«Erdoğan ist sehr frech»
Red. Walter Aeschimann ist Historiker und lebt als freier Publizist in Zürich. Derzeit ist er mit dem Velo unterwegs in der Türkei und durchquert das Land in mehreren Wochen von West nach Ost. Rund 2200 Kilometer über Pass-, Haupt- und Nebenstrassen, durch abgelegene Dörfer und kleine Städte. Sein Hauptinteresse gilt den Menschen in der Türkei. Wie leben sie in diesen Zeiten und was denken sie? Wie sehen sie ihr Land und die politische Entwicklung? Auf Infosperber berichtet Walter Aeschimann in unregelmässigen Abständen von seiner Reise und den Menschen, denen er unterwegs begegnet.
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Fünf Kilometer vor der Grenze staut der Verkehr. Ich passiere mit dem Fahrrad die Kolonne. Niemand murrt. Der griechische Grenzposten blättert kurz in meinem Pass und winkt mich durch. Auf der Toilette kniet in einem gesonderten Raum ein Mann auf einem Teppich und betet. Der türkische Polizist am Schalter in Ipsala fragt, wohin ich fahren will. Ich sage als Tagesziel Keşan und als Fernziel vorsichtshalber Antalya. Die Zöllner interessiert vorab, was im Bidon ist, aus dem ich trinke. Am zweiten Schalter sieht die Frau mein Fahrrad, lächelt kurz und lässt mich passieren. Der Mann am letzten Schalter schliesslich ruft nur «You are crazy!», als ich ihm mein Vorhaben schildere. Die Männer hinter ihm lachen. Dann bin ich durch und in der Türkei. Die Abfertigung hat etwa eine halbe Stunde gedauert. Ich hatte mich auf gröbere Kontrollen eingestellt.
«Fahrräder gelten als Motorfahrzeuge»
Ipsala ist der Hauptgrenzübergang zwischen der Türkei und Griechenland. Hier findet ein Grossteil des Warenaustausches zwischen Europa und der Türkei statt. Der Übergang kann nur von Fahrzeugen genutzt werden. Fussgänger werden nicht abgefertigt. Als Fahrradfahrer werde ich problemlos dem motorisierten Verkehr zugerechnet. Auf griechischer Seite ist fünfzehn Kilometer vor der Grenze nur noch Autobahn. Es war selbstverständlich, dass ich diese auf dem Pannenstreifen befahren konnte.
Die Frage, ob Fahrradfahrer eher dem motorisierten Verkehr oder doch eher dem Fussreisenden zuzuordnen sind, ist auf internationaler Ebene aber keinesfalls geklärt. Als ich in italienischen Ancona das Schiff nach Durres, Albanien, nehmen will, stellte ich mich vor die Motorfahrzeugen hin. Die Grenzwache stoppte mich und schickte mich zur Zollkontrolle bei den Fusspassagieren. Aber dort liessen sie mich nicht durch. «Fahrräder gelten als Motorfahrzeuge», bellte der Beamte. Ich ging zurück, erklärte das Problem und weigerte mich, nochmals hin und her geschoben zu werden. Schliesslich rief einer die Polizei. Die liess mich passieren.
Die ersten Kilometer auf türkischem Boden, kurz nach dem Grenzübergang in Ipsala (alle Bilder: Walter Aeschimann)
Nach der Grenze in der Türkei staut sich der Verkehr wiederum kilometerlang. Momentan wird die Strasse massiv verbreitert. Ich bleibe die nächsten fünfzig Kilometer auf dem Pannenstreifen der Autobahn. Ständig hupt ein Lastwagen, Auto oder Motorradfahrer. In der Schweiz würde ich das als gehässige Aufforderung verstehen, von der Autobahn zu verschwinden. Hier empfinde ich es als nette, aufmunternde Geste.
