Kein Paradies, nirgends. Karl Marx und der Kommunismus
Red. Gerd Koenen ist Historiker und freier Publizist mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, des Weltkommunismus und der Neuen Linken. Im Herbst 2017 erschien von ihm «Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus» im Verlag C.H. Beck, München.
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Welches Bild hatte Karl Marx vom Kommunismus? Was hatten seine geschichtsphilosophischen, sozialtheoretischen und revolutionspraktischen Ideen, namentlich das «Manifest der Kommunistischen Partei» von 1848, mit der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert zu tun? Waren sie dafür der entscheidende Ausgangspunkt und Impuls? So gut wie alle kritischen Gesamtdarstellungen und Interpretationen des Kommunismus als einer Weltbewegung und Sozialformation des 20. Jahrhunderts haben das so gesehen – und sind damit den Selbstberufungen der kommunistischen Machthaber in vieler Hinsicht auf den Leim gegangen. So soll dem amerikanischen Russlandhistoriker Martin Malia zufolge die von Marx verkündete «Botschaft der sozialistischen Utopie» die eigentliche Quelle für das «phantastische, surreale sowjetische Abenteuer» gewesen sein. Und für den britischen Historiker Robert Service lagen die Ursprünge der fehlgelaufenen Geschichte des Kommunismus in dem uralten, von Marx revitalisierten «Traum der Apokalypse, dem das Paradies folgt»; diese «marxistische DNA» habe auch den Leninismus, den Stalinismus oder den Maoismus geprägt und bestimmt.
Zitate dieser Art lassen sich beliebig vermehren und sind eine Art nie hinterfragter Common-Sense. Dabei hat die blosse Vorstellung eines fast anderthalb Jahrhunderte überdauernden ideologisch-politischen Kontinuums namens «Marxismus», das sich wie ein geschichtliches Wesen oder Unwesen in einer Serie weltweiter Revolutionen materialisiert haben soll, bevor es 1989 durch einen «Widerruf der Geschichte» (so der Historiker François Furet) sein vorläufiges oder endgültiges Ende gefunden haben soll, etwas entschieden Esoterisches. Die ganze Verlegenheit konzentriert sich in naturalistischen, tatsächlich aber obskuranten Metaphern wie der einer «marxistischen DNA», die wie ein genetischer Code Sprache, Denken und Handeln der Kommunisten aller Länder und Kulturen durch sämtliche Weltkrisen und Weltkriege des 20. Jahrhunderts hindurch gesteuert haben soll.
Marx war kein «Visionär»
Ganz abgesehen von diesen schiefen Metaphern stellt sich vor allem die Frage, wann und wo der studierte Philosoph, zeitweilige Journalist, politische Agitator und überragende Ökonom Karl Marx (1818–1883) namentlich die Vorstellung des Kommunismus als ein utopisches Paradies eigentlich entwickelt haben soll. Eher wäre das Paradies für Marx vermutlich dem Bild einer Hölle nahegekommen, so wie Hegel die wiederkehrenden Träume von einem «Goldenen Zeitalter» schon abgefertigt hatte: als blosses, blödes Hindämmern in «idyllischer Geistesarmut» und stumpfer Glückseligkeit – eine wahre Dystopie.
Von positiven Utopien hielt Marx genauso wenig, aus demselben Grund: Tatsächlich waren ja alle literarischen Utopien der Neuzeit seit Thomas Morus’ «Utopia» immer Utopien der Stillstellung gewesen, die ihren auf entlegene Inseln verlegten, meist in «kommunistischer» Gütergemeinschaft lebenden Idealgesellschaften den Stachel der Unruhe gezogen hatten. Und das mitten im Zeitalter der Entdeckungen und einer bürgerlich-kapitalistischen Umwälzung, mit deren Hymnus als einer revolutionären Entwicklungsdynamik das «Kommunistische Manifest» von 1848 ja beginnt.
Tatsächlich diente die Kategorie des «Kommunismus» Marx nur als kritischer Gegenbegriff zu einer Produktions- und Eigentumsordnung, in der die «Reichheit der menschlichen Bedürfnisse» sich in einer Masse toter Gegenstände (Waren) materialisiert und das arbeitsteilig erarbeitete Gesamtprodukt der Masse der Arbeitenden in der Form des «Kapitals» als eine fremde, überlegene Macht wieder gegenübertritt – wie der Staat, die Kirche und Gott selbst. Und soweit Marx sich in seinen frühen Notizen auf den Begriff des «Kommunismus» als einer nicht-entfremdeten, menschen-gemässeren Lebens- und Produktionsweise einliess, dann in kategorischer Abgrenzung von allem, was er einen «rohen und gedankenlosen Kommunismus» nannte – der «auf gewaltsame Weise von Talent etc. abstrahieren» müsse und letztlich auf «die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des armen und bedürfnislosen Menschen» hinauslaufe.
