GriechenlandZahlZuchtmeister_SpringerDieWelt15Juli2015

Chefkommentator Jacques Schuster fordert von Berlin «Führung» © «Die Welt», Springer

Griechenland, das missratene Kind – Eine Nachlese

Jürgmeier /  «Hausaufgaben», «ungenügend», «Nachbesserungen», «trotzig», «Time-out»: Griechenland und die Sprache der (Nach-)Erziehung

Wenn sie könnten, sie würden sie glatt bevormunden oder verbeiständen (1) lassen – die griechische Regierung, die so gar nicht vorschlagen wollte, was sie von ihr verlangten. Und mit ihr das ganze Volk, das mit deutlicher Mehrheit «Ochi» zu ihren Vorschlägen=Vorgaben sagte. «Ein trotziges Nein», titelte die Neue Zürcher Zeitung am 6. Juli 2015.

(1) 2013 ist die Entmündigung im schweizerischen Zivilgesetzbuch (Abschnitt Erwachsenenschutzrecht) durch Beistandschaft ersetzt worden.

Die Sprache rund um diese griechische Tragödie erinnert an pädagogische Kontexte. «Ausser bei unverwüstlichen Kapitalismuskritikern auf der Linken gelten der griechische Premier Alexis Tsipras und sein Ex-Finanzminister Giannis Varoufakis in Europa heute als böse Buben», notiert Patrick Feuz am 8. Juli 2015 im Tages-Anzeiger. «Das gefallene liebe Kind muss wieder auf die Beine…», heisst es in einem Meinungseintrag auf Infosperber. Der deutsche CSU-Politiker Markus Söder fordert «die Griechen» auf, «ihre Hausaufgaben zu machen» (www.spiegel.de, 6.7.2015). Der baden-württembergische Landesvorsitzende der CDU Thomas Strobl wettert am 13. Juli wie ein Vater auf der berühmten Palme: «Der Grieche hat jetzt lange genug genervt» (Süddeutsche Zeitung). Und die Mutter des Internationalen Währungsfonds IWF Christine Lagarde erklärt Anfang Juli 2015 an einer Pressekonferenz, die Verhandlungen könnten erst weitergehen, «‹wenn Erwachsene an einem Tisch› sässen» (Tages-Anzeiger, 3.7.2015).

Ungezogene Schuldenkinder, LehrerInnen und andere Erwachsene

Immer wieder werden die Rollen von Eltern&Kind oder SchülerIn&LehrerIn verteilt beziehungsweise eingenommen. Das missratene griechische Kind wird gern an die anderen, die tüchtigeren Schuldenkinder Europas erinnert, die es auch geschafft hätten. «Europas vermeintlicher Musterschüler», steht, etwas skeptisch, in der Neuen Zürcher Zeitung am 26. Juli über einem Artikel zu Irland, und am 28. Juli heisst es im gleichen Blatt: «Portugal fast ein Musterschüler». Dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis wird nachgesagt, er habe seine europäischen Kollegen «mit seinen Belehrungen genervt» (Stephan Israel im Tages-Anzeiger, 7.7.2015). Belehren aber ist Erwachsenen&LehrerInnen, ist denen mit Geld&Macht, vorbehalten. Belehrende Kinder gelten als vorlaut und werden vom Tisch der Erwachsenen gewiesen, so wie der «eigenwillige Ökonom … von den Beratungen ausgeschlossen» wurde» (SonntagsZeitung, 28.6.2015).

Kaki Bali, Europolitische Beraterin im griechischen Premierministeramt, darf zwar am 9. Juli in der Erwachsenenrunde von Maybritt Illner sitzen; aber sie wird wie ein Kind behandelt, kann kaum ausreden, und die andern am halbrunden Tisch sind sich, unausgesprochen, einig, das griechische Kind verstehe nicht wirklich, um was es gehe. Bali reagiert reflexartig auf das pädagogische Reizwort – nachdem CSU-Politiker Manfred Weber Tsipras einmal mehr auffordert, er solle «seine Hausaufgaben machen» – und klagt, wenn sie einen Vorschlag zu früh nach Europa schickten, «kommt sofort der Rotstift von Herrn Schäuble».

