen eröffnet – in Peking, Shanghai, Guangzhou (Kanton), Jinan oder Nanjing. Wetten bleibt offiziell verboten – zumindest vorläufig.
Jahr des Pferdes schürt Hoffnungen
2014, ausgerechnet im Jahr des Pferdes, soll sich nun – so die Hoffnung vieler Chinesinnen und Chinesen – alles ändern. Die Zeichen scheinen klar. Eben erst ist der China Jockey Club gegründet worden in Anwesenheit von – Ascot lässt grüssen und nomen est omen – Peter Phillips, Enkel der Pferdeliebhaberin Queen Elizabeth. Die ersten Rennen sollen im kommenden Jahr stattfinden. Bleibt die Frage: Mit oder ohne Wetten? Ist die Gründung des China Jockey Clubs ein Vorzeichen für die Aufhebung des Verbots? Jedenfalls bereitet sich die unweit Peking gelegene Küstenstadt Tianjin auf das Best-Case-Szenario vor. Mit Geld aus Dubai und Hongkong entsteht dort – für umgerechnet weit über eine Milliarde Franken – ein Pferdesportzentrum vom Feinsten: Rennbahnen, Ställe, Veterinärkliniken, Pferdeauktionszentrum, Büros, Vip-Lounges, Restaurants, Hotels etc. Kein Wunsch bleibt offen.
Der Entscheid der allmächtigen Kommunistischen Partei zu Glücksspiel und Pferde-, Fussball- sowie anderen Wetten ist für das Land eminent wichtig, nicht zuletzt aus wirtschaftlicher Sicht. Warum, fragt sich vielleicht die Regierung, sollte man freiwillig auf satte Profite verzichten und das Feld kampflos Hongkong, Macao und den illegalen Online-Wetten überlassen. Auch ideologisch sieht man im modernen China manches nicht mehr so eng. «Amoralisch», «feudal» oder «bourgeois» sind wohl Pferdewetten nicht mehr. Allerdings: Die sozialen Folgen einer Glücksspiel-Freigabe sind nur schwer abzuschätzen.
Staats- und Parteichef Xi Jinping ist nicht als Pferdeliebhaber bekannt. Er ist ein bekennender Fussballfan. Bei näherem Betrachten stellt sich das aber eher als ein Vorteil heraus. Weil Glücksspiele verboten sind, wetten Chinesinnen und Chinesen munter und illegal auf Fussballspiele der grossen europäischen Ligen, die zum Teil vom chinesischen Staatsfernsehen übertragen werden. Ein neulich gegründeter chinesischer Fernsehkanal überträgt ausschliesslich Pferderennen. Die Unterhaltungssendung «Wetten, dass..?» war in China sehr beliebt. Warum wohl?
Wetten, dass in China auch in Zukunft auf Teufel komm raus gewettet wird? Legal oder illegal.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.
Das Wort «Liberalisierung» im Zusammenhang mit Pferdewetten wirkt nun doch leicht zynisch.
Objektiv wäre zum Beispiel mal eine Paralleluntersuchung zu machen über die Nischen geistiger Freiheit in der Buchproduktion des 3. Reiches, von China und der einstigen Sowjetunion. Es ist zu befürchten, dass der Schlussrang des 3. Reiches keineswegs feststeht, weil es immerhin ökonomisch unabhängige Verlage gab und im Einzelfall erstaunlich mutige Produktionen. «Zensur verfeinert den Stil.» (Ernst Jünger)
Für das, was etwa ins Chinesische übersetzt wird, habe mich damit befasst, gibt es klar mehr totalitäre Kontrolle als was zum Beispiel zur Zeit des 3. Reiches ins Deutsche übersetzt wurde. Das wäre im Zusammenhang mit «Liberalisierung» mal klar zu untersuchen, ich weiss es insgesamt aber noch zu wenig, möchte es gern noch genauer wissen, warum nicht durch den geschätzten Peter Achten? Bestreite auch nicht, dass es in China auch innerhalb des jetzigen Systems hervorragende Literatur gab uind gibt und erachte die Nobelpreisvergabe vor 2 Jahren an Mo als verdient. Desgleichen freute ich mich über die Uebersetzung eines Hauptwerks des Schweizer Arbeiterschriftstellers Karl Kloter ins Chinesische. Es erinnerte mich an die deutsche Feldpostausgabe einer Erzählung von Alfred Huggenberger 1943, kam an die Ostfront. In jener Geschichte für deutsche Tornister wurde eine Schweizer Gemeindeversammlung beschrieben, wo jeder oppositionelle Anträge einbringen kann…