Erst in seiner gleichsam zum internen Gebrauch verfassten «Kritik des Gothaer Programms» von 1875, der programmatischen Grundlage der erstmals vereinigten Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, finden sich einige Andeutungen, was «Sozialismus» und «Kommunismus» gemäss Marx positiv bedeuten könnten. Dabei überzog er alle utopischen Vorstellungen des Programms – dass mit der «Erhebung der Arbeitsmittel zum Gemeingut der Gesellschaft» und durch die «unverkürzte Verteilung des Arbeitsertrags» sich ein Schlaraffenland eröffnen werde – mit ätzendem Spott. Denn von einem sozialisierten Gesamtprodukt müssten, so Marx, eher noch größere und konstantere Ausgaben in Allgemeinaufgaben sowie Vorsorgeaufwendungen fliessen als bisher; nur was übrigbliebe, könnte individuell konsumiert werden.
Genauso verfehlt erschien ihm die Erwartung, eine sozialistische Gemeinwirtschaft müsse eine «gerechte», nämlich weitgehend egalitäre Angleichung der Löhne und Gehälter bedeuten. Stattdessen würde es sich um eine echte Leistungsgesellschaft nach dem Prinzip «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung» handeln, wie es die bourgeoise Klassengesellschaft gerade nicht war. In einer zweiten, höheren Stufe, wenn «die Arbeit … selbst das erste Lebensbedürfnis geworden» sei und wenn «mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fliessen», mochte man sich auf die Fahne schreiben: «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!» Ein Reich der Gleichheit wäre das aber wieder nicht, im Gegenteil: Denn dann mussten die unterschiedlichen Neigungen, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Lebensentwürfe der Individuen erst recht zur freien Entfaltung kommen. Hier wie überhaupt ging es, so Marx, um die «Entwicklung der vollen Produktivkräfte der Einzelnen, daher auch der Gesellschaft» (in dieser Reihenfolge).
Deshalb bedeutete der nach vorn hin weit offene, in keiner Weise vorgezeichnete Weg zum «Sozialismus» bzw. «Kommunismus» zunächst einmal «nur» eines: den Austritt aus der barbarischen, von blanker Notdurft und physischem Zwang bestimmten «Vorgeschichte» der menschlichen Gattung als einem «Reich der Notwendigkeit» – und die Eröffnung ihrer eigentlichen Geschichte als einem «Reich der Freiheit», in dem die Subjekte ihre Lebenswelt endlich mit Bewusstsein würden gestalten können. Diese neue, nicht kapitalistische Gesellschaft wäre keine Idylle, sondern ein Kosmos noch gar nicht absehbarer Herausforderungen und Konflikte. Marx glaubte nur, dass diese Gegensätze und Reibungen, wie sie sich aus den unterschiedlichen Ambitionen, Temperamenten, Neigungen oder Meinungen der Einzelnen bzw. der vielfarbigen, vielsprachigen, unterschiedlich entwickelten Menschengruppen ergeben würden, keinen unversöhnlichen («antagonistischen») Charakter mehr besässen. Sie müssten nicht mehr durch soziale, politische oder militärische Zwangs- und Gewaltmittel entschieden werden, sondern könnten durch freie Übereinkünfte und demokratische Verfahren geregelt und in vielseitigen Wettbewerben ausgetragen werden. In diesen würden sich die höheren Fähigkeiten, klügeren Konzepte, praktischeren Vorschläge und ästhetischeren Entwürfe schliesslich durchsetzen können.
Bei allen wohlbegründeten Einwänden, die sich gegen diese Gesellschafts- und Geschichtsvorstellung machen lassen: So besonders extravagant kommt einem diese betont allgemeine, fast mit einem Bilderverbot belegte Vorstellung vom «Kommunismus» dann auch nicht vor. Vor allem aber hat sie weder in den politischen Interventionen noch in dem mit Marx’ Namen verbundenen geschichtsphilosophischen und sozialtheoretischen System – dem «Marxismus» – eine systematische oder programmatische Bedeutung gefunden. Marx konzentrierte alle seine Energie auf die «Kritik der politischen Ökonomie» der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise; die nur historisch transitorisch sein könne und an ihren ureigenen Widersprüchen scheitern müsse. Wann und wie, musste offenbleiben.