Auch Yanis Varoufakis, zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaliger Finanzminister, zeichnet in einem Spiegel-Gespräch das Bild vom Lehrer Schäuble. Der habe zuweilen «reagiert wie ein Lehrer, der von seinen Schülern zu liebedienerisch behandelt würde». Wenn seine Ministerkollegen, so Varoufakis hämisch, ihn «überschäublet» hätten. Allerdings, wenn der französische Finanzminister Michel Sapin eine eigene Position bezogen habe – «Patsch. Varoufakis haut sich mit der linken Hand auf die rechte. So werde die Aufmüpfigkeit Sapins bestraft, mit einem Schlag, sagt Varoufakis.» So steht es am 25. Juli 2015 im Spiegel.

Wolfgang Schäuble, das ist der Mann, der ein «Time-Out» für die griechische Mitgliedschaft im Euro ins Spiel bringt. Time-out – normalerweise eine Massnahme für ungezogene SchülerInnen oder verhaltensauffällige Jugendliche, bei denen das gewöhnliche Strafrepertoire nicht weiterhilft. «Seine Geduld mit den Griechen ist am Ende», unterstellt die Neue Zürcher Zeitung am 19. Juli 2015. Titel eines Porträts des deutschen Finanzministers: «Europas Zuchtmeister».

«Europas Zahlmeister muss auch Zuchtmeister sein»

Wer sich verschuldet oder aus anderen Gründen auf Hilfe&Geld anderer angewiesen ist, gerät in Abhängigkeit und droht sein Selbstbestimmungsrecht zu verlieren. Denn wer zahlt, befiehlt; wer etwas will oder braucht, muss kriechen&schweigen. Das wissen auch SozialhilfeempfängerInnen. (Nur für die von der öffentlichen Hand geretteten Banken gilt das nicht.) Es ist, womöglich, weniger das Geld – das im griechischen Finanzloch beziehungsweise bei den Gläubigerbanken verschwindet –, das die EU-VertreterInnen zur Weissglut treibt, sondern der Umstand, dass «die Griechen» nicht die Körperhaltung einnehmen, die von EmpfängerInnen fremden Geldes erwartet wird – der Kniefall, so dass sie anständig betteln&beten können.

Welt-Chefkommentator Jacques Schuster beklagt am 15. Juli 2015 die deutsche Gewohnheit, «das eigene Gewicht zu verbergen und – wenn nötig – nur verdeckt einzusetzen». «Wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg und militärisch ein Wurm», träume Deutschland seit 1945 davon, «dereinst als eine grosse Schweiz zu erwachen. Von ihr erwartet kein Mensch Führung». «Berlin» aber ermahnt er, dem Beispiel Schäubles zu folgen, «die Führung zuweilen offen zu übernehmen und zu zeigen, Europas Zahlmeister muss mitunter auch Zuchtmeister sein.» Drei Tage später folgt der Vorsitzende der CDU-Fraktion Volker Kauder dem Marschbefehl: «Wir unterstützen Wolfgang Schäuble, unseren Finanzminister, dabei», zitiert ihn der Tages-Anzeiger am 18. Juli, «Griechenland in eine Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit zu führen›». Denn der Helfer weiss besser, was für den Hilfsbedürftigen gut ist.

Wo ein Zuchtmeister ist, da muss jemand gezüchtigt oder, eben, «geführt» werden. Und das sind, in diesem Fall, «die Griechen». «Griechenland ist zu einem Protektorat der EU geworden. Die linke Regierung Griechenlands stand vor der Wahl: Unterwerfung oder Rauswurf aus der EU», schreibt Rudolf Strahm im Tages-Anzeiger vom 11. Juli, und laut www.flassbeck-economics.de erwarten «Deutschland (und einige andere nördliche Hardliner) … die bedingungslose Kapitulation Griechenlands» (12.7.2015).

