Kommentar
kontertext: Rettet uns die Digitalisierung?
Wie immer man sich streiten mag über den Umgang mit der Corona-Krise und die richtigen Massnahmen zu ihrer Eindämmung, eine Tatsache bleibt bestehen: Das reale Leben geht weiter und es kann nicht ins Internet verschoben werden. Zwar kann man von zu Hause aus am Computer manche Arbeiten verrichten: Texte schreiben, Buchhaltung führen, Rechnungen stellen, Bilder entwerfen, Einkäufe bestellen, Planungen vorantreiben etc. Aber die Realisierung dieser Pläne muss in der realen Welt erfolgen und schlussendlich stehen beispielsweise Arbeiter auf dem Bau, die diese Pläne verwirklichen. Die Kundenbestellungen muss jemand abarbeiten, die Ware zum Kunden bringen oder bringen lassen. Wenn jemand krank wird, kann man keine Hilfe vom Internet erwarten – höchstens die Information, wo man sich reale Hilfe besorgen oder wie man sich selber helfen kann. Wo das nicht möglich ist, muss man die Hilfe von anderen Menschen erbeten – sei es vom Apotheker, der Ärztin, vom Spital oder auch von der Spitex. Und natürlich kann das Internet nicht meinen Hunger stillen, irgendjemand muss die Lebensmittel einkaufen, das Essen zubereiten. Dazu brauche ich in jedem Fall die Mithilfe anderer, auch wenn es nur die Verkäuferin im Laden oder der Lieferdienst ist oder eine hilfsbereite Person aus meinem Umfeld. Alle sind letztlich auf jene angewiesen, die ihnen die lebensnotwendigen Dinge besorgen.
Die Ungerechtigkeit nimmt zu
Neben den Ängsten um die Gesundheit aller gibt es eine zunehmende Ungerechtigkeit: Je nach Tätigkeit und sozialem Status können sich die einen besser abschirmen dank den Dienstleistungen der andern. Zudem können Menschen auch in eine prekäre Situation geraten, weil sie über längere oder kürzere Zeit nicht mehr gebraucht werden. Unbestritten trifft es jene, die keinen festen Arbeitsplatz, keine Rente oder kein gesichertes Einkommen haben, am härtesten. Es ist fraglich, ob sie im Internet einen Ersatz finden – möglich ist es immerhin, zumindest für jene, die den entsprechenden Zugang haben. Umgekehrt ist die Situation auch für diejenigen schwierig, die dringend gebraucht werden und auf deren physische Präsenz man zählt. Als Beispiel wären die Postboten zu nennen, die gerade durch den Ersatzkonsum via Internet völlig überlastet und daher selbst gesundheitlich hoch gefährdet sind. Dasselbe gilt auch für gewisse Bereiche im Gesundheitswesen, die Mehrarbeit kann nicht digital erbracht werden.
Es sind also grosse Widersprüche, die übrig bleiben: Abhilfe bei den Überlasteten ist schwierig; sie wäre mithilfe des Internets einfacher zu organisieren, aber es fehlt am sofort verfügbaren Personal. Und jene, die ihre Arbeit verloren haben, verfügen oft nicht über die nötigen Qualifikationen, um andernorts einzuspringen. Beiden aber müsste sofort geholfen werden, den einen mit Entlastung, den andern mit Geld. Das müsste ohne Umschweife in der realen Welt passieren und eine Ankündigung auf baldige Verwirklichung genügt bei weitem nicht.
Auch wenn es Konflikte gibt: Eine Debatte ist nötig
Womit wir auf dem Feld der medialen Kommunikation und der digitalen Verbreitung von Nachrichten angekommen wären. In erster Linie informieren sich die Menschen gerade in dieser Krisenzeit mit Hilfe von Zeitungen, im Radio und Fernsehen. Den öffentlich-rechtlichen Medien kommt in dieser Zeit eine besondere Stellung zu. Sie werden zur Schnittstelle zwischen Behörden und der Bevölkerung. Die meisten Leute haben erfahrungsgemäss ein gesundes Vertrauen, dass sie korrekt informiert werden. In diesem Fall aber schwingt ein gewisses Misstrauen mit: Werden die Medien von den Behörden, ihren wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Beratern und ihren zum Teil selbsternannten Experten dominiert? Verhindern sie andere Sichtweisen? Schränken sie den Blick auf die Wirklichkeit ein? Solche Fragen sind notwendig. Und gerade die Medien müssen die Debatte aufrechterhalten und alle relevanten Informationen zum Thema berücksichtigen, auch wenn diese sich gegenseitig widersprechen. Alle können ihre Schlussfolgerungen daraus ziehen und sich eine Meinung bilden; auch diese Meinungen dürfen geäussert werden. Eine mediale Debatte kann auch auf Abwege führen und von den zentralen Problemen ablenken. In diesem Falle geht es vor allem um Rechthaberei und Schuldzuweisungen. Um falsche Sentimentalitäten und Schreckgespenster, versteckte Konkurrenz, um absurde Vergleiche zwischen Ländern in einem Geschehen, das vor keinen Landesgrenzen Halt macht. Eine sinnlose Kakophonie von Frustration, Häme und Bösartigkeit.