Die Schicksale des «Marxismus»…
Der nach Marx’ Tod 1883 von Engels und anderen in eine fassliche, teilweise katechetische Form gebrachte «Marxismus», auch «wissenschaftlicher Sozialismus» genannt (im Unterschied zu einem bloss utopischen oder auch reaktionär rückwärtsgewandten Sozialismus), wurde nach und nach zum theoretischen und weltanschaulichen Rückgrat des gesamten europäischen Sozialismus. Er war die grosse, alle sozialen, demokratischen und lebenskulturellen Fragen umfassende Emanzipationsbewegung dieses Zeitalters, ohne die wir von einer «modernen» Gesellschaft in irgendeinem positiven Sinne vielleicht gar nicht sprechen könnten.
Die 1889 gegründete «Sozialistische Internationale» blieb jedoch eine pluralistische Vereinigung, so wie jede ihrer Mitgliedsparteien es auch war; sie umfasste erklärte Reformisten ebenso wie Radikale verschiedener Couleur. Dazu gehörten vor allem diverse, vom Anarchismus und Syndikalismus beeinflusste Ausleger in Südeuropa, von denen einige später im Weltkrieg zu «Faschisten» mutierten, oder eben eine östliche Sonderformation wie der bolschewistische Flügel der Russländischen Sozialdemokratie.
Dessen Gründer und Anführer Lenin hatte in einer Serie freier doktrinärer Adaptionen das Schlagwort einer «proletarischen Diktatur», das Marx im Fieber der niedergeschlagenen 1848er Revolution intern gelegentlich verwendet und laut Engels in seinem Requiem auf die im Blut erstickte Pariser Commune von 1871 als eine erste «Regierung der Arbeiterklasse» implizit gemeint hatte, mit eher blanquistischen, aus dem russischen Intelligenzija-Radikalismus stammenden Avantgarde-Vorstellungen fusioniert. Lenin erklärte die «Diktatur des Proletariats» zum eigentlichen Kern eines «revolutionären Marxismus» und gab ihm eine Ausdeutung, die darauf hinauslief, dass es eine Arbeiterklasse im politischen Sinne ohne eine Partei von Berufsrevolutionären gar nicht gebe – und also auch keinen Widerspruch zwischen einer Klassen- und Parteidiktatur.
Der Weltkrieg 1914–1918, der die Internationale zerriss und ihre Friedensresolutionen zur Makulatur machte, gab Lenins extremer, monoman auf die Erringung der ungeteilten Macht gerichteten Politik eine Realitätsbasis, die sie in den virulenten sozialen und politischen Konflikten des Russländischen Reiches nicht hätte finden können. Seine Losung der Verwandlung des Weltkriegs in einen universellen und internationalen Bürgerkrieg trieb ihn bis zum Vorabend der russischen Februarrevolution in eine nahezu totale Isolation. Aber nach seiner Rückkehr im April 1917 brachte ihn gerade diese zielstrebige Intransigenz angesichts des chaotischen Kollapses des Imperiums in die Position eines vermeintlich konsequenten Kriegsgegners und Stifters einer neuen, eisernen Sozialordnung – die er im Feuer eines verheerenden, mit den Mitteln eines bedingungslosen Terrors geführten Bürgerkriegs auch tatsächlich errichten konnte.
Ein integraler Teil dieser Usurpation der Macht war die Umbenennung seiner Partei in «Kommunistische Partei Russlands» im März 1918, siebzig Jahre nach dem «Manifest» von 1848 – obwohl auch Lenin bis dahin den Namen und Begriff des «Kommunismus» kaum verwendet hatte. Jetzt erklärte er, dies sei «die wissenschaftlich einzig richtige Bezeichnung» seiner Partei und ihrer Ziele. Gleichzeitig entstand auf Basis der leninistischen Organisationsprinzipien und improvisierten Sozialdoktrinen eine neue «Kommunistische Internationale», die als eine demokratisch-zentralistisch verfasste, bolschewistische Weltpartei firmierte – in schärfster Abgrenzung zur internationalen Sozialdemokratie.