Herrensprache & Sklavensprache oder Unterwerfung & Lüge

«Führung» & «führen», «Unterwerfung» & «Kapitulation» – das ist Herrensprache. Wer sich ihrer bedient, darf sich nicht wundern, wenn er Antworten in der Sklavensprache erhält, denen er oder sie nicht trauen kann. Nach der so genannten «Kehrtwende» der Regierung Tsipras – die kurz nach dem «Ochi» vom 5. Juli eine «Kapitulationsurkunde» (Constantin Seibt, Tages-Anzeiger, 15.7.2015) unterzeichnet – ist immer wieder vom mangelnden Vertrauen der anderen Eurostaaten beziehungsweise vom Vertrauen, das die griechische Regierung zurückgewinnen müsse, die Rede.

Die Neue Zürcher Zeitung orakelt zwei Tage vor der ultimativen Einigung am 13. Juli: «Entweder negiert die Regierung den Wählerwillen, weil sie innert weniger Tage aus innerer Überzeugung eingesehen hat, dass ohne Reformen keine Hilfszahlungen mehr zu erwarten sind. Oder die Mannschaft rund um Alexis Tsipras kreuzt hinter dem Rücken (gut sichtbar für die heimische Bevölkerung) die Finger und speist die Kreditgeber mit Versprechen ab, deren Einhaltung sie von Anfang an nicht wirklich anstrebt.» Die von Blick online am 15. Juli kolportierte Aussage von Alexis Tsipras – «Ich habe einen Text unterschrieben, hinter dem ich nicht stehen kann. Den ich aber umsetzen muss, um ein Desaster für das Land und einen Kollaps der Banken zu verhindern.» – ist vermutlich nicht wirklich vertrauensfördernd.

Man sollte Menschen nicht wie Kinder behandeln. Auch Kinder nicht. Das Kind, das Angst vor Strafen oder Sanktionen hat, greift zu Notlügen oder gehorcht widerwillig, um bei nächster Gelegenheit gegen aufgezwungene Regeln zu verstossen. «Du hast unser Vertrauen missbraucht», sagen Eltern, LehrerInnen und andere ZuchtmeisterInnen dann, weil der oder die Machtlose nicht aus freien Stücken tut, was von ihm oder ihr verlangt wird. Aber wer jemanden mit der «Pistole» zu einem (Ein-)Geständnis zwingt, kann nie darauf vertrauen, dass es noch gilt, wenn er oder sie die «Pistole» weglegt beziehungsweise verliert. Denen, die unter Druck gesetzt, erpresst oder gar gefoltert werden, bleiben als letzte Formen des Widerstands nur List&Lüge.

Das weiss auch der Folterer O’Brien in George Orwells Roman «1984», der vier Finger in die Höhe streckt und von seinem Opfer Winston wissen will: «Wenn die Partei sagt, es seien nicht vier, sondern fünf – wie viele sind es dann?» Als der aus Angst vor Schmerzen endlich und wider besseres Wissen ruft «Fünf! Fünf! Fünf!», gibt O’Brien sich nicht zufrieden: «Sie lügen. Sie glauben noch immer, es seien vier.» Nach weiteren Stromschlägen will er wissen: «Was wollen Sie: mir einreden, Sie sähen fünf, oder sie wirklich sehen.» «Sie wirklich sehen», stöhnt Winston, «Sie töten mich, wenn Sie noch einmal einschalten. Vier, fünf, sechs – ganz ehrlich gesagt, ich weiss nicht.» «Schon besser», lässt Orwell O’Brien sagen.

