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Ein glückliches Alter dank Laufen, Lernen, Lieben und Lachen © limmatverlag

Lernen, gut und vergnügt alt zu werden

Marianne Pletscher /  Im Buch «90plus mit Gelassenheit und Lebensfreude» blickt die Filmerin und Buchautorin Marianne Pletscher auf das gute hohe Alter.

Red. Die langjährige Dokumentarfilmerin Marianne Pletscher erzählt, wie es zu ihrem neuen Buch kam.

Jede Journalistin bekommt einen Tunnelblick, wenn sie sich spezialisiert. Für mich war es höchste Zeit, nach jahrelangem Nachdenken und Publizieren zu Demenzproblemen die positiven Seiten des hohen Alters genau anzuschauen. Lohnt es sich, so alt zu werden? Welches sind die genetischen und medizinischen Voraussetzungen dazu? Was kann Jede und Jeder selbst dazu beitragen?
Fast wie von selbst nahm eine Buchidee Form an: An einem Kongress traf ich die quirlige und witzige Theologin Leni Altwegg, die als «hochaltrige Fachfrau» auftrat und den Kongressteilnehmern erklärte, sie, die 50- bis 60-Jährigen hätten keine Ahnungen vom Leben einer über 90-Jährigen. Leni hatte ich vor Jahrzehnten in der Anti-Apartheid-Bewegung kennengelernt.
Wir lernten uns neu und besser kennen und sie brachte mir etwas vom Wichtigsten bei zum Thema Alter: Es kann auch schön sein, nichts mehr zu müssen, nur noch zu dürfen. Vergesslich zu sein, sagt sie, habe nichts mit Intelligenz zu tun, eher im Gegenteil. Frau lerne, so sagt sie, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und so interpretiert sie denn auch immer noch Bibeltexte für die Boldern-Zeitung1 und trifft immer kurz und genau den Kern des Textes. Nützlich sein und teilnehmen am Leben möchte sie immer noch.
«Bei Exit hat mir keiner dreinzureden»
Kurz darauf beteiligte ich mich an einem Workshop des Gesundheitsdepartements der Stadt Zürich, wo mir die lebhafte Hedy Rieser, Vertreterin eines Alterszentrums, erzählte, dass viele ihrer Mitbewohnerinnen sterben wollten, aber nicht den Mut oder die Kraft hätten, sich mit Sterbehilfe auseinanderzusetzen. Sie selbst sei Mitglied bei Exit und wisse genau, wann und wie sie diese Organisation in Anspruch nehmen wolle. Und da hätte ihr keiner dreinzureden, so wie früher ihr Mann auch nicht.
Auch Hedy lernte ich bald näher kennen und sie brachte mich fast dazu, die Angst vor dem Altersheim zu verlieren. Für sie ist das Alterszentrum eine erweiterte Familie, sie hilft allen, denen es schlechter geht als ihr und ihr kleines Einzelzimmer ist ein inoffizielles Lebensberatungsbüro geworden.
Die Angst vor dem Alter nehmen

Die zwei Frauen, beide Mitte Neunzig, beindruckten mich so stark, dass ich beschloss, weitere Menschen zu suchen, von denen ich lernen konnte, gut und vergnügt alt zu werden. Von allen Seiten wurde mir jetzt von Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern erzählt, die «gut drauf» sind. Viele von ihnen besuchte ich und das Buch begann, sich wie von selbst weiterzuentwickeln. Weil sich die Lebendigkeit aller besuchten Personen nicht nur geistig, sondern auch physisch sehr stark ausdrückt, sollte es ein Fotobuch werden, schliesslich komme ich vom Film her und will Geschichten nicht nur verbal, sondern auch visuell erzählen.
Fotograf Marc Bachmann brachte neben seiner fotografischen Begabung auch einen neuen Blick ein, den der Enkelgeneration. Ich selbst gehöre zur Töchtergeneration, alle Portraitierten könnten meine Eltern sein.
Uns war schnell klar, dass wir mit dem Buch alle Generationen ansprechen und allen Generationen die um sich greifende Angst vor dem Alter nehmen wollten. Für einmal sollten nicht das Alter als Massaker, nicht die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Seniorinnen und Senioren, nicht Gewalt gegen Hochbetagte, nicht Altersdiskriminierung oder Altersarmut, nicht die Diskussion zur Überalterung der Gesellschaft im Zentrum stehen. Nein, ein Mutmacherbuch sollte es sein, in dem nicht verschwiegen wird, dass 90plus nicht gleich 50 oder 70 ist, dass dieses Alter aber trotzdem noch sehr viel Lebenswertes bietet.

Für andere nützlich sein …

Entschieden habe ich mich schliesslich, fünf weitere Frauen, einen Mann und ein Ehepaar zu portraitieren. Zwei sind darunter, von denen ich in meiner persönlichen Situation am meisten lernen kann: Was das Interesse an gesellschaftlichen Themen betrifft wäre da Agnes Guler, ehemalige Zürcher SP-Kantonsrätin, die mit 95 noch genauso interessiert ist an Politik wie früher und sogar 1.Mai-Demos noch mitmacht, Arm in Arm mit Familienangehörigen. Ihre Neugier ist lebendig geblieben. Sie kocht jeden Sonntag für die ganze Familie und diskutiert über Politik mit Enkeln und Urenkeln.

Schön wärs, aber so viele Familienangehörige habe ich nicht. Da müsste ich mir für den gesellschaftlichen Teil ein anderes Vorbild suchen. Zum Beispiel Johanna Fischer, die mit über 91 noch als freiwillige Helferin in einem Pflegeheim arbeitet. Solange sie helfen könne, findet sie, habe ihr Leben einen Sinn. Es muss ja nicht dasselbe sein, es gibt hundert Arten, sich gesellschaftlich auch im hohem Alter nützlich zu machen.