Überall Militärkontrollen
An den Zufahrtsstrassen jeder mittelgrossen Stadt sind polizeiliche Checkpoints eingerichtet, flankiert von schwer bewaffneten Militärs. Dort werden – wohl willkürlich – Autos herausgepickt und kontrolliert. Mich hat bisher niemand kontrolliert. Das könne aber durchaus passieren, sagte ein Mann, den ich später kennenlerne. Ich dachte an ihn, als mir anderntags ein Polizeiauto entgegenkam, mich kurz darauf von hinten überholte und ein paar hundert Meter weiter vorne hielt. Doch die beiden Beamten wollten sich nur am öffentlichen Brunnen, der dort stand, erfrischen. Ich winkte den Polizisten zu, sie winkten zurück und lachten.
Die Meerenge der Dardanellen bei Lapseki
Frische Verpflegung am Strassenrand
Die Kontrollen seien vor allem nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 eingerichtet worden, sagt mir der Mann. Er hatte 40 Jahre in Berlin als Elektriker gearbeitet, spricht perfekt Deutsch und verbringt nun den Ruhestand in seiner Heimatstadt. Er freue sich, wieder einmal Deutsch zu sprechen, sagt er. Die Inhaber des Hotels, in dem ich nächtige, haben den Mann für mich «organisiert», damit ich etwas Gesellschaft habe.
«Was denkst du von unserer Regierung?» will er wissen. Ich antworte vorsichtig. Ich muss mich erst herantasten, wie offen ich als Fremder und Tourist meine Meinung äussern kann und verweise auf die vielen negativen Texte, die ich in deutschsprachigen Zeitungen, auch von Türken geschrieben, täglich über die Regierung lese. Das könne wohl nicht alles gelogen sein, wie Erdoğan behauptet.
«Erdoğan ist sehr frech», antwortet der Mann, und ich frage ihn, wie er das meine. Er sei gegen Erdoğan, erklärt er, aber tiefer geht das Gespräch nicht mehr. Bei meiner Frage, wie offen über die Regierung gesprochen werde, weicht er aus und sagt stattdessen: «Wenn du heute Abend Gesellschaft möchtest, wir sind hier. Du kannst dich zu uns setzen.»
So sitze ich an diesem Abend mit der Besitzerfamilie des Hotels, den Kindern und dem «pensionierten Deutschen», wie sie den Mann scherzhaft nennen, neben dem Hoteleingang auf den zu Stühlen umfunktionierten Harassen. Die beiden älteren Männer spielen Backgammon. Ich schaue mit den anderen zu, und irgendwann bringt mir eine junge Frau einen grillierten Maiskolben und Tee.
Ich bin nun in der Türkei, habe einiges über die autokratische Regierung gelesen und kann mich vor Ort der Gastfreundschaft, die für uns recht ungewohnt ist, nicht entziehen. So auch am Tag zuvor in Lapseki, einer Kleinstadt an der Ostküste der Dardanellen. Von hier verkehrt eine Fähre über die Meerenge nach Gelibolu.
Auf der Fähre von Lapseki nach Gelibolu
Auf dem Markt beschenkt mich eine Frau spontan mit einem Apfel und einem Pfirsich. Im Laden vor der Kasse werde ich vorgelassen. Als ich die Geste nicht annehmen will, werde ich ziemlich barsch mit einer weiteren Handbewegung dazu aufgefordert, vorzurücken. Ein Mann lädt mich ein zum Tee. Seine Tante lebt in Zürich-Schwamendingen. Inzwischen kann ich meine Herkunft – Isviçre = Schweiz – so formulieren, dass ich verstanden werde.