Der Glaube an die technische Machbarkeit
Es ist daher nötig, die Debatte grundsätzlicher zu führen, zum Beispiel: Was hat zu dieser Krise geführt? Was ist schief gelaufen, dass eine Krankheit zu einem weltweiten Drama wird? Soll das in Zukunft so weitergehen?
In allen sogenannt fortschrittlichen Ländern hat eine fragwürdige Entwicklung stattgefunden. Die Gesundheit ist zu einem Markt verkommen, in dem sehr viel Geld verdient werden kann. Gerade aus diesem Grunde werden die falschen Prioritäten gesetzt und oft wird das Effizienteste in der Gesundheitsversorgung vernachlässigt. Das ständige Wachstum der Branche nährt die Illusion, dass es um die Versorgung unserer Gesundheit immer besser steht, schon bald alle Krankheiten besiegbar werden und – unglaublicherweise – niemand mehr sterben muss.
Das Interesse an der Gesundheit ist enorm gewachsen, unter anderem, weil so viel Geld damit zu verdienen ist und weil alle Menschen so viel dafür bezahlen müssen. Entscheidende Beiträge für dieses Interesse sind aber auch die Erkenntnisse der Wissenschaft, ihre gestiegene Verbreitung im Internet und alle die wohlgemeinten Ratschläge zur Vorbeugung und Erhaltung der Gesundheit jedes Einzelnen. Fragwürdig bleibt jedoch die digitale Erfassung von persönlichen Gesundheitsdaten. Dazu gehören alle jene Fitness-Checks, die unter Preisgabe persönlicher Daten über den individuellen Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten informieren; sie findet meistens freiwillig und unbedacht statt. Dasselbe aber gilt auch für die derzeitigen Corona-Tests. Auch wenn man unseren Behörden grundsätzlich vertrauen kann, so bleibt die Gefahr eines möglichen Missbrauchs bestehen. Solche Datenerhebungen stellen eine Verführung dar, die Bevölkerung zu lenken und wenn nötig auch zu ihrem Heil zu zwingen. Wollen wir das wirklich? Wollen wir eine Entwicklung, wie sie in China stattfindet und die Menschen – jeden Einzelnen – unterwirft? Darüber muss nachgedacht werden.
Offene Fragen in allen Lebensbereichen
Es gibt auch in anderen Bereichen manche offenen Fragen, die sich in Zukunft dringend stellen und die auf breiter Basis debattiert werden müssten. In der Arbeitswelt zum Beispiel. Selbstverständlich ist es hilfreich, dank den digitalen Möglichkeiten gewisse Abläufe zu vereinfachen, und es werden auch unnötige Wege und Reisen eingespart, was durchaus positive Effekte auf die Umwelt haben kann. Aber ist es vernünftig, das Feld der Arbeit so weit ins Persönliche zu verschieben, dass jede Privatsphäre illusorisch wird?
Dasselbe gilt auch für Bildung. Die Nutzung des Internets hat vieles vereinfacht und den Zugang zu Wissen aller Art erleichtert. Bildung jedoch ist auf diese Weise nicht zu erreichen; sie bedarf der persönlichen Begegnung, des direkten Austauschs mit andern, weil erst ein vielgestaltiger Austausch das Denken weiterbringt. Das gilt in erhöhtem Masse auch für Schulbildung: Hier ist der direkte Kontakt unverzichtbar, sowohl mit anderen Kindern als auch zu den Lehrpersonen, deren persönliche Zuwendung unersetzlich ist. Die Handhabung des Internets hat enge Grenzen, auch wenn der einfache Zugang leicht zu erlernen ist. Trotzdem werden viele Schülerinnen und Schüler wegen mangelnder Begabung oder fehlender Unterstützung abgehängt, was ihnen das Lernen erschwert. Das führt zu einer gravierenden Ungerechtigkeit.
Es geht nicht darum, das Internet zu verteufeln oder seine Vorzüge zu verkennen, aber es geht im Wesentlichen darum, dass wir unsere Autonomie nicht verlieren und damit die demokratische Mitbestimmung der ganzen Gesellschaft. Letztlich geht es auch um Gerechtigkeit.
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Die Journalistin und Autorin Linda Stibler war über 40 Jahre in verschiedenen Medien tätig, unter anderem in der damaligen National-Zeitung, in der Basler AZ und bei Radio DRS (heute SRF).
- Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.
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