… und sich selber Sorge tragen

Es ist aber auch wichtig, sich selbst Sorge zu tragen. Das hat mir Silvana Lattmann beigebracht, die italienischstämmige Schriftstellerin, die seit mehr als 50 Jahren in der Schweiz wohnt. Silvana hatte, als ich sie zum ersten Mal traf, soeben zu ihrem hundertsten Geburtstag ihre Biografie veröffentlicht. Ihr langes Leben führt sie unter anderem auf die bis ins hohe Alter praktizierte Zen-Meditation zurück. Wie viele Leute ihr Buch lesen werden, ist ihr egal, sie schreibt jetzt an der Fortsetzung. Zen: alles sei wichtig und nichts sei wichtig, meint sie. Und wenn etwas doch wichtig sei, dann dass man liebe, sich selbst und alle andern.
Vier «L» für ein glückliches Alter

In seinem neuesten Buch2 benennt der Philosoph Otfried Höffe vier Aktivitäten mit «L», die zu einem glücklichen Alter führen:
Laufen, Lernen, Lieben, Lachen.
Alle unsere Protagonisten wissen das intuitiv, ohne dass sie dazu ein Buch lesen mussten. Wie wichtig Lachen ist, haben wir mit dem Ehepaar Rösli (95) und Willi (93) Vogel erlebt. Rösli, die ehemalige Buchhalterin, ist die Familiendichterin der Familie und sprüht nur so von Witz. Jeder Besuch bei den beiden endete in Gelächter. Als sie nach den Interviews schwer krank wurde, und es wirklich nichts zu lachen gab , machte sie im Spitalbett noch Witze und meinte, die Fähigkeit, gute Sprüche zu machen würde sie wohl überleben. Die beiden sind sogar die einzigen im ganzen Buch, die über den Tod witzeln.

Lebenshaltung ebenso wichtig wie die Gene
Gelacht habe ich aber auch mit all den andern, so mit dem ehemaligen Spitzenbergsteiger Ernst Gerber, dessen Tochter Käthi mich zuerst für eine Enkeltrickbetrügerin hielt, weil er sich nicht mehr erinnern konnte, wieso ich mich angemeldet hatte.
Was für eine Rolle spielt die Genetik in diesen spannenden Biografien? Keine geringe, denn die meisten der Portraitierten haben Verwandte, die sehr alt wurden. Aber genauso wichtig – da gehe ich einig mit unserm Vorwortsverfasser, dem Geriater Roland Kunz, – ist die positive Lebenshaltung aller Portraitierten. Sie sind alle verschieden, leben in verschiedenen Landesteilen und kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Aber alle sind fähig, Schicksalsschläge gut wegzustecken. Sie vergessen Negatives und freuen sich an Positivem. Sie akzeptieren die Einschränkungen, die das hohe Alter bringt, und freuen sich an dem, was noch geht. Die einen haben grosse Familien und leben fast im Clan. Die, die nie verheiratet waren, haben andere Wege gefunden, der Einsamkeit, dem Sterberisiko Nr. 1, zu entgehen. Sie sind alle zu wichtigen Rollenmodellen geworden. Hatte ich vor diesem Buch noch Bedenken, neunzigjährig oder älter zu werden, freue ich mich jetzt darauf.
Die andern brauchen verbesserte Bedingungen
Natürlich gibt es auch die andern, die nicht gelernt haben, gut zu altern, denen das Leben die nötige Resilienz3 nicht vermitteln konnte, die es dazu braucht. Oder diejenigen, die einfach schon zu krank sind. Für sie muss die Gesellschaft gute Bedingungen schaffen, bessere als heute, so wie es die Initiative «gutes Alter» plant, auf die ich im Buch hinweise. Die Gesellschaft kann und muss stützen und helfen, aber ohne Eigeninitiative geht es nicht.
Sogar im Tod sind meine Protagonistinnen noch Vorbilder. Vreni Marbacher, eine prononciert linke 95-Jährige aus dem Kanton Fribourg, ist leider kurz vor dem Druck des Buches gestorben. Obwohl sie sich vorstellen konnte, 104 zu werden, hatte sie ihre Abdankung perfekt vorbereitet. Sie wusste vor allem, was sie nicht wollte, nichts Religiöses. Sie diskutierte mit der Pfarrerin noch ein paar Stunden vor ihrem Ableben über Politik und ihr grösster Wunsch, nie ins Heim zu müssen, wurde erfüllt. Kurz zuvor hatte sie gemeint, sie sei nicht lebensmüde, aber wenn sie gehen müsse, sei das auch in Ordnung. Diesen Satz haben alle andern so oder ähnlich gesagt.
Sie leben vielleicht so gut, weil sie jederzeit bereit sind zu sterben.
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FUSSNOTEN
1Veröffentlichung des evangelischen Tagungszentrums Boldern.
2Otfried Höffe „Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens». Beck München 2018
3Resilienz als protektives Persönlichkeitsmerkmal im Alter

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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Die Journalistin Marianne Pletscher ist Autorin des Buches «90plus mit Gelassenheit und Lebensfreude», Limmatverlag, 248 Seiten mit 145 Fotografien von Marc Bachmann, 38 CHF.

Portraitiert werden in Text und Bild sieben Frauen, ein Mann und ein Ehepaar im Alter zwischen Zweiundneunzig und Hunderteins. Sie stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Gegenden der Schweiz.

Hier kann man das Buch online bestellen.

Zum Infosperber-Dossier:

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