…bis nach China
So einzigartig und erfolglos dieses Unternehmen war, bildete es doch die Petrischale, in der die Embryonen und Führerfiguren der Kommunistischen Parteien sich ausbildeten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs zu den Gründern eines neuen «sozialistischen Weltlagers» wurden. Einige von ihnen hatten sich, so wie Mao Tse-tung im Feldlager in Jenan ab 1937/38, ein eigenes theoretisches Fundament zu zimmern begonnen. Im Marxismus ursprünglich weitgehend unbelesen, kannte Mao sich als ehemaliger romantischer Monarchist und Nationalist in der klassischen Literatur seines Landes um so besser aus, aus der er auch als kommunistischer Parteiführer ausgiebig schöpfte.
So haben sich im Programm der bis heute an der Macht befindlichen Kommunistischen Partei Chinas Reste eines nominellen Staatssozialismus ganz explizit mit älteren Gesellschaftsvorstellungen vermischt, etwa der «Da Tong», der Grossen Gemeinschaft als dem ideellen Fluchtpunkt einer konfuzianischen Staatsfamilien-Ideologie. Angesichts der hyperkapitalistischen Ausrichtung der heutigen Volksrepublik auf die Weltmärkte und Devisenerlöse sind diese Programmerklärungen ideell genauso bedeutungslos und steril geworden, wie der doktrinäre Konfuzianismus es einst für den Despotismus der chinesischen Kaiser gewesen ist. So weit in den obligatorischen Ideologieschulungen immer noch und nun sogar wieder verstärkt die Katechismen und Formeln eines doktrinären «Marxismus» heruntergebetet werden müssen, dann nur als reine Disziplinierungs- und Konditionierungsinstrumente. Um eine Emanzipation der arbeitenden Menschen geht es dabei am allerwenigsten, umso mehr um die Grösse und den eisernen Zusammenhalt der Nation.
Was bleibt?
Ganz jenseits all dieser politisch-ideologischen Adaptionen und Mutationen liegt die epochale geistige Wirkung des Marx’schen Denkmodus, die sich über viele Etappen und Verzweigungen hinweg entfaltet hat, in den intellektuellen Debatten im Westen, weit mehr jedenfalls als im ehemals staatlichen Marxismus-Leninismus des Ostens. Weder die moderne Soziologie und Sozialgeschichte seit Max Weber noch die Ökonomie seit Schumpeter und Keynes, die sich auf den zeitgenössischen Kapitalismus als ein globales, dynamisches, alles umwälzendes und rationalisierendes System eingelassen haben, wären ohne den Marx’schen Anstoss denkbar gewesen. Der ganze Blick auf die Welt hat sich durch ihn wesentlich verändert. Im Endergebnis, so der Marx-Biograph Francis Wheen, «haben weite Teile des westlichen Bürgertums Marx’sches Gedankengut in ihren Ideenhaushalt aufgenommen, ohne es je bemerkt zu haben».
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Dieser Text erschien erstmals auf Geschichte der Gegenwart.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Zwei Dinge: 1. Was hat Marx gesagt und 2. wofür haben ihn Demagogen verantwortlich gemacht? Betreffend Kritik an seiner Person halte ich mich an Karl Popper, sie ist gerechtfertigt.
Was hat Christus gesagt und ist er auch für die christliche Inquisition verantwortlich? So wie Marx aus der Sicht von Ignoranten und Demagogen für den Holocaust?
Warten wir doch auf Marx 400. Geburtstag, unter neuem Namen?
Mit dem Autor bin ich völlig einverstanden. Marx war einer der bedeutendsten und hervorragendsten ANALYTIKER als Historiker, Politökonom und Soziologe. Darum wurde er eine grosse Gefahr für das System des Kapitalismus. Darum wurde er auch oft usurpiert, verfälscht, oft sogar von Leuten, die ihn gar nicht gelesen haben. Und ehrlich, wer von euch hat die drei Bände des «Kapital» schon mal gelesen? Auch wenn die Theorie noch nirgends wirklich in die Praxis umgesetzt werden konnte, ist Fakt, dass man auch nach fast 200 Jahren nicht um den guten alten Marxismus herumkommt. Das gilt auch, wenn man das erbärmliche Ergebnis des real existierenden Kapitalismus in Russland und den real existierenden «Sozialismus» in China berücksichtigt.