Öl-Wrestling
Auf der Atatürk-Strasse in Lapseki sind alle Cafés brechend voll. Die Männer schauen gebannt in den Fernsehapparat. Dort wird das berühmte Kirkpinar-Festival übertragen. Der jährliche Öl-Ringwettkampf in Edirne, 130 Kilometer nördlich von hier, ist das wichtigste sportliche Ereignis des Jahres im europäischen Westen der Türkei. Die Wettkämpfer reiben sich gegenseitig mit Olivenöl ein, bevor sie gegeneinander antreten. Ölringen gehört zu den ältesten Sportarten der Welt. Es soll erstmals im Jahr 1361 ausgetragen worden sein. Der Ursprung geht der Legende nach so: Zwei osmanische Krieger starben beim Niederringen der Feinde vor Erschöpfung. Sie wurden von ihren Kameraden beigesetzt. An ihrem Grab nahe Edirne seien danach 40 kristallklare Quellen entsprungen. Als das Kirkpinar-Festival und damit das Ölringen im Jahr 2010 zum Unesco-Weltkulturerbe ausgerufen wurde, war auch der damalige Minister- und heutige Staatspräsident Erdoğan beim Finale.
«Athletisch gesehen ist Ölringen kein reiner Kraftsport, sondern auch eine ausserordentliche Herausforderung an die kinetische Intelligenz», lässt sich Birgit Krawietz, Islamwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin, in der «Welt» zitieren. Sie hat das Kirkpinar-Festival für Forschungsprojekte schon einige Male besucht. «Man muss die Regungen des Gegners nicht nur blitzschnell parieren, sondern geradezu seismografisch erspüren, wenn man nicht aufs Kreuz gelegt werden will.»
Anders als beim Schwingen ist es schwierig, Griff zu fassen, da die Männer mit glitschigem, nacktem Oberkörper kämpfen. Die Praxis des Einölens wurde von den alten Griechen übernommen. Eben hat ein Ringer seinen Gegner, der etwas zu ungestüm angriff, mit einer blitzschnellen Bewegung auf seine Schultern geladen und mit Schwung durch die Luft geschleudert. Die Männer im Café applaudieren und diskutieren nun lebhaft über diesen genialen Wurf.
Volles Programm beim Coiffeur
Ich suche einen Berber (türkischen Coiffeur) auf und setze mich neben vier weitere Kunden. Ich will mir eine praktische Kurzhaarfrisur für die kommenden Wochen schneiden lassen. Trotz Sprachschwierigkeiten finden wir heraus – dank Google Translate auf den Mobiltelefonen – woher wir kommen, was unsere Berufe sind und wie viele Geschwister wir haben. Einer studiert griechische Literatur, ein anderer ist arbeitslos, ein dritter betreibt einen kleinen Döner-Stand und spricht etwas Englisch. Bald sind wir alle Brüder. Ich werde vorgelassen, obwohl ich erst als dritter an der Reihe wäre. Auch diesmal fordern mich die andern auf, die Geste anzunehmen.
Coiffeursalon in Lapseki
Ich kann dem Berber kaum erklären, was ich will. So einigen wir uns, von unten nach oben, auf eine Haarlänge von einem, zwei und drei Zentimeter. Danach erhalte ich das volle Programm, inklusive kurzer Schulter- und Kopfmassage. Mit einem brennenden Wattebausch schmilzt er mir die Haare in den Ohren ab. Das Prozedere wird zweimal unterbrochen, um Tee zu trinken. Tee trinken diene in der Türkei nicht nur dazu, den Durst zu stillen oder sich zu erfrischen, sondern sei vielmehr ein sozialer Akt, sagt der Berber Ahmed. Zum Schluss besteht er entschieden darauf, kein Geld für den Haarschnitt anzunehmen. Er schenkt mir stattdessen ein Büchlein von Said Nursî, einem religiösen Führer kurdischer Volkszugehörigkeit während der letzten Phase des Osmanischen Reiches und den Anfängen der Republik Türkei. Über Politik haben wir nicht gesprochen. Vielleicht wollte mir Ahmed so zeigen, wo er politisch steht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann unternimmt seit vielen Jahren Veloreisen in ferne Länder und hat zahlreiche (Multimedia-) Berichte in der NZZ und Velomagazinen veröffentlicht. Er arbeitete als Redaktor für das Nachrichtenmagazin «Facts», die «Sonntags-Zeitung», den «Tages-Anzeiger» und das Schweizer Fernsehen.