Solche Praktiken gibt es nur in Diktaturen, aber nicht in der europäischen Familie. Da wird das missratene Kind als Projektionsfläche noch gebraucht, und das ist allemal ein paar Milliarden wert. Denn nicht nur «die Griechen» sind verschuldet sowie von Bankrott bedroht, sondern alle Staaten Europas und der Welt. Aber wenn das Finanzsystem irgendwann zusammenbricht, sind «die Griechen» schuld. Verliesse «der Grieche» die Familie, fehlte dieser der Sündenbock – auf den sie alles Negative projizieren kann –, und der schöne familiäre Zusammenhalt (wir Erfolgreichen gegen die VersagerInnen) bräche zusammen. So wie ganz normale Familien kollabieren, wenn das scheinbar kranke Mitglied gesund wird oder abhaut.

Dass Griechenland, zum Beispiel, noch gebraucht und deshalb unterstützt wird, enthält immerhin die kleine Chance, dass es, irgendwann, als Spiegel ernst genommen wird. «Auch wenn Alexis Tsipras zuletzt mit der Pistole an der Schläfe nachgeben musste», schreibt Anna Jikhareva in der WochenZeitung vom 16. Juli 2015, «mit seiner Politik hat er den Fehler im System Eurozone für alle ersichtlich gemacht. Zusammen mit der griechischen Bevölkerung zeigte er auch, welches Europa er sich vorstellt. Es ist ein anderes als das Europa der Brüsseler Hinterzimmerverwaltung oder das Europa Angela Merkels. Ein Europa von unten.»

Und da hätten auch Kinder etwas zu sagen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Tsipras

Griechenland nach der Kapitulation

EU, EZB und IWF erzwangen Rückzahlungen an die fahrlässigen Kreditgeber – auf dem Buckel der Bevölkerung.

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3 Meinungen

  • am 2.08.2015 um 17:22 Uhr
    Permalink

    Auch Syriza unter Kontrolle der Israel-Lobby ?
    (Auszüge aus einem Interview mit Stathis Kouvelakis)

    „Tatsächlich ist Yannis Dragasakis derjenige, der den gesamten Verhandlungsprozess auf griechischer Seite überwacht. Alle Mitglieder der Verhandlungsgruppe – mit Ausnahme des neuen Finanzministers Euclid Tsakalotos – sind auf seiner Seite, und er war der prominenteste unter denjenigen im Kabinett, die Varoufakis loswerden wollten“

    „Ich würde sogar sagen, dass das schockierendste Vorgehen im Bereich der Verteidigungs- bzw. Außenpolitik – zum Beispiel die Fortführung des Militärabkommens mit Israel und das gemeinsame Abhalten gemeinsamer Übungen auf dem Mittelmeer mit den Israelis – von führenden Syriza-Vertretern durchgesetzt wurde. Beispielsweise von Dragasakis – es war ziemlich bezeichnend, dass er die griechische Regierung beim Empfang der israelischen Botschaft zur Feier von 25 Jahren normaler diplomatischer Beziehungen zwischen Griechenland und Israel vertrat“

    „Dragasakis – er machte jeden Schritt in Richtung einer öffentlichen Kontrolle der Banken unmöglich. Er ist im Prinzip die Vertrauensperson der Banker und der großen Banken in Griechenland und hat absolut dafür gesorgt, dass das Herz des Systems, also die Bindung privater Interessen an den Staat, unverändert geblieben ist, seit Syriza an die Macht kam.“

    Ganzes Interview:
    http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=15358

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 5.08.2015 um 10:37 Uhr
    Permalink

    Beistandschaft tönt besser als Entmündigung, siehe die Umbenennung des Überwachungsministeriums in ein Ministerium für Liebe bei Orwell, 1984. @ Wick, noch spannend, das ist ja wie in der frühen Sowjetunion. Es braucht immer noch einen Juden, damit das Drama spannend bleibt, auch die klare Scheidung zwischen den Guten und den Bösen. Verbeistandet wird, u.a. wer nicht mit Geld umgehen kann.

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