Gewerkschafter und Poet Leonardo Zanier ist tot
Als Saisonarbeiter kam Leonardo Zanier als junger Mann aus dem bergigen Friaul (Italien) in die Schweiz. In Chiasso musste er wie alle Saisonarbeiter den Zug verlassen und sich in Unterhose und mit dem Pass der Gesundheitskontrolle unterziehen. Am Bahnhof Zürich erwartete ihn ein Mitarbeiter «seiner» Firma und führte ihn in eine Baracke in einem Aussenquartier, wo er mit 20 Männern in einem engen Raum hätte schlafen sollen. Der Schock war gross, und Zanier fuhr mit seinem Koffer zurück in die Stadt, wo er ein bescheidenes Hotelzimmer bezog. Am Morgen danach übergab er am Geschäftssitz der Baufirma die Hotelrechnung und bat um eine bessere Unterkunft. Dieses Erlebnis hielt Leonardo Zanier Jahrzehnte später in einer seiner Publikationen fest.
Er förderte die Integration und wurde gleichwohl fichiert
In der Zeit von Schwarzenbach und der Nationalen Aktion war Leo – so nannten ihn die vielen Freunde und Bekannten – Präsident der Colonie libere italiane in der Schweiz, eine linke Organisation, die damals mehrere tausend Mitglieder in vielen Ortschaften zählte. Um 1970, als noch viele Italienerinnen und Italiener glaubten, bald wieder heimzukehren und ihre Kinder deshalb in italienische Schulen schickten, empfahl Zanier seinen Landsleuten, den Gewerkschaften in der Schweiz beizutreten und die Kinder in die öffentlichen Schulen zu schicken. Die Colonie förderte damals die Integration, als sich noch kaum jemand darum kümmerte. Anstatt die Colonie als Vertreterin eines massgeblichen Teils der italienischen Einwanderer zu anerkennen und mit ihr das Gespräch zu suchen, wurden Zanier und viele andere Italiener in der Schweiz von der Polizei fleissig beobachtet und deren Auftritte, Treffen mit den verschiedensten Leuten in Fichen festgehalten.
Für Ecap Schweiz, das Bildungszentrum der italienischen Gewerkschaft CGIL, das in der Schweiz seit 1970 tätig ist, arbeitete Zanier viele Jahre auch als Präsident. Zu Beginn wurden Berufs- und Sprachkurse für italienische Einwanderer angeboten, heute für Einwanderer aus aller Welt. Ab 1975 in Rom und danach in Brüssel, war Zanier stets im Bereich der Erwachsenenbildung tätig. 1985 kehrte er in die Schweiz zu Ecap zurück.
Seine Gedichte wurden auch auf arabisch übersetzt
Seit jungen Jahren schrieb Zanier Gedichte in friaulischer Sprache, die mit dem Rätoromanischen verwandt ist; sein erster Band wurde 1964 veröffentlicht. Die Notwendigkeit, die Heimat zu verlassen, das Misstrauen der Einheimischen, die Demütigungen, welche die Einwanderer erlebten, schilderte er einfühlsam. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Eine Sammlung, die sich u.a. mit der Emigration aus Afrika und dem mittleren Osten befasst, wurde in friaulisch und arabisch veröffentlicht.
Mit seiner gebirgigen Heimat blieb Leonardo Zanier stets verbunden. Es machte ihn traurig, dass sein Dorf Maranzanis di Comeglians und viele andere Dörfer im Friaul kaum noch bewohnt sind. Allmählich wuchs Zaniers Idee, in den verlassenen Häusern seines Dorfes ein «albergo diffuso» einzurichten – ein Hotel, dessen Zimmer sich in den umliegenden sanierten Häusern befinden. Kurz nach dem Jahr 2000 konnte es, auch dank Beiträgen der Europäischen Union, eingeweiht werden. Seine Lebenszentren – Friaul, Zürich, Rom und das Tessiner Riva San Vitale, sein Wohnsitz in den letzten Jahren – suchte er immer wieder auf, um dort Freunde zu besuchen.
Ende 2016 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand drastisch. Nach einem langen Spitalaufenthalt ist Leo Zanier am 29. April in seinem Haus im Tessin gestorben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.